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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 975 Bewertungen
Bewertung vom 12.12.2018
Wondratschek, Wolf

Selbstbild mit russischem Klavier


gut

Elegischer Musikerroman

Wolf Wondratschek, erfolgreicher Lyriker und Enfant terrible der deutschen Literaturszene, hat mit seinem neuen Roman «Selbstbild mit russischem Klavier» eine Hommage an die Musik vorgelegt, wie sie eindrücklicher kaum je geschrieben wurde. Sein Image als Störenfried rührt einerseits her von seiner radikalen Opposition herkömmlicher Literatur gegenüber, andererseits von seiner teilweise praktizierten Abkehr von der gängigen Vermarktung mittels Verlagen. Manche seiner Gedichte nämlich, aber auch den kompletten Roman «Selbstbildnis mit Ratte» von 2014, hat er als Manuskripte an Sammler verkauft, sie befinden sich als nicht zur Veröffentlichung bestimmt in Privatbesitz, nur die Eigentümer können sie lesen. Seinen Kultstatus hatte Wondratschek schon mit seinem Debüt von 1969 erworben, einem Prosaband mit dem originellen Titel «Früher begann der Tag mit einer Schusswunde». Wie man sieht ein kämpferischer Autor!

So ganz anders mutet da der vorliegende neue Roman an, der, wie es sich für einen Literaten gehört, in einem Wiener Kaffeehaus angesiedelt ist. Dort trifft der namenlos bleibende Poet und Ich-Erzähler zufällig einen alten russischen Pianisten namens Suvorin, dessen einst glanzvolle Karriere längst beendet ist. Was der verwitwete greise Mann zu erzählen hat aus seinem bewegten Leben in der Welt der Musik, das gleicht einem künstlerischen Testament und fasziniert den Schriftsteller zunehmend, er hört ihm gebannt zu. Immer wieder treffen sich die Beiden am gleichen Ort, das «La Gondola» ist ihr Stammlokal geworden. Außer von sich selbst erzählt Suvorin von bekannten Musikern, denen er begegnet ist, eine längere Passage ist dem Cellisten Heinrich Schiff gewidmet, aber man begegnet auch der Pianistin Elisabeth Leonskaja. Suvorin macht in seiner Innensicht aus der Welt der Musik zum Beispiel feinsinnig auf den kleinen Unterschied zwischen Klavierspieler und Pianist aufmerksam, und über wichtige Komponisten der Klaviermusik äußert er sich apodiktisch: «Ich kann mir keinen Pianisten vorstellen, der Bach aufgibt. Er gehört zur Hygiene unseres Berufs, also unverzichtbar. Das ist wie Zähneputzen. Es ist Gymnastik für die Ohren».

Der Roman ist unübersehbar autofiktional, mit Heinrich Schiff zum Beispiel war Wolf Wondratschek selbst eng befreundet, vieles, was wir da lesen, ist real. Über die üppige Bibliothek des unduldsamen Cellisten, die massenhafte Ansammlung von Büchern überall in dessen Wohnung, lässt er seinen, im Roman mit Schiff ebenfalls befreundeten Protagonisten sagen: «Den Letzten, den er aus der Wohnung geschmissen hat, war einer, der wissen wollte, ob er sie alle gelesen hat. Ein Dummkopf.» Und setzt noch hinzu: «Es gibt nirgendwo so viele Dummköpfe wie unter den Liebhabern der Musik». Dazu passt auch der Abscheu seines Helden vor Applaus, für Suvorin ist ein Konzert wie eine Messe, und in der Kirche werde ja auch nicht geklatscht. Neben solchen Reflexionen über die Musik findet man in dieser kontemplativen Prosa auch viele Gedanken über Liebe, über die Zumutungen des Alterns, den Verlust der Würde des Kranken, über das Sterben und den Tod.

All das ist zweifellos recht informativ, auch wenn man sehr aufmerksam sein muss beim Lesen. Denn nicht immer gelingt es in diesem monologischen Text, den Ich-Erzähler vom erzählenden Pianisten und diesen wiederum von Heinrich Schiff zu unterscheiden. Das «Ich» bleibt jedenfalls meistens nebulös bei den vielen, unvermittelten Perspektivwechseln, die es zu bewältigen gilt, wozu das Fehlen von Anführungszeichen dann ergänzend noch eine weitere, nicht unwesentliche Hürde aufbaut. Dieser elegische Musikerroman ist ebenso bereichernd wie unterhaltend, obwohl er weitgehend ohne einen Plot auskommt, auf den diese Bezeichnung wirklich zutreffen würde. Es wird also ein findiger, mitdenkender Leser vorausgesetzt bei der meist geistreichen Plauderei im Kaffeehaus, die sich stilistisch übrigens in auffallend kurzen Sätzen artikuliert, leicht lesbar mithin.

Bewertung vom 10.12.2018
Hürlimann, Thomas

Heimkehr


gut

Parodistische Odyssee

Unter dem Titel «Heimkehr» ist nach neun Jahren wieder ein Roman des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann erschienen, ein turbulenter Schelmenroman diesmal mit dem Hauptmotiv «Cherchez la femme». Dass darin viel Autobiografisches verarbeitet ist, deutet der am 21. Dezember 1950 geborene Autor verschmitzt schon damit an, dass er auch den Geburtstag seines Protagonisten just auf diesen Tag datiert. Diese burleske Geschichte einer Odyssee thematisiert auf amüsante Weise ein problematisches Vater-Sohn-Verhältnis, in das einzelne Motive aus Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» mit einfließen, der Romanheld trägt seinen Vornamen also nicht rein zufällig.

Nach 18 Jahren Funkstille ruft der Gründer einer Gummiwarenfabrik nahe Zürich den einst von ihm als Abfall bezeichneten und aus dem Haus geworfenen, ungeratenen Sohn nach Hause zurück. Kurz vor dem Ziel, der Villa seines Vaters, verunglückt er mit dem Auto und kommt erst nach Tagen verletzt und im Gesicht entstellt in einem Sanatorium auf Sizilien wieder zu sich, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie er dort hingekommen ist. In einer aberwitzigen Irrfahrt, die ihn über Afrika und die DDR wieder in die Schweiz zurückführt, gelingt es ihm, seine Amnesie allmählich zu überwinden. Der Plot erzählt in Rückblenden von der Vorgeschichte, die fast zwei Jahrzehnten zuvor im Zerwürfnis von Heinrich Übel junior mit dem übermächtigen Vater ihren dramatischen Wendepunkt erreicht hatte.

Abgesehen von der aberwitzigen Handlung lebt der Roman insbesondere von den skurrilen Figuren, die ihn bevölkern und die Thomas Hürlimann genüsslich als allesamt durchgeknallte Persönlichkeiten schildert, die Frauen ebenso wie die Männer, allen voran der Romanheld. Auf Sizilien steigt seine Traumfrau nackt aus dem Meer wie die schaumgeborene Aphrodite, die sich angezogen dann als Mo Montag vorstellt, linientreue Funkwerkerin aus Ost-Berlin und glühende FDJ-Aktivistin. Ein DDR-Trupp, dem sie angehört, testet vor Ort einen Ohrensessel, in den ein Telefon eingebaut ist, mit dem man drahtlos Ferngespräche führen kann. Wegen seiner martialischen Unfallnarbe halten die Sizilianer Heinrich für einen tollkühnen Mafioso und nennen ihn ehrfürchtig nur «Dutturi», womit er die vom Vater geforderte Promotion nach zwanzig vertrödelten Gastsemestern doch noch erlangt hat. Das absurde Figurenkabinett besteht ferner aus dem besten Freund Isidor Quassi, einem gescheiterten Schauspieler und Dummschwätzer, aus der grauen Eminenz und Vorzimmerdame des Vaters, die von allen nur «die Gute» genannt wird, ferner dem einstigen Mannequin Cala, die nun in ihrem Wohnwagen einen Puff betreibt, in dem sämtliche Lehrlinge der Fabrik ihre Initiation erlebt haben, und vielen anderen Originalen mehr. Die exaltierte Kunsthändlerin Ellen Ypsi-Feuz erweist sich als Heinrichs vor Jahren für tot erklärte Mutter, ja die Camouflage geht so weit, dass selbst sie ihn nicht als ihren Sohn erkennt und er sie nicht als seine Mutter. Und da wundert man sich als Leser dann auch kaum noch, als der Lederstiefel tragender Kater ganz am Ende nicht nur mit ihm spricht, sondern waghalsig rasant das Auto fährt, - wohin, bleibt offen.

Als «einfache, uralte Geschichte vom verlorenen Sohn» hat Thomas Hürlimann seinen irrlichternden Roman bezeichnet. Auf der Grenze zwischen Leben und Tod balancierend schildert er eine in konzentrischen Kreisen verlaufende Recherche Heinrichs, seine Suche nach sich selbst. Diese existentiellen Elemente einer grotesken Gradwanderung zwischen Phantasie und Realität werden konterkariert durch den mit derben Zoten und slapstickartigen Gags klischeehaft angereicherten Plot, dessen äußerst vielseitige Symbolik und üppige Intertextualität deutlich zu dick aufgetragen ist. Hier wird derart überbordend fabuliert, wird parodistisch ein literarisches Feuerwerk an Pointen und schrägen Szenen abgebrannt, dass die ebenfalls vorhandene, gedankliche Tiefe dabei völlig verloren geht, - schade eigentlich!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.12.2018
Molinari, Gianna

Hier ist noch alles möglich


gut

Surrealer Eskapismus

Der Debütroman von Gianna Molinari mit dem Titel «Hier ist noch alles möglich» benutzt den Wolf als Symbol, - derzeit übrigens häufiger anzutreffen in deutschen Romanen -, er ist ein markantes Leitmotiv für die Verkörperung des freien, ungebändigten Lebens, wie es ähnlich zum Beispiel auch in Schimmelpfennigs Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen» verwendet wird. Der Text des schmalen Bandes wird durch einige Dutzend Skizzen und Abbildungen grafisch ergänzt. Als erster Roman der jungen Schweizer Schriftstellerin hat das Buch auf Anhieb einige Preise errungen und wurde von Feuilleton und Leserschaft positiv aufgenommen. Während es bei Schimmelpfennigs eher trostloser Gesellschaftsbeschreibung im letzten Satz heißt: «Der Wolf war verschwunden», endet der rätselhafte, poetische Exkurs ins Unbestimmte hier mit dem Satz: «Die Falle ist bereit».

Eine junge, namenlose Ich-Erzählerin hat ihr bürgerliches Leben als Bibliothekarin radikal aufgegeben und als Nachtwächterin bei einer Kartonagefabrik angeheuert, die in ansehbarer Zeit allerdings geschlossen werden soll, sie wohnt dort provisorisch in einer schon leeren Fabrikhalle. Auf dem Firmengelände hat der Kantinenkoch anscheinend einen Wolf gesehen, daraufhin sind einige Tellereisen aufgestellt worden, die beiden Nachwächter sollen nun zusätzlich auch noch eine Fallgrube ausheben. Ein Kollege aus der Fabrik hat bei der Jagd vom Hochsitz aus undeutlich etwas vom Himmel stürzen sehen, dabei aber an eine Sinnestäuschung geglaubt. Wochen später wird dort im Wald eine Leiche gefunden, ein nicht identifizierbarer Afrikaner ist mutmaßlich bei seiner Flucht nach Europa - im Fahrwerksschacht einer Passagiermaschine - beim Landeanflug auf den nahegelegen Flugplatz aus seinem tödlichen Versteck herausgestürzt. Die neugierig gewordene Protagonistin besucht daraufhin den Flughafen, lernt dort einige Mitarbeiter kennen und schafft es schließlich, unauffällig das Fahrwerk einer solchen Verkehrsmaschine auf dem Rollfeld zu besichtigen, sie klettert unbemerkt probeweise sogar selbst in den Schacht hinein.

Mit den beiden Grundmotiven Wolf und Flüchtling entführt uns die Autorin in eine literarische Welt der Ungewissheiten. Ihr prägendes Sinnbild als überschaubares Refugium ist dabei die einsame Insel. Mehrfach stellt sie den verschiedenen Abschnitten ihres Romans einen kurzen Absatz zu diesem geradezu magischen Ort der Selbstvergegenwärtigung voran. Im Text heißt es an einer Stelle: «Warum bist Du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist Du hier, fragt er. Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich. Sogar Wölfe, sagt Clemens.» Die Ich-Erzählerin arbeitet in der Leere ihrer sinnlosen Nachtwachen an einem Universal-General-Lexikon, dessen Inhalt aus lauter Abseitigem besteht, damit ihre aberwitzige Gedankenwelt spiegelnd. Viel Raum nehmen dabei auch Fragen nach dem Innen und Außen ein, nach der begrenzten Welt ihrer Fabrikhalle und der komplizierten Welt da draußen.

In einfach strukturierten Sätzen werden die immer wieder verblüffenden Gedanken und Schlussfolgerungen der stoischen Protagonistin vor dem staunenden Leser ausgebreitet. Deren irritierende Schlichtheit aber sollte nicht über die gedankliche Tiefe hinweg täuschen, mit der hier existenzielle Fragen scheinbar naiv behandelt werden. Der das Unzuverlässige betonende Plot ist zudem geradezu minimalistisch auf das Wesentliche beschränkt, seine Sprache ist äußerst karg und direkt. Vermutlich würde ein Computer das Adverb «vielleicht» als das häufigste im Text ermitteln, meistbenutztes Satzzeichen dürfte in dieser irritierenden Prosa über die Krise des Individuums das Fragezeichen sein. Am Ende sitzt dann sogar ein leibhaftiger Wolf in der Fabrikhalle, - an den Löwen in Lewitscharoffs «Blumenberg» erinnernd -, und ist in Gianna Molinaris kontemplativer Geschichte als Symbol für den Eskapismus auch genau so surreal.

Bewertung vom 03.12.2018
Wallace, David Foster

Unendlicher Spaß


ausgezeichnet

Auf dem Weg zum besseren Menschen

Im exklusiven Club der literarischen Überflieger ist David Foster Wallace mit seinem 1996 veröffentlichten Opus magnum «Unendlicher Spaß» das einzige US-amerikanische Mitglied. Er gilt als der innovativste postmoderne Schriftsteller, und sein voluminöser Roman, ein intellektuell solitäres Werk der englischsprachigen Literatur, gilt als Meilenstein, Maßstäbe setzend und Horizonte öffnend für die Literatur des neuen Jahrhunderts. Erst 2009 wurde nach sechsjähriger Arbeit auch eine deutsche Übersetzung veröffentlicht, eine Sisyphosarbeit mit mehr als 1500 Buchseiten. Als sein literarisches Vorbild hat der Autor Thomas Pynchon bezeichnet, mich hat diese komplexe Prosa beim ersten Lesen in einigen Aspekten unwillkürlich auch an James Joyce erinnert.

Drogen und Tennis sind die beherrschenden Themen dieses dystopischen Romans, der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt ist mit radikalen politischen und sozialen Umwälzungen. Die USA, Kanada und Mexico haben den neuen Staat ONAN gebildet, der den Gregorianischen Kalender abgeschafft hat und das Recht auf die Benennung der Jahre an zahlungskräftige Firmen verkauft. Der überwiegende Teil des Plots ist demzufolge im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche angesiedelt, das folgende Jahr wird das Jahr des Glad-Müllsacks sein. Frankokanadische Separatisten wollen sich der Videokassette «Unendlicher Spaß» als Waffe bedienen, ein Film, der seine Zuschauer schon nach wenigen Minuten unwiderruflich in den Geisteszustand von Kleinkindern versetzt und damit die Amerikaner zu wehrlosen Opfern ihrer unbändigen Konsumgier macht. Zentraler Handlungsort ist die Bostoner Enfield-Tennisakademie und eine nahegelegene Drogenentzugsanstalt. Die beißende Kapitalismuskritik des Autors wird sinnfällig durch seine sarkastische Beschreibung des geisttötenden, medialen Dauerfeuers, unter dem die manipulierten Menschen stehen und auf das sie zumeist hedonistisch einseitig durch extensiven Drogenkonsum reagieren.

Das Absurde ist hier aber nicht nur auf die Handlung selbst beschränkt, der verwegene Schreibstil von David Foster Wallace ergänzt gekonnt den wirren Plot durch eine ironisch eingebrachte Unzahl von Neologismen, Fremdwörtern und äußerst komplizierten Satzgebilden, in die neben vielerlei absurdem Fachjargon auch häufig ordinärer Alltagsslang mit eingebaut ist. All das aber ist in einer geschliffenen, grammatikalisch korrekten, glasklaren Sprache geschrieben und kongenial übersetzt, Chapeau! Leicht lesbar also, wären da nicht die immer wieder ausufernden, überlangen Wortkaskaden mit den ungewohnten, neuartigen Wortgebilden. Außerdem, und das ist typisch für DFW, wird der Lesefluss durch ein umfangreiches Glossar mit nicht weniger als 388 kleingedruckten Anmerkungen gestört, die allein schon 134 Buchseiten füllen, - beim Hin- und Herblättern sind allerdings die doppelten Lesebändchen sehr hilfreich.

Bleibt die Frage zu klären, ob die Lektüre lohnt? Dem ernsthaft literarisch Interessierten sei, allein der eigenen Belesenheit wegen, dieser Roman unbedingt empfohlen, er gehört nun mal zum literarischen Kanon. Was die schiere Textmasse anbelangt, so sei angeraten, in Etappen mit längeren Zwischenpausen zu lesen, wie ich es gemacht habe, - denn egal, wo man das Buch aufschlägt, man ist sofort wieder «drin» in diesem originären Text. Aber auch unvollständiges Lesen ist hier sinnvoll! Denn wer auch nur hundert Seiten davon gelesen hat, ist in jeder Hinsicht bereichert, hat den wichtigsten Roman eines der kreativsten Schriftsteller unserer Zeit kennengelernt und kann durchaus auch mitreden. Nicht zuletzt aber ist dieses satirische Textkonvolut mit viel Humor gewürzt, erheitert immer wieder mit überraschendem Wortwitz und allerlei narrativen Finessen, wird also seinem dem Hamlet entlehnten Titel vollinhaltlich gerecht. Glaubt man dem Feuilleton, ändert man sich als Leser nach «Unendlicher Spaß», wird sogar ein besserer Mensch. Na, wenn das kein Grund ist zum Lesen!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.12.2018
Byatt, Antonia S.

Besessen


ausgezeichnet

Literatur im Fokus

Der literarische Durchbruch gelang der britischen Schriftstellerin Antonia Susan Byatt durch ihren Roman «Besessen», er wurde 1990 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und avancierte schnell zum Bestseller im englischsprachigen Buchmarkt. Drei Jahre später erschien er in deutscher Übersetzung, und damit erschien überhaupt erstmals ein Roman dieser bis dato am meisten unterschätzten britischen Autorin auch in Deutschland. Von der Kritik wurde er überwiegend positiv beurteilt, vom total begeisterten Marcel Reich-Ranicki gar als Jahrhundertroman apostrophiert. Und das, obwohl er literarisch in jeder Hinsicht ein kompliziertes, hoch komplexes Werk ist mit einer Fülle von Zitaten, Andeutungen und Verweisen. «Ich wollte immer etwas Kompliziertes schreiben» hat die Autorin im Interview dazu erklärt. Wartet hier also auf mehr als 600 Seiten ein intellektuelles Fitnesstraining auf den potentiellen Leser?

Im Milieu der Literaturwissenschaft angesiedelt, beginnt diese äußerst gekonnt erzählte und bis zum Schluss spannend bleibende Geschichte eines großen Geheimnisses mit einer Trouvaille. Roland Michell, der über den viktorianischen Poeten Randolph Henry Ash promoviert hat, findet in der London Library in einem Buch, das einst Ash gehörte, Entwürfe von dessen Hand für einen Brief an eine nicht genannte Dame. Sein Forscherdrang ist geweckt, er begibt sich auf eine komplizierte Suche, studiert Tagebücher, Briefe und Gedichte auf versteckte Hinweise und vermutet schließlich die kaum bekannte Schriftstellerin Christabel LaMotte als Adressatin der Briefentwürfe. Und tatsächlich kann er mit Hilfe seiner Kollegin Maud Bailey belegen, dass die beiden sich gekannt haben mussten, - ja, mehr als das! Die akribischen Recherchen im Literaturmilieu lesen sich wie eine verzwickte Detektivgeschichte, unermüdlich tragen die jungen Wissenschaftler ein Puzzleteilchen nach dem anderen zusammen und fügen sie zu einem stimmigen Bild, welches einige der Gewissheiten über den im literarischen Rang mit Goethe gleichgestellten britischen Lyriker Ash widerlegt. Die schriftlich fixierten Ergebnisse der gemeinsamen Recherche bringen dem bis dato erfolglosen Hilfsassistenten Roland Michell nicht nur Angebote für lukrative Stellungen gleich dreier Universitäten, er kann schließlich sogar das Herz seiner spröden Mitstreiterin Maud gewinnen.

Die zweite der kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen wird fast komplett mit Zitaten aus Tagebüchern, Briefwechseln und Werken der beiden viktorianischen Dichter, aus Märchen und anderen Quellen des 19ten Jahrhunderts bestritten. All das ist fiktiv, auch wenn es authentisch wirkt! Das Leitmotiv bildet dabei die Sage von Melusine, deren Tabubruch hier als Motiv im Feminismus gespiegelt wird, aber auch Kunst, Wissenschaft sowie erregende, übernatürliche Kräfte werden thematisiert. Letztere sind als Besessenheit ja sogar titelgebend, die - in ihrer nur vage angedeuteten Leidenschaft – kurze Liaison der beiden Poeten verstößt gegen jede Vernunft und hat dramatische Folgen.

Mit seiner raffinierten narrativen Struktur ist «Besessen» nicht nur hoch komplex, es ist auch ein geradezu archetypischer englischer Roman, dessen schwarzer Humor insbesondere in der höchst amüsanten, ironischen Schilderung der Literaturwissenschaft, ihrer Akteure, Methoden und abseitigen Forschungsgegenstände zum Ausdruck kommt. Antonia Susan Byatt hat vor allem den sprachlichen Wechsel zwischen den mehr als ein Jahrhundert auseinander liegenden Erzählzeiten bravourös gemeistert. Wobei allerdings die altmodisch betuliche Ausdrucksweise, aber auch die vielen Seiten in Versform für heutige Prosaleser eine ziemliche Hürde darstellen dürften. In diesem Roman zweier zeitlich mehr als ein Jahrhundert auseinander liegender Liebesgeschichten ist der Hauptakteur das geschriebene Wort. Die Literatur vor allem also steht im Fokus dieser ebenso geistreichen wie unterhaltenden und bereichernden, am Ende auch sehr berührenden Lektüre.

Bewertung vom 27.11.2018
Moshfegh, Ottessa

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung


schlecht

9/11 als Katharsis

Der dritte Roman von Ottessa Moshfegh, die von der US-amerikanischen Literaturszene als Shootingstar gefeiert wird, verrät schon im Titel sein Thema: «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung». Es geht darin um eine schlafsüchtige, emotional gestörte Frau, ihre Protagonistin solle dem geläufigen Bild der Frau als Opfer die Figur einer Angst einflößenden «Monsterfrau» gegenüberstellen, hat die Autorin dazu erklärt. Verblüfft wird mancher potentielle Leser nun auf das Buchcover schauen, wo ein klassisches Gemälde des französischen Malers Jaques-Louis David das Portrait einer Frau zeigt, die geradezu als Verkörperung sanfter Friedfertigkeit dargestellt ist, als ein typisches Opfer also. Alles Fake?

Die namenlose Romanheldin ist eine 26jährige Frau mit Modelfigur, die in einem vornehmen Viertel New Yorks lebt, - nach ihrem Studium arbeitet sie nun in einer hippen Kunstgalerie. Ihre Eltern sind früh gestorben und haben ihr ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihr ein sorgloses Leben ermöglichen könnte. Trotzdem ist sie unglücklich, sie kommt nach vielen flüchtigen Männergeschichten nicht von ihrem Ex-Freund Trevor los, obwohl er sie wie Dreck behandelt. Ihre versoffene, einzige Freundin Reva lädt bei ihr immer wieder den Ballast ihres chaotischen Lebens ab, ihre Monologe nerven nur noch. In ihrer Leere und Ziellosigkeit lässt die Ich-Erzählerin zusehends ihre Wohnung vermüllen, sie kann sich zu nichts mehr aufraffen, verliert ihren Job und zieht sich völlig zurück vom Leben. Als sie Hilfe bei einer Therapeutin sucht, weil sie nicht mehr schlafen kann, verschreibt ihr die durchgeknallte Psychiaterin Dr. Tuttle Unmengen von Medikamenten, mit denen sie sich bedenkenlos vollstopft. Als all das nicht mehr hilft, beschließt sie, eine Art Winterschlaf zu halten und hofft, danach quasi als neuer Mensch ins Leben zurückkehren zu können. Der exaltierte Künstler Ping Xi soll sie während dieser Zeit betreuen, nur er darf noch ihre vollkommen leer geräumte Wohnung betreten, als Gegenleistung darf er ihre spektakuläre Schlafaktion als sein neuestes Kunstprojekt ausschlachten.

Die psychedelischen Phasen der suizidgefährdeten Heldin sind von endlosen Aufzählungen der diversen Medikamente geprägt, wahllos wirft sie unglaubliche Tablettenmengen in sich hinein, spült sie mit Alkohol hinunter und isst kaum noch etwas in ihrem Dauerdelirium. Damit überzeichnet die als US-Starautorin gehandelte Ottessa Moshfegh ironisch ihre depressive Heldin, regelrecht zynisch erzählt sie zudem von deren sich häufig wiederholenden Phasen mit einem ungebremsten, wahllosen Kaufrausch, in denen die Autorin den Konsumwahn ihrer Landsleute gnadenlos entlarvt. Endlose Zeit verbringt die Protagonistin vor dem Bildschirm, sie konsumiert wahllos immer wieder die gleichen geistlosen Videos, wobei es ihr besonders Filme mit Whoopi Goldberg angetan haben, die kann sie sich problemlos mehrmals hintereinander ansehen. Ganz offensichtlich sieht die Autorin den vielbeschworenen American Way of Live als die Wurzel der psychotischen Verirrungen ihrer Nation an. Ob dem mit purem Eskapismus beizukommen ist, bleibt letztendlich fraglich, auch wenn das wenig kitschige Ende des Romans in diese Richtung deutet.

Weder die tablettensüchtige, depressive Heldin, die die Hälfte der erzählten Zeit schläft, noch der absurde Versuch ihrer Selbstoptimierung versprechen eine angenehme Lektüre, die übrigens mit dem Debakel von 9/11 als Katharsis endende Geschichte im Messie-Milieu ist in ihrer erbarmungslosen Direktheit wirklich nicht erbaulich. Alle Figuren sind gleichermaßen unsympathisch, und nur ganz selten mal blitzt stilistisch Gelungenes auf, so in der tiefsinnigen Sterbeszene des krebskranken Vaters, der aus der Klink heimgekehrt ist, damit er daheim «zu Ende sterben» kann. Die sich dauernd wiederholenden pharmazeutischen Exzesse jedoch werden sehr schnell langweilig, und nur die Idee vom Winterschlaf ist wirklich keine tragfähige Basis für einen lesenswerten Roman.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.11.2018
Kerouac, Jack

Unterwegs


gut

Ein Kultroman

Als bedeutendster Vertreter der «Beat-Generation» hat Jack Kerouac mit seinem 1957 veröffentlichten Roman «Unterwegs» das wichtigste Werk jener neuen, Ende des Zweiten Weltkriegs der «Lost Generation» nachfolgenden, literarischen Strömung geschaffen. «On the Road», wie der schon 1951 entstandene Text im Original heißt, mit dem ihm dann auch sein literarischer Durchbruch gelang, gilt seither geradezu als Proklamation der Beatniks, zu denen neben Literaten wie Allen Ginsberg oder William S. Burroughs auch Jazzmusiker wie Chet Baker gehörten. In der Literaturgeschichte ist der US-amerikanische Autor damit unbestritten stilprägender Wegbereiter dieses rein emotional gesteuerten, durch flirrende Unstetigkeit und radikale Subjektivität gekennzeichneten, originären Sprachstils, der übrigens weitreichende Wirkungen hatte auf eine Vielzahl von anderen Schriftstellern und sogar Musikern. Als Anekdote sei angemerkt, dass Jack Kerouac das Manuskript seines Romans dem Verlag nicht als Papierstapel, sondern als eine der jüdischen Thora nachgebildete, vierzig Meter lange Rolle aneinander geklebter, eng beschriebener Papierbögen übergeben hat. Eben jene legendäre Rolle wurde dann 2001 bei Christie’s für 2.426.000 Dollar versteigert, weit mehr als der finanziell notorisch klamme Autor für sein gesamtes Werk je erhalten hat.

Der stimmige Titel dieses für den Spielfilm «Easy Rider» als Vorlage dienenden, stark autobiografisch geprägten Romans weist bereits sehr treffend auf dessen Inhalt hin, ähnlich einem Roadmovie nämlich dient hier die Strasse als Bühne für die Handlung. Der als paranoid-schizophren geltende Jack Kerouac hat darin eigene Erlebnisse seiner turbulenten, unangepassten Jugendjahre verarbeitet, die durch rastlose Reisen geprägt waren, in denen Alkohol, Sex und Drogen, aber auch harter Jazz in Form des Bebops das Geschehen bestimmten. Zentrale Figur des aus der Ich-Perspektive eines angehenden Schriftstellers namens Sal Paradise erzählten Romans ist Dean Moriarty, eine weitgehend seinem oft als irre angesehenen bestem Freund und Studienkollegen nachempfundene Figur, die im Buch ebenso dominant ist, wie es ihr Vorbild im realen Leben für den Autor selbst war. Der reisewütige Romanheld fährt allein oder mit seinem verrückten Freund zusammen kreuz und quer durch die USA, von der Ostküste an die Westküste, von Nord nach Süd, sie landen am Ende schließlich, auf ihrem letzten Trip, in Mexico. Meist sind sie im Auto unterwegs, sie trampen und lernen dabei skurrile Menschen kennen, benutzen gestohlene Autos oder finden für wenig Geld einen Platz bei einer Mitfahrerzentrale, sie springen auf Güterzüge auf und verstecken sich in den Bremserhäuschen, und wenn sie mal Geld haben benutzen sie die berühmten Greyhound-Busse.

Auf diesen abenteuerlichen Reisen erleben wir als Leser eine endlose Reihe von Saufgelagen, wilden Partys und Weibergeschichten der beiden Außenseiter, die unangepasst aus ihrer wirren, verqueren Perspektive heraus die gesellschaftlichen Regeln verächtlich als für sie nicht existent ansehen, sie bedenkenlos ignorieren. Unübersehbar aber steckt hinter dieser Absage an jedwede soziale Norm die verzweifelte Suche der jungen Männer nach Lebenssinn. Ihre provokante Aufmüpfigkeit und hedonistische Rücksichtslosigkeit soll ihre tief sitzenden Ängste vor der philosophisch nicht widerlegbaren Sinnlosigkeit unserer Existenz überdecken.

Geradezu ekstatisch, aber journalistisch knapp erzählt Jack Kerouac in diesem berühmten Kultroman, er bedient sich dabei einer klaren, in den Dialogen wunderbar stimmig dem Jugendslang angepassten Sprache. Und vermag damit seine durchgeknallten Figuren überzeugend plastisch zu zeichnen und sehr anschaulich Bilder der grandiosen Landschaften herauf zu beschwören. Nach einem Drittel des Romans aber stellt sich dann eine gewisse Langeweile ein, es passiert nichts wirklich Neues mehr, und das trübt denn doch ein bisschen den Lesegenuss. Trotzdem lohnt sich diese Lektüre allemal!

Bewertung vom 18.11.2018
Krechel, Ursula

Geisterbahn


sehr gut

Die Kirmeswelt als Antithese

Nach sechs Jahren ist von Ursula Krechel, deren vielseitiges Œuvre neben Lyrik und Dramatik eben auch Epik beinhaltet, wieder ein Roman erschienen, dessen metaphorischer Titel «Geisterbahn» den Inhalt sehr treffend umreißt. Es geht darin, genau wie in ihren letzten beiden Romanen, um Täter und Opfer, um Verfolgung, Vertreibung und Exil. Aber gleichberechtigt stehen bei ihr immer auch deren verheerende Folgen im Fokus, das Wiedererlangen der Würde für die Verfolgten, die Wiedergutmachung für die wenigen Überlebenden. Denn ihr Leben war ein einziger Schrecken, wie in der Geisterbahn eben. Den roten Faden der Handlung bildet dabei das Schicksal der Sinti-Familie Dorn, die durch die Hölle der Nazi-Repressionen geht und nach dem Krieg erleben muss, wie ihnen nicht nur die Neonazis erneut mit Verachtung, zuweilen mit offenem Hass begegnen. Aber auch wie unsensibel, geradezu verächtlich die Behörden der Nachkriegszeit mit ihnen umgehen, wie geringschätzig selbst die Polizei sie immer noch behandelt, all das wird umfassend thematisiert.

Anders als in «Landgericht», dem vor sechs Jahren mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Roman, gibt es hier aber mehrere parallele Handlungsstränge, deren Figuren wir in fünf lose miteinander verflochtenen Abschnitten über drei Generationen hinweg durch Naziherrschaft und Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein begleiten. Es beginnt in einer Schule in Trier, wo die kleine Anna aus einer Schaustellerfamilie Schwierigkeiten mit der Sprache hat, zuhause wird nun mal Romanes gesprochen. Ihre Familie betreibt ein Karussell und zieht damit über die Jahrmärkte im weiten Umkreis der Stadt. Nach der Machtergreifung sind sie zunehmenden Repressionen der Nazis ausgesetzt, die mit willkürlichen Anschuldigungen beginnen, in Zwangsarbeit, gewaltsamen Umsiedlungsaktionen und Zwangssterilisation eskalieren und für viele Mitglieder der Großfamilie im Vernichtungslager Auschwitz enden. Trier sei «zigeunerfrei», meldet schließlich der Nazi-Gauleiter stolz nach Berlin. Mit großem Fleiß hat Ursula Krechel wieder viele historische Details recherchiert und auch hier öfter mal aus Schriftstücken oder Formularen von Behörden zitiert, den seelenlosen Amtsjargon also authentisch eingebunden in ihre anrührende Geschichte.

Ziemlich irritierend war für mich die ambivalente Erzählsituation, denn obwohl es mit MEINVATER einen übereifrigen Polizisten als Figur gibt, der sich an den Schikanen und Quälereien der Sinti und Roma beteiligt, tritt erst ab der Hälfte des bis dahin auktorial erzählten Romans plötzlich ein Ich-Erzähler in Erscheinung. Dessen Namen wiederum erfährt man dann ebenfalls erst einiges später, ein ebenso neckisches wie überflüssiges Versteckspiel! Jener Bernhard also, weiß man dann, saß mit Anna auf der Schulbank, und die meisten der vielen Romanfiguren sind seine damaligen Klassenkameraden oder stammen aus deren Familien. Ganz nebenbei ist dieser Roman eine Hommage an die Geburtsstadt der Autorin, vor allem aber eine großartige Chronik einer historischen Katastrophe und ihrer Auswirkungen auf die Bürger Triers, in der Fiktion und Realität mit kaum wahrnehmbaren Übergängen kunstvoll verbunden sind. Neben den Dorns als Schausteller wird auch von den Geschwistern Orli und Willi Torgau erzählt, überzeugte Kommunisten, die ebenfalls Verfolgungen ausgesetzt sind, oder von dem Arzt Franz Neumeister, der als Opportunist den politischen Wandel nach dem Krieg unbeschadet übersteht und als Kinderpsychiater Karriere macht.

Die Lyrikerin ist sprachlich unverkennbar herauszuhören aus dieser anklagenden Prosa über eine beschämende Unmenschlichkeit, und auch die katholische Kirche als angeblicher Hort der Moral kommt dabei nicht ohne Blessuren davon. Ursula Krechels Sympathie gehört jedenfalls eindeutig der bunten, lebensfrohen, unschuldigen Kirmeswelt, die traumartige Antithese also zum «lupus est homo homini» bei Plautus, wie dieser großartige Roman sehr eindrucksvoll belegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2018
Mahlke, Inger-Maria

Archipel


schlecht

Keine archäologische Grabung

Nach ihrer Shortlist-Nominierung 2015 hat Inger-Maria Mahlke dieses Jahr mit «Archipel» den Deutschen Buchpreis gewonnen, das vor knapp drei Monaten veröffentlichte Buch wurde jedoch vom Feuilleton überwiegend kritisch und von der Leserschaft sehr eindeutig ablehnend beurteilt. «Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar» heißt es in der Begründung der Jury. Reicht das, um einen umfangreichen Roman wie diesen zu einer lohnenden Lektüre zu machen, ihn gar als Preisträger zu krönen?

Der Romantitel bezieht sich auf die Kanarischen Inseln, als Schauplatz dieser sich zeitlich über fünf Generationen und fast hundert Jahre hinweg erstreckenden, weitläufigen Erzählung dient Teneriffa. Wobei einige Familien aus ganz verschiedenen sozialen Schichten mit ihrem Alltagsleben im Fokus stehen, ergänzt durch eine schier unüberschaubare, periphere Figurenschar. Als narrativer Clou sozusagen wird hier zeitlich rückwärts erzählt, beginnend 2015 und endend im Jahre 1919. Stehen an Ende also die gerade überstandenen Schrecken des Ersten Weltkriegs, so sind wir am Anfang mit den Problemen einer ökologisch vor dem Kollaps stehenden, vermüllten Urlaubsinsel konfrontiert, die am Massentourismus zu ersticken droht. Die umgekehrt chronologische Erzählweise wird fragmentarisch in aneinander gereihten Szenen realisiert, die Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten lose miteinander verknüpfen, wobei das Private jeweils mit der historischen Situation und den politischen Umbrüchen unterlegt ist.

Inger-Maria Mahlke ist eine genaue Beobachterin, der mit viel Liebe zum Detail anschauliche Schilderungen des Alltagslebens verschiedener sozialer Schichten ebenso gelingen wie Beschreibungen des inseltypischen Klimas mit seinem ewigen Sommer und der exotischen Natur oder der Städte mit ihren in die Kolonialzeit zurückdeutenden Bauwerken. Neben den großen Namen der aus ganz Europa zugewanderten Inselbewohner, deren bekanntester Bernadotte sein dürfte, widmet sie sich akribisch auch den namenlosen kleinen Leuten, baut Händler, Handwerker, Dienstboten und Arbeiter in ihre Geschichte mit ein. Ein vorangestelltes Verzeichnis der handelnden Personen hilft ein wenig, die überbordende Figurenfülle als Leser wenigstens einigermaßen richtig einordnen zu können, bei den Nebenfiguren ist man dann allerdings auf sich selbst gestellt. Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis für die vielen in den Text eingestreuten spanischen und kanarischen Begriffe ist das fünfseitige Glossar, genau dadurch jedoch wird für die überwiegende Mehrheit der Leser immer wieder der Lesefluss störend gehemmt.

Am meisten jedoch stört ohne Frage die gewagte Erzählkonstruktion, die sich aber als L’art pour l’art erweist, Zeit ist nämlich literarisch ebenso unumkehrbar wie physikalisch, - welchem Autor wäre das denn je überzeugend gelungen? Das Ganze ist also eine artifiziell anmutende Marotte der Autorin, nichts weiter! Die aus verschiedenen Perspektiven stilistisch sehr reduziert, fast spröde in ihrem ureigenen Duktus erzählten Handlungsfragmente fügen sich genau deswegen auch nicht zu einem inhärenten Plot, der diesen Namen wirklich verdiente, es fehlt eben eine nachvollziehbare Abfolge der Handlung. Die Figuren vermögen allesamt kaum Empathie zu erzeugen und werden auch nicht plastischer durch ihre teils wirren, oft unverständlichen Dialoge. Ein gewisser Erkenntnisgewinn ergibt sich allenfalls aus den zuweilen unterlegten historischen Fakten, ansonsten sind die Lesefrüchte spärlich, denn Detailfülle allein, zumal wenn sie sich auf fast ausschließlich Insignifikantes richtet, wird schon bald sehr langweilig und ermüdet zusehends auch den geduldigsten Leser. «So what?» wird sich mancher da fragen. Ein Roman funktioniert eben anders als eine archäologische Grabung!

7 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.11.2018
Swift, Graham

Ein Festtag


sehr gut

Elegant und federleicht erzählt

Ist der Roman «Ein Festtag» von Graham Swift auch ein Festtag für den Leser? Mehr als einen Tag nämlich wird er kaum brauchen, um diesen internationalen Bestseller mit seinen 142 Seiten zu lesen, in denen es, wie so oft bei diesem englischen Schriftsteller, um die Erinnerung als literarisches Faszinosum geht. Was da alles in die wenigen Buchseiten hineingepackt ist an Gefühlen, Lebensweisheiten, an historischem und gesellschaftlichem Hintergrund, das ist verblüffend, nicht etwa weil so komprimiert erzählt wird, sondern weil all das ganz unterschwellig auch mit anklingt.

«Mothering Sunday», so der Buchtitel im Original, ist ein Feiertag der Church of England, hier im Roman ist dieser sonnige Tag im März 1924 der alles verändernde Schicksalstag für seine Protagonistin. Traditionell haben alle Dienstboten an diesem Tage arbeitsfrei, viele besuchen ihre Mutter, aber Jane ist ein Findelkind, sie wurde im Waisenhaus großgezogen und arbeitet als Dienstmädchen in einem Herrenhaus. Die 24Jährige hat seit Jahren heimlich ein Verhältnis mit Paul, dem verwöhnten Sohn wohlhabender Nachbarn, anfangs hatte er sie mit einem Sixpence bezahlt, inzwischen ist daraus Liebe geworden. Er nutzt die Abwesenheit seiner Eltern und trifft Jane an diesem Festtag zum ersten Mal bei sich zuhause, und nach den vielen unbequemen, improvisierten Treffen diesmal erstmals sogar in seinem Bett. Ohne obszön zu werden schildert Swift die postkoitale Zweisamkeit en detail und spart auch den Fleck nicht aus, den die gehabten Genüsse als feuchte Spuren verräterisch auf dem Laken hinterlassen haben. Bei aller Ekstase ist dem nun nackt auf dem Bett liegenden Pärchen bewusst, dass dies ihr letzter Beischlaf war, sie werden sich nie wiedersehen, Paul wird in zwei Wochen Emma heiraten, eine arrangierte Ehe mit einer «guten Partie». Und während Jane vor sich hin sinnierend ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, putzt sich Paul schweigend für ein Treffen mit Emma heraus, und zwar aufreizend langsam, obwohl er inzwischen viel zu spät dran ist und empörte Vorhaltungen seiner Verlobten fürchten muss.

Zwei Drittel der Geschichte sind diesem Tête-à-Tête gewidmet, aus der Perspektive der jungen Jane wird darin sehr anschaulich ihr bisheriges Leben rekapituliert, bis nach mehr als hundert Seiten ein plötzlicher Zeitsprung ins hohe Alter von Jane Fairchild führt, die nach Tätigkeit im Buchhandel eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist. Dieser zweite Teil ihres Lebens wird in Form von Interviews erschlossen, in denen die Hochbetagte nach ihrem Lebensweg befragt wird. «Alles ausgedacht» hatte sie einst als 48Jährige nach dem Tod ihres Mannes, eines Philosophen in Oxford, ihr erstes Buch betitelt. In den Gesprächen finden sich dann geistreiche Reflexionen von ihr über Literatur, über den Schreibprozess als solchen und die Fiktionalisierung der Realität, über das Lesen und ihre persönliche Annäherung an die Literatur insbesondere durch Joseph Conrad, den sie geradezu hymnisch verehrt hatte.

Es ist bewundernswert, wie Graham Swift, mit wenigen Worten sparsam erzählend, in seinem raffiniert konstruierten Plot derart tiefgründig in das Gefühlsleben seiner Figuren eindringt und anschaulich die Atmosphäre in den privilegierten englischen Herrenhäusern mit ihren gesellschaftlichen Umbrüchen schildert. Folgt man der Definition von Goethe, ist diese Geschichte mit ihrer - von mir aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber verschwiegenen - «unerhörten Begebenheit» eine äußerst elegant geschriebene, klassische Novelle. Die, und das ist das Schöne daran, wegen ihrer Kürze natürlich zu allerlei Deutungen und Ergänzungen durch den geneigten Leser geradezu herausfordert. Was auch immer aber man herauslesen zu können glaubt, all diese wohlfeilen Spekulationen über das «Was-wäre-wenn» ändern nichts daran, dass dies eine angenehm unterhaltende, federleicht erzählte Novelle ist, literarisch also durchaus «auch ein Festtag für den Leser»!

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