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hasirasi2
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Bewertung vom 10.11.2021
Steinborn, Margit

Der schönste Traum


weniger gut

Schmonzette

Im Frühjahr 1914 legt die Magd Klara ihren neugeborenen Sohn Tobias auf den Stufen von Gut Benhaim ab. Sie weiß, dass Baronin Isabell hat vor einigen Tagen schon das 3. Kind verloren hat und hofft, dass sie und ihr Mann Rainer das Kind adoptieren. Ihr Plan geht auf, doch der Baron will unbedingt wissen, warum eine Mutter ihr Kind einfach weggibt und stellt Nachforschungen an, die Ungeheuerliches ans Licht bringen und das Leben aller Beteiligten verändern ...

Leider konnte mich „Der schönste Traum nicht“ überzeugen. Ich hatte einen historischen Roman mit Tiefgang erwartet, aber eine Schmonzette vor historischem Hintergrund bekommen. Man kann es mit den Gefühlen auch übertreiben und hier kam es mir oft so vor, als hätte sich Margit Steinborn an früheren Stummfilmstars und deren übergroßen Gesten orientiert, damit auch noch der letzte begreift, was Sache ist. Außerdem war mir spätestens ab S. 81 klar, wie alles zusammenhängt und die Geschichte ausgeht – aber als Leser möchte man überrascht werden. Zudem finde ich den Schreibstil zu langatmig, es fehlte an Spannung und Tempo und auch der Kriegshintergrund bringt nur bedingt Abwechslung ins Geschehen.
Ich hatte gehofft, dass Rainers Tante Alisia die Handlung etwas aufmischt – sie wurde immer als extrovertiert angekündigt, fiel dann aber nicht wirklich aus dem Rahmen. Auch aus Alberts (Rainers Bruder) nicht standesgemäßer Beziehung hätte man deutlich mehr machen können.

Wer einen typischen, vorhersehbaren Liebesroman sucht, macht hier sicher nichts falsch, aber mein Fall war es leider überhaupt nicht.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.11.2021

Neue Dinge aus alten Stoffen


ausgezeichnet

Packt die Nähmaschinen aus!

Wahrscheinlich jeder hat ein oder zwei uralte Lieblings-T-Shirts im Schrank, die er schon lange nicht mehr anziehen, aber auch noch nicht wegwerfen kann. Bei mir kommen zu den alten Shirts noch ein paar zerrissene Jeans, aus denen ich seit Jahren eine Tasche, eine Patchworkdecke fürs Bett oder ein großes Kissen für meinen Hund nähen will – zumal meine Mama eine alte Nähmaschine im Keller stehen hat, die sie mir schon ewig „vererben“ will … Ran gewagt habe ich mich an die Projekte bisher leider nie, aber mit dem vorliegenden Buch gibt es keine Ausrede mehr. Leicht verständlich, mit vielen Tipps, Hinweisen und Anregungen wird erklärt, wie einfach es ist, aus alten Lieblingsstücken neue zu machen.

Ich finde es super, dass zu Beginn einige Grundlagen erklärt werden und gezeigt wird, wie man Flick- und Stopfarbeiten oder kleinere Reparaturen ausführt oder Knöpfe annäht. Ich habe das alles zwar noch in der Schule gelernt, aber heutzutage gibt es ja keinen Handarbeitsunterricht mehr.

Dann geht’s auch schon los. Es wird gefärbt, gedruckt, gehäkelt, geschnippelt, geflochten, geknüpft und natürlich genäht, bis die Nadeln glühen. Und jetzt weiß ich auch, was ich in Zukunft aus nach dem Waschen übrig gebliebenen Socken zaubern kann …
Übrigens kann man mit Hilfe des Buches nicht nur Kissen oder Taschen, sondern auch tolle Haushaltshelfer wie Staubwedel oder Filtertüten anfertigen.

Ich habe zwar immer noch keine Patchworkdecke genäht, aber dafür unbenutzte Stoffbeutel mit tollen Sprüchen in wunderschöne Kissenhüllen verwandelt, die jetzt meine Couch zieren .

„Neue Dinge aus alten Stoffen“ ist ein tolles Buch für alle umweltbewussten und an Nachhaltigkeit interessierten Nähbegeisterte und die, die es noch werden wollen.

Bewertung vom 08.11.2021
Rygiert, Beate

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher


ausgezeichnet

Geld oder Liebe

„Paris hatte mehr Charme, mehr Klasse und Eleganz … Das Ullstein-Haus allerdings stand in Berlin, und so etwas gab es sonst nirgendwo.“ (S. 8)
Ich muss zu gestehen, dass mir gar nicht bewusst war, dass der Ullstein Verlag früher ein jüdisches Familienunternehmen war. Beate Rygiert erzählt in ihrem Roman „Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher“ von den goldenen Zwanzigern in Berlin und von drei Frauen, die zu dieser Zeit eng mit dem Verlag verbunden sind. Vicky Baum ist ihre Vorzeigereporterin und schreibt sowohl für verschiedenen Zeitschriften und Journale des Hauses, als auch Bücher, die im Buchverlag erscheinen. Ihre Freundin Rosalie Gräfenberg ist freie Journalisten, die u.a. Reportagen für Ullstein schreibt, aber auch Interviews mit berühmten (politischen) Persönlichkeiten. Die dritte im Bunde ist Vickys Sekretärin Lily Blume, genannt Blümchen, die ihrer Chefin nacheifern will und große Ambitionen hat – sich aber noch nicht traut ... So unterschiedlich die drei Frauen auch sind, eint sie doch das Streben nach beruflichem Erfolg, Anerkennung – und der Liebe.
Vicky und ihr Mann, der berühmte Dirigent Richard Lert, führen eine Fernbeziehung, die Kinder leben bei ihm. Obwohl er regelmäßig fremdgeht, will sie sich nicht scheiden lassen – sie liebt ihn noch und er lässt ihr ja auch ihre Amüsements.
Rosalie ist geschieden und liebt ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Sie reist durch die ganze Welt und bildet sich von allem eine eigene Meinung, ist extrem wissbegierig und neugierig. Und sie hat eine Affäre, die unbedingt geheim bleiben soll. Doch dann begegnet sie Dr. Franz Ullstein, der, obwohl er so viel älter ist als sie, ihr Herz erobern kann. Aber seine Familie hat etwas gegen ihre Beziehung und boykottiert sie mit allen möglichen Mitteln. Gewinnt am Ende die Liebe oder das Geld?
Lili ist mit ihrer Jugendliebe Emil verlobt, der als Fotograf groß herauskommen will. Wenn sie könnten wie sie wöllten, wären sie längst verheiratet – aber sie haben weder Aussicht auf eine eigene Wohnung noch Emil auf eine feste Anstellung.

Sehr farbenfroh und unglaublich lebendig schildert die Beate Rygiert die damalige Zeit, vor allem natürlich die Künstler- und Kulturszene und wer mit wem ... Ich hatte beim Lesen das Gefühl, direkt dabei zu sein und den Protagonisten über die Schultern zu schauen. Besonders fasziniert hat mich u.a. die Teestunde im Boxstudio von Sabri Mahir. Aber natürlich klingt auch das Erstarken des Nationalsozialismus immer wieder durch. Es werden Straßenschlachten zwischen links und rechts geschildert und der zunehmende Judenhass. Nicht nur Vicky und Rosalie fragen sich immer öfter, wie sicher sie in Deutschland noch sind.

Ich fand das riesige Familienunternehmen Ullstein spannend, die verschiedenen Zeitungen, Journale und den Buchverlag, wie alles funktioniert hat und die verschiedenen Bereiche ineinandergriffen. Die Autorin geht auch auf die Streitereien innerhalb der Führungsebene ein, die nur aus männlichen Familienmitgliedern besteht. Aber natürlich mischen sich auch die Ullsteinfrauen immer wieder mehr oder weniger geschickt und (un)auffällig in das Tagesgeschehen der Firma und Familienangelegenheiten ein, schließlich muss man ja aufeinander aufpassen und will nicht zu kurz kommen – alles unter dem Deckmäntelchen, die Firma für die nächste Generation bewahren zu wollen.

Die Liebesgeschichte zwischen Rosalie und Franz beginnt sehr bezaubernd und witzig: „Sie und ich, wir sollten heiraten. … Sie sind die erste Frau, die mich nicht nach fünf Minuten langweilt. Und ich werde Ihnen Ihre Träume möglich machen.“ (S. 140). Er verspricht ihr die Sterne vom Himmel, eine moderne Ehe, die sie nicht einengen wird. Sie darf ihre Freiheiten und ihr Bankkonto behalten – das war damals nicht unbedingt üblich. Um so mehr taten sie mir leid, als die Grabenkämpfe mit der Familie losgingen. Die versuchen nämlich mit Einschüchterung, Bestechung, Bedrohung und haltlosen Beschuldigungen die beiden zu trennen

Bewertung vom 05.11.2021
D'Andrea, Marco

Modern Tea Time


ausgezeichnet

A Little Bit of Tea?

Wer mich kennt weiß, dass ich eine Affinität zu Koch- und Backbüchern habe und leidenschaftlich gern neue Rezepte ausprobiere. Auf der Frankfurter Buchmesse bin ich über „Modern Tea Time“ gestolpert und war schockverliebt. Darin stellt Marco D’Andrea, der Patissier des Jahres 2020, verschiedene süße und herzhafte Köstlichkeiten für die perfekte Tea Time vor. Aber es ist nicht nur ein Backbuch, sondern durch seine hochwertige Aufmachung und die extrem appetitanregenden Fotos schon fast ein Coffee Table Book. Ich habe inzwischen schon einige Rezepte ausprobiert, nehme das Buch aber auch gern in die Hand, um einfach nur darin zu blättern.

Mir gefällt besonders, dass es sowohl komplizierte als auch ganz einfache Rezepte gibt und dadurch jeder etwas finden sollte, was er sich traut nachzumachen – ganz nach dem Motto: kleiner Aufwand große Wirkung. Denn auch die einfachen Rezepte haben einen Kniff, die sie dann zu etwas besonderem machen.

Ich fand es interessant, auch einen kleinen Einblick in die Geschichte der TeaTime (ich dachte nämlich, die gibt’s schon viel länger) und einen Überblick über die Teesorten und -zubereitung sowie wichtige Backutensilien zu bekommen.

Bei den Rezepten wird dann ganz klassisch mit dem besten Scones-Rezept, was wir je ausprobiert haben, und verschiedenen Konfitüren, Curds und Aufstriche gestartet. Danach kommen kleine Köstlichkeiten wie Kekse oder ein New York Cheescake in der Schale (einfach, aber extrem lecker) und Macarons, gefolgt von sagenhaften Kuchen (z.T. in kleinen Förmchen, damit sie mit einem Haps gegessen sind und man noch etwas anderes probieren kann), Tartelettes und Torten.
Doch auch die unkomplizierten herzhaften Snacks wie Salate und die verschiedenen Tatar-Varianten machen Appetit.
Aber die Krönung sind die Sandwiches mit selbst gebackenem Brot. Das Vollkornsandwich mit Lachs war leider schneller gegessen, als die Kamera einsatzbereit war und gerade habe ich ein perfektes helles Toastbrot im Ofen.
Den Abschluss bilden dann verschiedene Eisvarianten und natürlich Drinks, wobei ein guter Gin-Tonic nicht fehlen darf ;-).

Falls ihr gemütliche Teestunden, Jane-Austen-Romane oder Serien wie Bridgerton mögt oder schon auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken seid, möchte ich Euch „Modern Tea Time“ ans Herz legen. Bereits beim Durchblättern des Buches entspannt man merklich und wenn man sich dann noch an die Rezepte wagt, steht einem gemütlichen Afternoon Tea nichts mehr im Weg.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2021
Hooper, Elise

Fast Girls


ausgezeichnet

Der lange Weg zum Ruhm

Amsterdam 1928: Betty Robinson ist erst 16, als sie bei den olympischen Spielen einen neuen Weltrekord im 100-m-Lauf aufstellt. Vergessen sind die Vorurteile, mit denen sie und ihre Eltern vorher konfrontiert wurden: „Machen Sie sich keine Sorgen, dass Ihre Tochter zu maskulin wird?“ (S. 8) Ihr Weg scheint vorbestimmt. Sie trainiert hart für die nächsten Olympischen Spiele, als das Gerücht umgeht, dass Frauen nicht mehr zugelassen werden sollen – wegen ihrer schwachen Konstitution! Doch dann hat sie einen schweren Unfall und alles scheint vorbei zu sein – lt. Aussage der Ärzte wird sie nie wieder gehen können …

Helen war schon immer anders. Sie ist größer als die Jungs in ihrem Alter, athletischer als die Mädchen, mit raumgreifenden Schritten und einer durch eine Halsverletzung rauen Stimme. Ihr fehlt jegliches Interesse an hübschen Kleidern und Frisuren. Sie wird ausgegrenzt und als Monster beschimpft. Aber sie läuft gern: „… sie musste rennen, musste den Luftzug um sich spüren … Sie brauchte die Bewegung, um sich von der Eintönigkeit und Langeweile zu befreien.“ (S. 24) Als sie von Bettys Erfolg liest, träumt sie von einer Teilnahme bei Olympia, hofft, dass ihr Vater sie dann endlich wahrnimmt und stolz auf sie ist.

Louises Lauftalent wird beim Basketball entdeckt. Sie ist eine der wenigen Afroamerikanerinnen in ihrer Stadt, geht alle Wege zu Fuß, rennt oft, denn „Sobald sie lief, verstummten ihre Gedanken, dann spürte sie nur noch das Feuer der Anstrengung. Es tat weh, doch genau das faszinierte sie am Laufen: diese feine Linie zwischen Schmerz, Loslassen und Nachgeben …“ (S. 27) Ihr Onkel war im Krieg in Europa und erzählt, dass es dort keine Rassentrennung gibt, er nicht ausgegrenzt wurde. Das wünscht sie sich für sich selbst. Vielleicht kann sie es durch den Sport schaffen?!

Elise Hooper erzählt in „Fast Girls“ am Beispiel dreier realer Amerikanerinnen von deren beeindruckendem Kampf, als Sportlerinnen wahr- und ernstgenommen zu werden. Sie beschreibt, wie sie sich gegen Vorurteile behaupten, von ihren Hoffnungen und Wünschen, Ängsten und Träumen, ihren intimsten Geheimnissen. Die Autorin schreibt sehr bildlich und fesselnd vom Konkurrenzkampf der Frauen untereinander, aber auch von ihrem Zusammenhalt, wenn es darum geht, zu Wettkämpfen zugelassen zu werden. Denn entgegen dem Klappentext geht es nicht nur um die Olympiade in Berlin, sondern vor allem um den langen und beschwerlichen Weg bis dahin.
Ich war erschüttert, wie sie teilweise behandelt worden. Die Frauen mussten oft bis kurz vor dem Start bangen, ob sie wirklich aufgestellt werden oder wieder nur Reserve sind. Sie durften kein Geld mit ihrem Sport verdienen, waren also auf Spenden, Stipendien oder einen Brotjob angewiesen. Und egal, wie sehr ihnen das alles zugesetzt hat, nach außen waren sie immer stark und haben sich nichts anmerken lassen. „Eines Tages werden sie uns Frauen nicht mehr aufhalten können.“ (S. 449)
Die afroamerikanischen Sportlerinnen hatten es besonders schwer, wurden bei Wettkämpfen oft einfach übergangen, obwohl sie besser als ihre weißen Konkurrentinnen waren und sich bereits qualifiziert hatten.

Die Bilder der Olympiade 1936 kenne ich von der Leni-Riefenstahl-Ausstellung in Potsdam, trotzdem hat Elise Hooper mir bis dato noch unbekannte spannende Fakten über Hitlers und Görings Umgang mit den Sportlern einfließen lassen. Besonders interessant fand ich die Schilderungen, wie Deutschlands politische Veränderungen in Amerika wahrgenommen wurden und die Olympioniken stellungnehmen und die Teilnahme verweigern sollten. Vielen ist da erst bewusst geworden, was die Nationalsozialisten bezwecken … „Seit wann hat Laufen was mit Politik zu tun?“ (S. 343) „Die Olympischen Spiele haben nur mit Politik zu tun.“ (S. 344)

Mich hat Elise Hoopers Buch nachhaltig beeindruckt. 5 Sterne und meine Leseempfehlung.

Bewertung vom 02.11.2021
Kruse, Tatjana

Schwund


ausgezeichnet

Zwei Models, ein Riese und ein Untoter

Mit „Willkommen in euren künftigen Alpträumen.“ (S. 13) begrüßt die Gerichtmedizinerin die Berliner Kommissare Fabian Messner und Sisu Demirkan in einer alten Fabrikhalle. Vor ihr liegt eine männliche Leiche, eindeutig nach dem Tod skalpiert, mit einem Kinderreim tätowiert und in Plastikfolie eingeschweißt. Natürlich kommen sofort Fragen auf. Wer macht sowas? Will sich hier das Opfer eines Pädophilen rächen? Doch noch während sie erste Vermutungen anstellen, tauchen die nächsten Leichen auf, alle auf die gleiche Art hergerichtet. Einem älteren Beamten fallen sofort die Parallelen zum Cold Case „Indianer“ ein. Vor 40 Jahren hat ein Täter seine Opfer auf genau die gleiche Weise präpariert. Er wurde zwar nie gefasst, aber da man damals von einem älteren Mann ausging, müsste er längst tot sein. Als dann auch noch bei einem der Toten Drogen auftauchen und zwei Banden einen brutalen Krieg anzetteln, werden schnelle Ergebnisse gefordert.

Tatjana Kruse hat sich wieder einmal selbst übertroffen. „Schwund“ zeichnet sich durch ein extrem schnelles Erzähltempo (die Leichen kommen gefühlt im Sekundentakt rein, man kommt kaum zum Luftholen, geschweige denn Nachdenken) und einen echt derben Humor aus.
Die Handlung ist im wahrsten Sinne des Wortes komplett abgefahren! Das Ermittlerteam rast quer durch Deutschland von einem Leichenfundort zum nächsten, ohne dass man das Gefühl hat, dass sie dem Täter oder seinen Motiven dabei auch endlich mal näherkommen. Wie sagt einer der Beteiligten so schön: „… wenn die Fabrik in Berlin nicht dabei wäre, könnte man glatt meinen, die Mörder machen eine Rundtour zu den schönsten Ausflugszielen Deutschlands.“ (S. 110/111)

Auch die Protagonisten sind total überzeichnet, abgedreht und voller Klischees. Ihre Vorgesetzen bezeichnen sie nicht umsonst als „zwei Models, ein Riese und ein Untoter“. Die Berliner Kommissare Fabian und Sisu sind einfach zu schön und durchtrainiert, um wahr zu sein. Sie sind sehr taff (vor allem Sisu schreckt auch vor Gewalteinsatz nicht zurück) und promiskuitiv. Nur ist Fabian leider nicht die hellste Kerze am Baum und wird bei Toten immer etwas grün im Gesicht …
Der Riese, Kommissar Schröder aus Hamburg, ist ein richtiger Schrank, der angeblich aus Blutzuckergründen dauernd (fr)isst und dabei alles vollkrümelt (auch Tatorte!). Und der blutleere Drogenexperte Fassbinder sieht aus, als sei er gerade einer Gruft entstiegen.
Dazu kommt noch Dezernatsleiter Kinski, der sich mit dem Fall profilieren will und sich deswegen bei der Aufklärung auf Schritt und Tritt vorn einem professionellen Fotografen oder Kamerateam begleiten lässt, um Material für seine Imagekampagne zu sammeln.

Eine kleine Warnung: „Schwund“ ist nichts für schwache Mägen! Auch wenn am Ende alles ganz anders ist als gedacht, fliegen einem hier die Leichen(teile) um die Ohren und man könnte in einem Lachflash hängen bleiben ;-) …

Bewertung vom 30.10.2021
Nielsen, Maiken

Ein neuer Horizont


ausgezeichnet

Nicht die Flügel hängen lassen, Nell

… sagt ihre Zwillingsschwester Laura immer zu ihr – auch noch in Nellies Gedanken, als Laura längst tot ist. Und als Kriegsreporterin im Koreakrieg gibt es viele Situationen, in denen sie die imaginäre Aufmunterung braucht. Nellie ist die einzige Frau dort, muss sich immer wieder in dieser Männerdomäne und gegen die Anfeindungen ihrer Kollegen und Vorgesetzten durchsetzen. Einer streut sogar das Gerücht, sie sei eine russische Spionin …
Es wird etwas leichter, als sie den Fotografe Jake wiedertrifft. Sie haben sich vor 4 Jahren kennengelernt und verliebt. Aber hat ihre Liebe im Krieg überhaupt eine Chance? Und können sie mit ihrer jeweiligen Vergangenheit abschließen? Denn nicht nur Nellie hat einen schweren Verlust erlitten, auch Jake hat seine Erlebnisse im 2. WK noch nicht verarbeitet …

Maike Nielsen schreibt sehr eindringlich und poetisch über eine Zwillingsbeziehung und den Krieg.
Nellie und Laura haben ein extrem inniges Verhältnis. Sie sind auf dem Wasser aufgewachsen, weil ihr Vater Kapitän war, auf engstem Raum mit nur wenigen Menschen, aber gleichzeitig zwischen den verschiedensten Kulturen, Welten und Sprachen. Sie sind echte Kosmopoliten und Nellie ist prädestiniert für den Job als Journalistin.
Nellie hat mir echten Respekt abgerungen. Sie ist so mutig, furchtlos, taff und empathisch – man kann sich nur schwer vorstellen, dass ihre Zwillingsschwester Laura früher die Anführerin war. Sie kämpft immer wieder ihre Ängste nieder und bringt die Menschen zum Erzählen. Und sie geht weiter als ihre männlichen Kollegen, fliegt bei Kampfeinsätzen mit, überlebt Flugzeugabstürze, Schiffsunglücke und Raketenbeschuss, versucht mitten im Krieg nach Nordkorea zu gelangen. Sie legt sich mit ihren Vorgesetzten in der Redaktion und vor Ort an, weil sie die Wahrheit schreiben will, vor allem über den Einsatz von Napalm, der lange geleugnet wird. „Ich will darüber schreiben, weil es falsch ist. Es kann nur aufhören, wenn die Öffentlichkeit davon weiß.“ (S. 369) Oft ist ihr gar nicht bewusst, wie sehr sie damit die Menschen ihrer Zeit bewegt und beeindruckt. „Sie sind ein vorlautes, kleines Ding! Und Sie schreiben verdammt gut für eine Frau …“ (S. 75)
Aber ich hatte auch das Gefühl, dass sie glaubt, für ihre Schwester mit leben und sterben zu müssen, damit sie endlich wieder vereint sind – obwohl sie deren Tod lange leugnet und überzeugt ist, dass Laura noch lebt.

Auch Jakes seelische und körperliche Wunden aus dem 2. WK sind noch nicht verheilt, werden es vielleicht nie. Als er für einen Auftrag nach Berlin geschickt wird, erkennt er die Stadt kaum wieder und muss sich damit auseinandersetzen, was ihm und seiner Familie passiert ist. „Vorsichtig, um nicht einzubrechen, machte er sich auf den Weg über diese geborstene Kindheit, und mit jedem Schritt, den er über alte Fundamente und verbogene Fensterrahmen tat, wurde seine Taubheit kleiner.“ (S. 120) Ich liebe die Formulierungen, die Maike Nielsen verwendet, die Bilder, die sie mit ihren Worten malt.
Sie zeigt die Parallelen zwischen dem geteilten Berlin bzw. Deutschland und dem geteilten Korea – Ost gegen West, Nord gegen Süd, Sozialismus gegen Kapitalismus, aber auch eine Welt im Umbruch, an der Schwelle zum nächsten Weltkrieg, wenn die nächste Atombombe gezündet werden sollte ....
„Ein neuer Horizont“ erzählt sehr eindringlich und poetisch vom Schicksal einer Reporterin im Koreakrieg, rüttelt wach und macht die Grausamkeit des Krieges deutlich „Krieg ist für mich die größte Niederlage des menschlichen Geistes.“ (S. 109).

Bewertung vom 27.10.2021
Günther, Ralf

Arzt der Hoffnung


gut

Wasserkunst

Medizinalrat Dr. Robert Koch ist mit seiner Verlobten Hedwig im Urlaub auf Sylt, als ihn der Ruf des Kaisers zuerst nach Berlin zurück- und dann nach Hamburg beordert. Dort ist eine Seuche ausgebrochen, die vertuscht werden soll. Alles deutet auf Cholera hin. Der Kaiser erwartet von ihm schnelle Ergebnisse und er denkt, dass er die auch liefern kann: „Was soll‘s, es ist nicht meine erste Choleraepidemie. Schlimmer als in Kalkutta kann es in Hamburg doch nicht werden.“ (S. 42). Aber die Situation gerät immer mehr außer Kontrolle. Es sterben jeden Tag hunderte Menschen, die Neuinfektionsrate ist doppelt so hoch.
Hedwig, die Koch auf Sylt in Sicherheit zurückgelassen hatte, gelangt mit dem letzten Schiff heimlich doch nach Hamburg und setzt durch, dass sie im Eppendorfer Krankenhaus als Hilfsschwester helfen darf. Ihre Erlebnisse hält sie in ungewöhnlich ausdrucksstarken und realistischen Skizzen fest.

Die Parallelen, die man während des Lesens vom „Arzt der Hoffnung“ zu unserer Corona-Zeit ziehen kann, sind erschreckend. „Solange wir uns noch die Hände schütteln, haben wir den Ernst der Lage nicht erkannt.“ (S. 115) Es ist nicht klar, woher das Bakterium stammt und wie es sich so rasend schnell verbreiteten kann. Kochs Hygiene-Anweisungen für die Bevölkerung werden nicht weitergegeben oder ignoriert – kurz, er führt einen Kampf gegen Windmühlen, muss um jede Unterstützung oder Anerkennung kämpfen. Außerdem ist der Senat überzeugt, ihn nicht zu brauchen und die Situation allein bewältigen zu können. Man will nicht vom Kaiser abhängig sein oder bevormundet werden, schließlich ist Hamburg autonom. Zudem wird ihm immer wieder seine Beziehung zu Hedwig vorgeworfen – er ist fast 50 und lässt sich wegen ihr, die erst 17 ist, scheiden – ein Skandal!

Ralf Günther beschreibt Kochs Kampf sehr anschaulich, die unzureichende Aufklärung der Bevölkerung, die Irrglauben zum Übertragungsweg und den Aberglauben bei der Behandlung. Ergänzt wird die Handlung durch Einzelschicksale und Augenzeugenberichte. Auch die Kompetenzgerangel zwischen Senat, Arzt und Kaiser werden angesprochen.
Leider liest es sich für mich über weite Strecken wie ein detailverliebtes Sachbuch, eine Aneinanderreihung von Episode. Denn während andere Ärzte direkt am Patienten arbeiten und neue Heilmethoden ausprobieren, sitzt Koch in Beratungen, streitet mit dem Senat und fährt mit der Kutsche durch die Gegend, um Wasserproben. zu sammeln.
Einzig seine Verlobte Hedwig bringt eine persönliche Note in die Handlung. Sie scheint eine sehr willens- und durchsetzungsstarke Persönlichkeit gewesen zu sein, die sich auch für die einfachsten Arbeiten nicht zu schade ist. Mir hat gefallen, dass sie sich ihm nicht unterordnet, nicht die perfekte Hausfrau ist wie seine erste Frau, sondern als gleichwertige Partnerin wahrgenommen werden möchte. Auch sind ihre medizinischen Ansichten deutlich moderner als seine – sie muss ihm die Erkenntnisse seiner jungen Kollegen immer wieder ans Herz legen. „Wir dürfen die einfachen Wege nicht verschmähen, nur weil sie einfach sind.“ (S. 186)

Bewertung vom 24.10.2021
Beer, Alex

Der letzte Tod / August Emmerich Bd.5 (6 Audio-CDs)


ausgezeichnet

Leonidas, der Eroberer

„Erschießen, erschlagen, erdrosseln, ertränken. Ich hab schon so gut wie alles erlebt, aber jemanden in einen Tresor zu stopfen und ihn dort krepieren zu lassen …“ Selbst Kriminalinspektor August Emmerich ist entsetzt, als eine mumifizierte Leiche in einem Tresor gefunden wird. Wenigstens ist der Tote gut erhalten und sie können ihn bald identifizieren – allerdings wird die Suche nach dem Täter deswegen nicht einfacher. Erschwerend kommt hinzu, dass Emmerichs Vorgesetzter ihm Schandor Adler zur Seite stellt, einen Psychoanalytiker. „Ich erforsche das Böse im Menschen und muss zu diesem Zweck mehr über Mörder und ihre Taten erfahren. Ich muss einen Weg finden, um tiefer in die Seele von Verbrechern einzutauchen ...“ Adler ist überzeugt, dass der Täter nicht zum ersten Mal gemordet hat und es weitere Opfer geben muss – doch niemand glaubt ihm …

Aber nicht nur Adler erschwert Emmerich das Leben. Er kommt nicht über Luises Tod hinweg und sein jüngster Stiefsohn hat große Probleme. Außerdem muss er endlich reinen Tisch machen und sich mit seinem Vater auseinandersetzen. Als ihn dann auch noch ein alter Feind umbringen will und er private Ermittlungen anstellt, stößt er auf weitere potentielle Opfer des Tresor-Mörders. Sollte Adler etwa wirklich Recht haben und ihnen rennt die Zeit davon?! Erstmals ermittelt Emmerich über Landes- und Staatsgrenzen hinaus zusammen mit anderen Ermittlungsbehörden und stellt so die Weichen für die Zukunft der Polizeiarbeit.

Zusätzlich leidet Emmerich wie fast die gesamte Bevölkerung unter der Hyperinflation. Immer mehr Menschen wissen nicht mehr weiter, die Selbstmordrate steigt. Mir hat diese Integration der historischen Bezüge in die Krimi-Handlung sehr gut gefallen, weil sie dadurch noch lebendiger und nachvollziehbarer wird.

Auch Emmerichs 5. Fall hat mich in Atem gehalten. Zusammen mit seinem Mitarbeiter Ferdinand Winter und dem Psychoanalytiker ermittelt er einige Verdächtige, kann ihnen aber nichts nachweisen. Dabei liefert er sich amüsante Wortgefechte mit Adler „Psychoanalyse ist etwas für reiche Leute, die es nicht nötig haben. Und die es nötig hätten, können sie sich nicht leisten.“ und versucht ihn aus dem Fall zu drängen. Zum Glück sieht er irgendwann ein, dass der ihm wirklich helfen kann und überredet ihn, Zeugen zu hypnotisieren um verschüttet Erinnerungen zurückzuholen. Es sind diese Details, die die Krimireihe so spannend und besonders machen.

Alex Beer wechselt beim Erzählen immer wieder die Perspektive, lässt den Mörder, die Opfer und die Jäger abwechselnd zu Wort kommen. Man spürt die Angst der Opfer, die Enge, in der sie gefangen sind, die absolute Dunkelheit – ich habe mich ganz schön gegruselt. Aber auf eine gewisse Weise kann man mit der Zeit auch den Täter verstehen, begreift, was ihn zu antreibt und warum er so geworden ist, seine psychologischen Hintergründe.
Als Hörer bzw. Leser könnte dem Täter also eigentlich schon eher auf die Schliche kommen, aber mir ist das entscheidende Detail erst am Ende wieder ein- bzw. aufgefallen – sehr raffiniert gelöst!

Besonders gefallen hat mir übrigens auch der letzte Satz: „Diese Geschichte war noch nicht abgeschlossen!“ – verspricht er doch, dass die Reihe weitergeht …

Bewertung vom 19.10.2021
Anour, René

Goldene Rache / Die Totenärztin Bd.2


ausgezeichnet

Wo ist Tilde?

„Ich hätte ihn töten können. Als er bewusstlos vor mir lag … Er war wehrlos. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen. Hätte ich es doch nur getan.“ (S. 17) Fanny kommt einfach nicht darüber hinweg, dass sie ihren Gegenspieler überleben ließ und er ihre beste Freundin Tilde entführt (und getötet?) hat. Als sie ihn deswegen anzeigt, glaubt ihr die Polizei nicht. Doch damit nicht genug, ihr Gegner erpresst sie auch noch, sich bestimmte Leichen bei der Obduktion ganz genau anzusehen und ihm Bericht zu erstatten, sonst würde er ihrer Familie etwas antun oder Max, in den sie verliebt ist …

Eigentlich hatte Fanny gehofft, dass alles überstanden ist. Sie ist endlich Jungassistentin der Gerichtsmedizin und nicht mehr nur Prosekturgehilfin, darf offiziell obduzieren, auch wenn nur einer der Ärzte sie als vollwertige Kollegin ansieht. Und vielleicht wird aus Max und ihr jetzt ein Paar. Doch mit Tildes Entführung geht alles von vorn los. Fanny hat den Kopf nicht frei für die Liebe und das Gefühl, nicht glücklich sein zu dürfen.
Und wieder landen Leichen auf ihrem Tisch, bei denen sie ungewöhnliche Dinge entdeckt und die jeweils eine Botschaft an sie haben. Hat ihr Erpresser etwa einen mächtigen Gegenspieler? Soll sie sich mit diesem verbünden um Tilde zu finden und ihren Erpresser loszuwerden? Oder gerät sie dann zwischen die Fronten?

„Goldene Rache“ ist der zweite Teil der Reihe mit Fanny Goldmann und obwohl der erste erst vor wenigen Monaten erschienen ist, habe ich ihn sehnsüchtig erwartet, denn „Wiener Blut“ endete mit einem fiesen Cliffhanger. Die Fortsetzung geht genauso spannend und gruselig weiter, wie der erste endet. Man kommt beim Lesen kaum zum Luftholen, weil René Anour so raffiniert mit den Erwartungen spielt und immer wieder neue überraschende Wendungen präsentiert. Dabei hält er das Tempo extrem hoch. Geschickt lässt er Medizingeschichte, Obduktionstechniken und technische Geräte bzw. Hilfsmittel in die Handlung einfließen und schafft es, diese dadurch noch interessanter zu machen.

Fanny ist unglücklich, verzweifelt, getrieben und will ihren Gegner so schnell wie möglich zur Strecke bringen. Außerdem glaubt immer wieder, Tilde zu sehen und zweifelt an ihrem Verstand. Doch im Institut lässt sie sich nichts anmerken und ihren Charme spielen, macht Druck, um ihre Ziele zu erreichen und ihre Stellung zu festigen. Nur bei ihrem Gegenspieler scheitert sie immer wieder. Er macht sich über sie lustig, verhöhnt sie, spielt mit ihr und ihren Gefühlen. „Totenärztin hin oder her. Sie bleiben ein zartes Seelchen, Fanny …“ (S. 201)

Auch Gustav Klimt spielt wieder eine große Rolle. Diesmal geht es um die Entstehung seines Gemäldes „Der Kuss“, welches das Interesse von Fannys Erpresser weckt.
Und natürlich darf Fannys übergriffige Tante nicht fehlen. Sie ist sogar noch schlimmer als beim letzten Mal. Ich frage mich ernsthaft, wie Fanny sie aushält – schließlich kennt sie nicht nur eine Methode, um unliebsame Menschen unauffällig loszuwerden …

Ich fände es schade, wenn Fannys kriminalistische Abenteuer wirklich mit dieser Dilogie abgeschlossen wären und würde mir noch viele weitere Bände wünschen!