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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 267 Bewertungen
Bewertung vom 08.05.2025
Strausfeld, Michi

Die Kaiserin von Galapagos


ausgezeichnet

Eine schier wunderbar erschlagende Fülle von Informationen über deutschsprachige Helden und Antihelden in Lateinamerika!

Dieses Buch ist ein Sammelsurium, ein wahres Wunderwerk an ausgewählten deutschsprachigen Menschen (DE, A CH), die sich seit 1492 in Mittel- und Südamerika einen Namen gemacht haben. Im Guten wie im Schlechten. Man wird dabei beinahe schwindlig von der Fülle an Informationen, die die Autorin in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen hat.
Das Glossar zählt ca. 620 Personen, die auf den 236 Seiten erwähnt werden.

Zunächst war Lateinamerika fest in der Hand der spanischen Kolonialmächte. Schon kurze Zeit nach Kolumbus verfügten die Konquistadoren ein gut ausgebautes Netz, um ja niemanden von der restlichen Welt an den immensen Schätzen der Neuen Welt teilhaben zu lassen. Dass dabei die indigene Bevölkerung ausgebeutet, gemordet, verschleppt und versklavt wurde, sollte hinreichend bekannt sein und diesen praktizieren Wahnsinn nur unterstreichen.
Mit der Zeit wurden die Einreise- und Handelsbestimmungen etwas gelockert, und viele Abenteurer, Künstler und Forscher bereisten den Kontinent – und natürlich zog es auch jene Menschen an, die nur schnelles Geld wollten, oder einfach auf der Flucht waren – vor allem die jüdische Bevölkerung Europas. Und dann gab es noch die Nazis, die ebenfalls meinten, Lateinamerika unterjochen zu können, was ihnen in Teilen sogar gelang. Sie dachten, sie könnten sich schon vor dem Krieg mit Paraguay eine faschistische Enklave sichern, was auch gebietsweise gelang.

Geprägt wurde der ganze Kontinent von Unterdrückung und Ausbeutung, mehr oder weniger bis heute hinein. Reich an Bodenschätzen, sind es heute China und Russland, die sich holen was zu holen ist, denn Europa hat den Kontinent anscheinend wirtschaftlich vergessen.
Und kaum waren die einzelnen Staaten unabhängig, gab es auch schon die ersten Revolten, Bürgerkriege und Diktaturen.
In den ersten drei Jahrhunderten nach der Entdeckung zog es vor allem, neben den zerstörerischen Spaniern und Portugiesen, Historiker und Naturforscher auf den unbekannten Kontinent. Und auch hier fand im Prinzip nur eine Ausbeutung der Kulturen statt.
Hunderttausende von Artefakten, den Indigenen entrissen oder aus Gräbern geraubt, tummeln und verstauben nun in europäischen Museen. Ein unermesslicher Reichtum – dazu noch das ganze Gold, das den Kontinent verlassen hatte.
Es gibt natürlich auch sehr viele wohlgesonnene Forscher. Allen voran ist natürlich Alexander von Humboldt zu nennen, der in Lateinamerika fast wie ein Heiliger verehrt wurde und noch immer wird. Oder Moritz Rugendas, ein Augsburger Künstler, über dessen Leben auch @mariegatestallforth in ihrem wunderbaren Buch „Mirador“ erzählt. Auch Prinzessin Therese von Bayern (1850-1925) hinterließ wohlwollende Spuren auf dem Kontinent. Eine weitere Frau, Maria Sibylla Merian (1647-1717) machte sich sogar schon vor Humboldt mit ihren Pflanzen- und Insektenstudien einen Namen.
Die titelgebende Geschichte der Kaiserin von Galapagos ist keineswegs eine Metapher, sondern die gab es wirklich. Eine nicht gerade rühmliche Geschichte, denn auf einer paradiesischen, abgelegenen Insel war es nicht mal einem Aussteigerpaar vergönnt, alleine in Ruhe und Frieden zu leben. Für den Horror bedurfte es nur zwei weiterer Personen. Geschehen 1929-1934, mittlerweile in Büchern, Dokus, Theaterstücken und sogar Verfilmungen (neueste: Eden) ausgiebig erzählt.
Neben all den vielen deutschsprachigen Personen, um die es in diesem Buch geht (mit dabei natürlich auch sehr viele namhafte Schriftsteller), ist der Band aber auch nebenbei eine akribische Auflistung des geschichtlichen Zeitrahmens und der politischen Entwicklung der einzelnen Länder. Dabei wird auch nicht mit Gesellschaftskritik gespart, denn aus all den Fehlern und Gräuel, die gemacht wurden, scheint die Welt nicht viel gelernt zu haben.

Von mir gibt es eine ganz große Leseempfehlung für dieses Werk mit seinem geballten Wissen. Riesenrespekt vor der Arbeit, die dahinter steckt!

Bewertung vom 04.05.2025
Kettu, Katja

Forschungen einer Katze


ausgezeichnet

Ein gekonnter, wunderbar erzählter Streifzug durch die finnische Geschichte, gepaart mit Magischem Realismus, kritisch, liebevoll, mit der richtigen Dosis Sarkasmus und Humor.

Es gibt ein Amt für himmlisches Forschen, das laufend die aufgefangenen Seelen zurück zur Erde schickt, in den verschiedensten Arten der Wiedergeburt. Vom Einzeller bis zum höchstentwickelten Leben ist da alles drinnen. Diese Seelen werden meistens als Beistand den Menschen zu geteilt, aber nicht immer. Denn der Hauptgrund ist, zu beobachten und zu berichten.
So kehrt eine vielmals wiedergeborene Seele mit großem Erfahrungsschatz zurück, diesmal als Katze. Sie soll einer Schriftstellerin Beistand leisten, ein wenig auf sie aufpassen, und dann ihren Bericht schreiben. Denn die Frau musste schlimme Demütigungen erleiden, und zudem auch noch eine Fehlgeburt. Sie versinkt in ein Loch, kann daraufhin weder sprechen noch schreiben.
Doch beim Transfer aus den himmlischen Gefilden läuft etwas nicht ganz rund, und die Katze landet ein Jahrhundert zu früh im unwirtlichen Norden von Finnland in den Armen des Verdingmädchens Eeva. Auch sie hat ein schweres Los zu ertragen, ganz auf sich alleine gestellt in der rauen Welt, ohne Familie als Rückendeckung. Sie verguckt sich auf dem Markt in Mahte – einem einfühlsamen, ruhigen jungen Mann, der flussaufwärts an der Grenze zu Russland auf einer Insel wohnt. Auch er hat für die Zukunft nichts zu erwarten, außer ein kleines Stück Land auf der Insel mit sonst nichts. Dennoch, Eeva heiratete ihn, gegen die massiven Widerstände seiner Familie. Sound like a match in heaven. Aber die bösen Menschen, sie streiten und bekriegen sich fortlaufend. Die Russen sind da, die Deutschen, Faschisten und all die Mitläufer. Der zuerst hoffnungsvoll erscheinende Stalin entpuppt sich sehr schnell zum Monster das er war. Erster, zweiter Weltkrieg, die Nazis, dazwischen die Aufstände, Revolutionen und Bürgerkriege. All das übersteht das Paar mit großen Entbehrungen, aber die Liebe zueinander ist der beste Kitt, den man sich denken kann.
Und wer jetzt fragt, was haben die Katze und die Schriftstellerin damit zu tun. Nun, die Katze ist die Erzählerin der Geschichte.

Und manchmal, da klappt auch die ursprüngliche Bestimmung, und sie ist dann tatsächlich bei der Frau, die Sprechen und Schreiben verlernt hat. Sie hilft, und … ja, irgendwann werden dann die Verbindungen enthüllt, und es erfolgt ein hin- und herschwappen in der Geschichte. Und das sehr gekonnt.
Die Autorin erzählt uns in wunderbaren Bildern, grandios von Tanja Küddelsmann übersetzt, die geschichtliche Entwicklung Finnlands der ersten fünfzig bis sechzig Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Katze, wie erwähnt, erzählt. Aber nicht nur. Auch Eeva und die Schriftstellerin kommen kapitelweise zu Wort und berichten von sich.
Sprachlich eine Wucht und sehr unterhaltsam, mit einer guten Prise Sarkasmus und Humor, werden hier historischer Roman und magischer Realismus zusammengeführt. Die sehr laute Kritik an den großen Dummheiten der Menschen ist dabei äußerst angebracht.

S.10: „Seht doch nur, was gerade mit der Erde los ist. Sie leidet und geht vor die Hunde, und das nur wegen dieser einen vermehrungswütigen, dummen, aufbrausenden Spezies. Der Mensch ist ein lächerliches Etwas, ein unnatürlicher Parasit, Gottes vollkommen entbehrliche Ruhetagserfindung, die aus irgendeinem Grund aus den Radiowellen des Universums nichts als Kummer und Disharmonie verursacht.“

S. 140: „Müssen sich denn alle anderen Lebewesen vor ihm verkriechen und sich unterwerfen?“

Zehn von fünf möglichen Sternen und somit eine große Leseempfehlung für diesen ausnehmend guten, unterhaltsamen wie lehrreich und kritischen Roman der finnischen Autorin.

Bewertung vom 27.04.2025
Bradley, Kaliane

Das Ministerium der Zeit (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Interessant konstruierter Roman über Zeitreisen und deren gesellschaftlichen Konflikte

Auf Grundlage einer verschollenen Arktis-Expedition, die 1845 startete, um die Nordwestpassage zu finden, hat die Autorin einen fiktiven Roman geschaffen. Hauptprotagonist ist der Expeditionsteilnehmer Graham Gore – eine reale Person, über die es kaum historische Aufzeichnungen gibt.
Dem sicheren Tod entrissen, sieht er sich in unserer Zeit wieder. Er wurde mittels einer Zeitmaschine in unsere Gegenwart katapultiert, zusammen mit anderen Personen aus anderen Jahrhunderten, bis zurück ins Jahr 1615.
Es ist ein geheimes Projekt der britischen Regierung. Jeder Person wird eine persönliche „Brücke“ in Form einer Regierungsangestellt:in beigestellt, die ab sofort zusammen leben. Aufgabe der „Brücke“ ist es vornehmlich, die Zeitreisenden in die neue Welt einzuführen – und natürlich rund um die Uhr zu überwachen. Im Falle von Gore ist es die Ich-Erzählerin Eleanor, eine junge Britin, mit Kambodschanischen Wurzeln. Als sie den Job (der eingeht mit einer Verdreifachung ihres Gehalts) annimmt, weiß sie noch nicht, was auf sie zukommt. Hier wird für mich (etwas unglaubwürdig) eine Person mit schwachem Durchsetzungsvermögen auf ein ranghohes ehemaliges Mitglied der Britischen Marine mit antiquierten Vorstellungen losgelassen.
Auch wenn es meist sehr harmonisch zugeht, Gore sich anzupassen versucht, ein Musterbeispiel an britischer Biederkeit der präviktorianischen Gesellschaft zu sein scheint, hat er so seine Schwierigkeiten damit, mit einer unverheirateten Frau zusammen zu wohnen.
Die anderen Expatriats (so werden die Entführten genannt) haben ebenfalls so ihre Anpassungsprobleme. Verständlicherweise.
Aber es geht in diesem Roman um sehr viel mehr. Es sind nicht nur die neuen technischen Errungenschaften und Lebensweisen, wie die Stellung der Frau in der heutigen Gesellschaft versus der vergangenen Jahrhunderte. Auch die Ethnien (v.a. People of Color, Ethnische Vermischungen (sehr schwierig das richtig zu beschreiben!) wie im Falle von Eleanor) wurden damals anders behandelt als heute (obwohl sich da nicht wirklich viel Positives getan hat im Laufe der Zeit).
Was die ganze Zeit im Hintergrund schlummert ist der Grund dieses Experiments, Menschen kurz vor ihrem Tod und Verschwinden von deren Zeitlinie ungefragt in die Zukunft zu verfrachten. Nur sehr allmählich poppen die Antworten auf die Fragen auf, die man sich beim Lesen stellt. So wird zwar ein gewisser Spannungsbogen aufrechterhalten, wird aber meines Erachtens nicht befriedigend gelöst.
Der Roman ist dennoch sehr interessant konstruiert. Dabei geht es sehr wenig um das technische Brimborium, als um zwischenmenschliche Aspekte. Und davon gibt es für meinen Geschmack wiederum zu viel. Die Einarbeitung unserer gesellschaftlichen Probleme wie Flüchtlinge, Kriege, Rassismus und der drohende Kollaps durch den Klimawandel sind hingegen sehr gut gelungen. Und so sehe ich dieses Buch mehr als Fingerzeig im zwischenmenschlichen Umgang, und in unserem verantwortungsvollen Gebaren der Natur gegenüber, denn als eine rasante Science-Fiction Geschichte. Diese tritt tatsächlich in den Hintergrund und kann bestenfalls als Beiwerk oder Story-Aufhänger betrachtet werden.
Nichts desto trotz habe ich das Buch trotz den gewissen kleinen Mängel gerne gelesen und finde, 4 Sterne kann man dafür getrost vergeben.

Bewertung vom 16.04.2025
Lahens, Yanick

Mondbad


ausgezeichnet

Intensiv wie ein Geschichtsbuch, spannend wie ein Krimi, weich wie ein Gedichtband, hart wie die Realität.

Bereits 2014 im französischen Original erschienen, wurde dieser preisgekrönte Roman (Prix Femina) der Haitianischen Autorin nun mit einem grandiosen Sprachgefühl ins Deutsche übersetzt.
Sie beschreibt auf den 200 Seiten eine Familiensaga über einhundert Jahren, wie sie typischer für das gebeutelte Land nicht sein kann.
Auf der einen Seite sind die reichen Landbesitzer. Skrupellos und brutal, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, nehmen sie sich, was sie wollen. Häuser, Ländereien, Frauen, Mädchen, Leben. In diesem Fall ist es die Familie Mésidor, ständig auf der Suche nach noch mehr Macht. Auf der anderen Seite die weitverzweigte Großfamilie Lafleur, die Tag für Tag versucht, genug zum Essen und zum Leben zu ergattern. Die Lafleurs hatten einst Land, doch das fiel vor langer Zeit den Mésidors in die Hand. Seitdem kämpfen sie sich durch. Als die Militärs das Land übernehmen, ändert sich nicht viel. Trotz der Hoffnungen der armen Landbevölkerung. Arme wie Reiche sind an der Teilnahme beim Regime nicht abgeneigt, um ihr Stück am Kuchen zu ergattern. Die einen machen es, um es den Landbesitzern „mal so richtig zu zeigen“ und vielleicht aus dem Elend ausbrechen zu können, die anderen tun es in der Hoffnung, noch mehr Macht und Besitz zu ergattern. In beiden Fällen geht der Schuss nach hinten los.
Die Autorin zeichnet hier ein markantes Sittenbild des ländlich geprägten Haitis. Die Kluft zwischen arm und reich bleibt immer bestehen, auch wenn sich die Grenzen manchmal in die eine oder andere Richtung verschieben. Das Leben der Landbevölkerung ist stark geprägt von der Voodoo–Religion mit all ihren Geistern, Göttern und Geschichten (sehr interessante Einblicke, und Voodoo ist keinesfalls das Klischee von Puppen mit Nadeln drinnen). Doch auch die Lehren (und Hartnäckigkeit) des Christentums fließen mit ein. Man pickt sich heraus, was gerade am Nützlichsten erscheint.

S.17: „Ein Wechselspiel, das uns alle mit den Mésidors verband und sie, wider Willen, an uns kettete. Ein Wechselspiel, das wir, Sieger wie Gefangene, seit langer Zeit meisterlich beherrschten. […] Nur eine Geschichte der Menschen aus der Zeit, da die Götter noch nicht fern sind … Da Meer und Wind ihre Namen aus Schaum, Feuer, Staub noch leise hauchen oder auch laut hinausschreien.“

In klaren, und auch immer wieder sehr poetischen Worten, wird uns dieses Gesellschaftsbild nahe gebracht. Die Sprache ist intensiv wie ein Geschichtsbuch, oftmals spannend wie ein Krimi, weich wie ein Gedichtband und dennoch hart wie die Realität.
Wenn man mit einem offenen Geist in die Seiten eintaucht, erlebt man ein Gefühl für das Land, ohne es bereisen zu müssen. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 11.04.2025
Ogawa, Ito

Hatokos wunderbarer Schreibwarenladen


ausgezeichnet

Still, leise. Mit Tiefgang. Ein feiner Wohlfühlroman um die Tageshektik zu entschleunigen.

Der Titel mag etwas abgedroschen klingen, aber das Buch entpuppt sich von Anfang an zu einem feinen, stillen Wohlfühlroman. Gerade die richtige Ablenkung in dieser hektischen Zeit voll von alltäglichen politischen Horrormeldungen. Es sind ruhige Episoden aus Hatokos neuem Leben, angefüllt mit Herzlichkeiten und guten Dingen. Ich würde sagen typisch japanisch. Die Leser*innen werden dabei gut unterhalten mit der traditionellen Höflichkeit und Zurückhaltung, Fremde nicht mit Problemen zu belasten.
Um was geht es: Hatoko kommt nach dem Tod ihrer Großmutter zurück nach Kamakura und übernimmt deren Schreibwarenladen. Sie ist damals im Streit davongelaufen, hatte jeglichen Kontakt abgebrochen, da ihre Großmutter meinte, Zuneigung könne man nur durch eine sehr strenge Erziehung beweisen.
Dennoch, ihre „Vorgängerin“, wie sie von Hatoko meistens genannt wurde, gab ihr eine wertvolle Gabe mit: die hohe Kunst der Kalligraphie und die Befähigung, für andere im Auftrag Briefe zu verfassen. Und das ist es, um was es hauptsächlich im Roman geht. Es kommen die unterschiedlichsten Menschen zu ihr mit der Bitte, einen Brief zu schreiben. Die Gründe sind sehr verschieden – von Dankesschreiben bis zum Trennungsbrief ist alles dabei. Wichtig hierfür ist, das richtige Papier zu wählen, und auch das für die Situation passende Schreibutensil.
Rund um diese „Jobs“ begleiten wir Hatoko natürlich auf ihren privaten Pfaden, treffen liebevolle Nachbarinnen, einen Baron, und andere gute Freunde. Und so ganz nebenbei erfährt unsere Protagonistin auch etwas über ihre Vergangenheit …
Klingt langweilig? Nein, denn die Art und Weise wie Ito Ogawa diese Geschichten schreibt ist alles andere als kitschig. Mit einer sanften Feder (für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hatte) leitet sie uns durch die Seiten, lässt einen dabei zurücklehnen und dahinschweben.
Für mich ist das ganz große Erzählkunst und somit gebe ich hier sehr gerne eine absolute Leseempfehlung – Entschleunigung ist das Zauberwort.

Bewertung vom 09.04.2025
Knoll, Ursula

Zucker


ausgezeichnet

Ungesüßt historisch! Klug inszenierte Reise durch die Zeit anhand dreier Frauengenerationen.

Puh – wo fange ich an bei diesem sehr vielschichtigen, klug inszenierten Roman …

Drei Frauen sind es, die uns hauptsächlich durch die ungesüßte Wahrheit des weißen Goldes führen. Dabei durchschreiten wir mehrere Epochen der Zeitgeschichte.
Ejo (eine allwissende Geisterscheinung – wunderbare Idee) erzählt über ihre Schwester Mary Prince (1788-1834). Mary war Sklavin auf den Zuckerrohrplantagen, erlangt die Freiheit und zerbricht daran. Ihr Buch wird wegweisend für die Abschaffung der Sklaverei (zumindest bei den Briten).

1848 während der Märzrevolution in Wien treffen zwei Frauen aufeinander. Dita, ehemalige Arbeiterin in einer Wiener Kolonialzuckerfabrik, der Hunger ein treuer Bekannter ist und sich den Aufständen anschließt, landet als Dienstmagd bei den Rothermanns. Tochter Mathilde (Hunger ist ein Fremdwort) hat gute Ideen, um der großen Konkurrenz an Rohrzucker aus den „Kolonien“ zu begegnen und setzt auf die Zuckergewinnung aus Zuckerrüben, trotz massiver Widerstände von der patriarchalen Seite.

In der Jetztzeit, beginnend 1990, begleiten wir Paula. Zuerst als Gastschülerin in London, dann mit ihrer Arbeit an der Entwicklung einer Brennstoffzelle, gespeist mit Zucker. Zusätzlich spielt Paulas Tochter Katja eine tragende Rolle mit ihren Recherchen zur Familiengeschichte – natürlich verschränkt mit der Historie des Zuckers.
Die Autorin verwebt hier sehr genial die Schicksale der handelnden Frauen, und nach und nach kommt man in den Genuss der Wahrheit, wie diese Lebensgeschichten miteinander verflochten sind.
Reichtum prallt auf bittere Armut. Der Drang, einfach nur etwas zu Essen, ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu haben, waren bzw. sind Grund genug, Menschen bis aufs Blut auszubeuten.
Der Roman ist mehr als eine Aneinanderreihung von historischen Fakten, verpackt in die Geschichten der jeweiligen Protagonistinnen. Der Zucker ist das bindende Glied zwischen mehreren Generationen und Familiengeschichten. Dabei kommt die gesellschaftliche Akzeptanz der Frauen nicht zu kurz, gleichwohl ob sie in Reichtum oder Armut leben.

Das Nicht-Erkennen und Nicht-Akzeptieren von Hunger und den Nöten der Arbeiterschicht, die ja letztendlich zum Wohlstand der Unterdrücker und Arbeitgeber maßgeblich beiträgt, ist für mich ein weiterer Faden, der sich durch das Buch zieht (und bis heute nichts an Aktualität verloren hat, wenn man die Volksfremde der Politiker betrachtet).

Meine Hochachtung an die Autorin für diesen Roman, der akribisch recherchiert und genial umgesetzt ist. Geschichte meets Gegenwart, ungesüßt – wohlgemerkt. Somit gebe ich gerne eine Leseempfehlung

Bewertung vom 06.04.2025
Elling, Lars

Die Prinzen vom Birkensee


sehr gut

Zwei Jungen in den Wäldern auf sich alleine gestellt. Ein Abenteuer 1913/14. TW: viel Tierleid!

Die Prinzen vom Birkensee sind der dreizehnjährige Arnstein und sein um einige Jahre jüngere Bruder Truls. In den Sommern der Jahre 1913 und 1914 wurden beide von ihrem Vater, den sie meist nur den „Kaiser“ nannten, in die Mark nördlich von Christiania (dem heutigen Oslo) geschickt. Es ist ein ausgedehntes Waldgebiet rund um den Holmenkollen mit vielen Seen. Ganz auf sich alleine gestellt durchstreifen die beiden die Wälder, unterhalten hier und dort ein Lager, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Manchmal schaffen sie es auch, so viel zu „hamstern“, damit sie es auf den Märkten der kleinen Ortschaften verkaufen können.
In dieser Zeit schweißen die beiden richtig zusammen, agieren oft wie ein Individuum, merken und spüren, was den anderen gerade beschäftigt. Der drohende erste Weltkrieg wirft seinen langen Schatten bis in diese Gegend, und so beschließt der Vater der beiden, dass sie im Spätsommer 1914 ihren fünfzehnjährigen, schwer kognitiv beeinträchtigten Bruder mit in die Wildnis nehmen müssen. Mit Folgen …
1985. Filip, 19, ist der Enkel von Arnstein, und zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester bewohnen sie ein Haus am Rande der Stadt. Ihr unmittelbarer Nachbar ist Arnsteins Bruder Truls mit seiner Frau. Es herrscht Stille zwischen den beiden Familien, ein lächerlicher Apfelkrieg ist nur eine kleine Auswirkung davon. Arnstein ist ein Pflegefall, sein von Arbeit geschundener Körper liegt im Sterben, doch Arnstein will noch nicht aufgeben. Filip tritt seinem Opa sehr abschätzig entgegen, macht abfällige Bemerkungen über dessen langes Aufbegehren gegen den Tod. Doch so allmählich, nachdem er zuerst gezwungen wurde, sich mehr um seinen Großvater zu kümmern, entwickelt sich doch noch so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Filip ändert sich und seine Einstellung, genauso wie Arnstein sein Mürrischsein und seine Bosheit etwas beiseiteschieben kann. Er beginnt, von jenen Sommern zu erzählen, und Filip hängt an seinen Lippen. Er möchte unbedingt erfahren, was der Grund für das Zerwürfnis zwischen den beiden Brüdern war.
Der Roman liest sich leicht und flüssig, die Erzählweise ist oftmals spannend wie eine Abenteuergeschichte. Es geht aber auch um andere Dinge. Das Leben von Filip wird durchleuchtet, mit seiner Liebe zu Fußball und der Musik von Brian Ferry, sein Gehader mit den Kassetten im Walkman, und vieles mehr.
Bis jetzt würde ich sagen: eine feine Geschichte.
Was mir aber absolut komplett gegen den Strich ging, ist die ausufernde und wie für selbstverständlich angenommene Gewalt der beiden Jungs gegen Tiere. Hier hätte ich mir vom Verlag eine ordentliche Triggerwarnung gewünscht, und nicht eine Glorifizierung des Angelns am Buchrücken. OK – ich dachte, ist sei nur eine Metapher. Aber da lag ich falsch. Auch wenn das Verhältnis zur lebenden Natur vor hundert Jahren ein anderes gewesen sein mag, und die Jungs auf sich alleine gestellt waren um in der Wildnis nicht zu verhungern, dann hätte ich gerne auf die expliziten Beschreibungen des Tötens (manchmal fast schon ein Massenmord) sehr gerne verzichtet.
Mehr als einmal war ich versucht, aus diesen Gründen das Buch abzubrechen. Aber die Neugier, wie die Geschichte wohl ausgehen mag, hat gewonnen.
Schreibtechnisch gibt es gegen den Roman auch nichts auszusetzen – ganz im Gegenteil.
Und so mag sich bitte jede*r selbst ein Bild machen, ob dieser Roman, der sicherlich auch den ein oder anderen familienpolitischen oder gesellschaftlichen Aspekt behandelt, gelesen werde möchte.
Für mich war es eine Grenzerfahrung. Und eine Bewertung: Zwischen zwei und fünf Sterne ist alles drinnen.

Bewertung vom 03.04.2025
Krömer, Philip

Kumari


ausgezeichnet

Nepalesischer Geschichtsunterricht in einem packenden Roman rund um die Kindgöttin Kumari! Ein wunderbares Leseerlebnis!

Was wissen wir alles über Nepal? Geschichte, Religion, Politik? Sehnsuchtsort für viele Menschen am Fuße des Daches der Welt.
Das Land stand 2001vor einem Bürgerkrieg. Maoisten wollten die Herrschaft des Königshauses stürzen. Ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt, dass am 1. Juni 2001 der Kronprinz Dipendra sein Land von der Monarchie befreien wollte und metzelte neun Mitglieder des Königshaues, darunter Vater und Mutter, dahin und richtete sich selbst.
Soweit der historisch-politische Hintergrund. Warum es so kam, und was vielleicht dahinter steckte, erzählt uns der Autor in einem sehr spannenden, und hervorragend recherchierten Roman.
Die titelgebende Kumari ist die wiedergeborene Schutzgöttin Taleju. Sie sieht alles, hört alles, weiß alles. Als Kleinkind, wenn die 32 Merkmale passen, vom Hohepriester aus der Bevölkerung Kathmandus ausgesucht, hat das Mädchen dieses Amt bis zu ihrer ersten Regelblutung inne. Mehr oder weniger eingesperrt, verdammt jeden Tag die Rituale auszuüben, ohne Schulbildung, wird sie danach mit einer kleinen Rente abgespeist und aus dem Tempel geworfen (pervers in meinen Augen).
Aber sie beklagt sich nicht. Sie erzählt uns, was sie sieht. Über sich selber und die nepalesische Götterwelt, über das Herrscherhaus, über Dipendra und seine Beweggründe. Und über Rupa Rana – eine fünfzehnjährige Rebellin, glühende Maoistin. Sie und ihre Mitstreiter*innen wollen Nepal umkrempeln. Sie wollen, der Lehre von Mao Tse Tung folgend, das Land dem Volk geben.
All das spielt sich rund um das Dasain-Fest ab. Es ist ein äußerst blutiges Opferfest (TW: es bedarf eines guten Magens bei der Lektüre). Denn Blut bestimmt nicht nur das Schicksal der Kumari …

Der Roman liest sich spannend vom Anfang bis zum Ende wie ein historischer Schinken epochalen Ausmaßes. Philip Krömer versteht es hier perfekt, die harten Fakten mit Fiktion zu vermischen. Er lässt ein ziemlich umfassendes Bild über Nepal entstehen – und das mit wenigen Worten auf gerade mal 220 Seiten. Man erkennt auf unterhaltsame Weise, wie und warum Religion (oder Mythologie) und Staat derart eng miteinander verschränkt sind.

Das Buch regt stark zum Nachdenken an. Auf der einen Seit der religiöse Wahnsinn, auf der anderen Seite die bedingungslose Aufgabe des Individuums im Maoismus, und nebenbei das Festhalten an feudalen Strukturen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Unterdrückung. Und genau die „Macht“ ist Triebfeder für jedes Handeln, ohne Rücksicht auf den Einzelnen. Jede*r ist nur ein Zahnrad im Getriebe des Machterhalts, egal in welcher Maschinerie sich diese Räder drehen.
Im Falle der Kumari ist es ein unschuldiges Mädchen, welches die Rituale des Blutes aufrechterhalten muss, sowie ein armes Mädchen aus der Provinz, das für ein größeres Etwas eingespannt wird.
Für mich war die Geschichte komplettes Neuland – und umso tiefer bin ich zwischen die Zeilen gefallen.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen tief schürfenden und nachdenklich machenden Roman, gespickt mit spannender Fiktion und harten Tatsachen. Herrlich erzählt, ohne viele Ausschweifungen. Chapeau!

Bewertung vom 01.04.2025
Bauer, Wolfgang Maria

Kaltblut (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Archaischer Roman aus der unwirtlichen Bergwelt rund um Schuld. Glasklar erzählt. Große Leseempfehlung.

Stubber war schon immer ein Außenseiter. Wortkarg wie die Berge, in denen er lebte und gerne umherstreifte. Mit anderen Menschen wollte er kaum etwas zu tun haben, dabei zog es ihn sogar mal in die Stadt zum Studieren, aber das war nichts für ihn. Zurück im Bergdorf übernahm er das Gewerk seines Vaters als Sprengmeister. Doch mehr als Gelegenheitsjobs gab es selten.
Die Gesellschaft nach getaner Arbeit vermied er, zu sehr war ihm das lose Geschwätz verpönt.

S. 26: „Ihre Gespräche über Staat, Weiber, die heutige Jugend, und die Welt überhaupt waren ihm zuwider gewesen. Laufe einen Regenbogen, hatte er einst in einem Jugendbuch gelesen, um rückständige Menschen.“

Doch einmal, ja einmal da traf er dabei seine große Liebe: Alaska nannte er sie wegen ihrer Augen. Sie waren wie eins, bis sie bei der Geburt seines Sohns verstarb. Ein Schlüsselmoment für Stubber. Er wollte mit seinem Kind, welches ihm Alaska nahm, nichts zu tun haben. Luka, so wie der Bub von seiner Ziehmutter, der bigotten Zugehfrau des Pfarrers, genannt wurde, trage die Schuld am Alaskas Tod. Stubber zog sich noch mehr zurück – die Jahre gingen ins Land, und dann starben bei einer folgenschweren Explosion einer Berghütte elf Männer. Darunter Stubbers einziger Mensch, der ihm in dieser Zeit etwas bedeutete: sein Gehilfe Sepp. Sepp war geistig behindert, und neben dessen Eltern kümmerte sich nur Stubber um ihn. Sepp, der immer fröhlich war, immer ein Lächeln parat hatte. Sepp, der nun nicht mehr war, zerfetzt vom Dynamit.
Die ersten Spuren führten sofort zu Stubber. Auch für die sogenannte Dorfgemeinschaft (Betonung auf gemein) war der Fall mehr als klar. Der Einzelgänger, den eh keiner mag. Endlich findet sich ein Sündenbock. Doch nach einer Nacht in der Zelle musste Stubber freigelassen werden, er hatte ein stichfestes Alibi. Das Dorf musste sich einen neuen Schuldigen suchen, und Namen fanden sich schneller als man mit dem Finger auf jemanden zeigen konnte. Denn darin waren die Bergdörfler meisterhaft begabt.

Drei Wochen nach der Explosion wurden die Leichen zur Beerdigung freigegeben. Stubber wollte sich von „seinem“ Sepp ebenfalls verabschieden, aber er wurde nicht zum Grab gelassen. So beobachtete er schweren Herzens die Beisetzungen von der Ferne. Danach, von schwerem Kummer geplagt, wollte er sich in die Berge zurückziehen. Aber er wurde verfolgt … nicht nur von seinem Gewissen … meisterhaft erzählt …und mehr wird jetzt wirklich nicht mehr verraten.

Die Sprache ist ohne Ausschweifungen, klar und ohne Trübungen wie ein Bergsee. Direkt und hart, wie Stubber selbst, kommt das Erzählte daher, lässt kaum Platz für Sentimentalitäten. Man schlägt sich beim Lesen rational bedingt auf seine Seite, auch wenn er ein Kaltblut sein mag, beziehungsweise so von den Dorfbewohnern bezeichnet wird. Und man fragt sich letztendlich, wer tatsächlich kaltblütig und kaltherzig ist.
Jemand, der von der Gesellschaft durch sein „Alleine-sein-wollen“ in den Wahnsinn getrieben wird, oder diejenigen, die zur Hetzgemeinschaft gehören?
Eines der Grundthemen kann mit dem Wort „Schuld“ betitelt werden, und wie damit im Einzelnen und in der Gesellschaft umgegangen wird.

Sehr gerne bin ich in diese archaische Bergwelt eingetaucht, mit vollen Sympathien für Außenseiter*innen und solchen, die nach außen gedrängt werden. Ganz große Leseempfehlung für diesen atmosphärischen Roman.

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