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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1229 Bewertungen
Bewertung vom 11.12.2021
Gruber, Jennifer

Einfach gutes Brot backen


ausgezeichnet

Liebt ihr auch den Duft von frischem Brot? Könnt ihr kaum erwarten, dass es nach dem Backen endlich abgekühlt ist und man es anschneiden kann? Hört ihr das Knirschen und Knuspern, wenn das Messer die Kruste durchtrennt, spürt ihr den Geschmack und die verschiedenen Aromen auf der Zunge?

Bei diesem Buch ist der Namen Programm – die Rezepte sind einfach und leicht verständlich und punkten mit zum Teil außergewöhnlichen Zutaten oder Zubereitungsarten. Die Bäckerin legt außerdem viel Wert auf Nachhaltigkeit und eine lange Teigführung bzw. Teigruhe.
Jennifer Gruber ist geprüfte Sensorikerin und man spürt beim Ausprobieren der Rezepte, dass dieses Wissen auch in ihre Rezepturen eingeflossen ist. Ein gutes Brot braucht theoretisch nur Wasser, Mehl und Salz, darum sind sich viele Brotrezepte ähnlich. Aber Jennifers haben immer das gewisse Etwas, das sie zu etwas Besonderem macht, sei es ein Quäntchen Schmalz oder eine großzügige Prise getrockneter Knoblauch.
Die Autorin lässt viele spannende Geschichten rund um das Leben der verschiedenen Generationen ihrer Familie auf dem Bauernhof bzw. im Dorf einfließen, z.B., mit welchen Gerätschaften und Hilfsmitteln das Brot früher gebacken wurde. Das alles erzählt sie so lebendig, dass man das Gefühl hat, an einem uralten Küchentisch zu sitzen, während man einen Teig ansetzt oder weiterverarbeitet.
Besonders interessant in fand ich, dass früher „Ura“ als Triebmittel genommen wurde und sie das heute noch verwendet, davon habe ich hier zum ersten Mal gelesen. Auch in den Kapiteln zu Sauerteig und Hefe habe selbst ich als erfahrene Bäckerin wieder Neues gelernt. Überhaupt zeigt sie viele Tricks und Kniffe, wie man Fehler vermeiden oder Dinge noch besser machen kann. Dadurch und durch die kurze Einführung und die Erklärungen zu den Zutaten und Zubereitungsweisen bzw. den Fachbegriffen ist das Buch auch für Anfänger geeignet.

Mir gefällt gut, dass es neben den klassischen Rezepten auch welche mit Zugaben wie Gemüse, Gewürze oder Saaten gibt, Rezepte für Outdoor-Fans (die Brote werden dann im Dutch Oven, in der Fischgrillzange (crazy!) oder auf dem Grill gebacken), verschiedene Pizzateige und -beläge, Deftiges wie die geniale Brotsuppe, Salziges, Pikantes (Schüsseln aus Teig) und natürlich süßes Gebäck. Ein besonderes Schmankerl ist das Kapitel mit Sachen, die aufs Brot passen – da wird z.B. erklärt, wie man aus Schlagsahne selber Butter macht und die verfeinert, und es gibt Rezepte für verschiedene Aufstriche und aromatisierte Öle.

Noch ein kleiner Tipp für deutsche (Hobby-)Bäcker: Da die Autorin Österreicherin ist, sind im Buch österreichische Mehltypen angegeben, im Netz findet man aber Umrechnungstabellen, also keine Angst und ran an das Brot.

Ich bin von dem Buch rundum begeistert und habe es bereits meinen brotbackenden Freundinnen weiterempfohlen.

Bewertung vom 09.12.2021
Bell, Catherine

Jane Austen und die Kunst der Worte / Außergewöhnliche Frauen zwischen Aufbruch und Liebe Bd.7


gut

Eine interessante Frau, aber der Erzählstil konnte mich leider nicht fesseln

„Ich möchte nur schreiben. Sogar an Tagen, an denen mir eigentlich überhaupt nicht danach ist. Wenn ich das darf, und wenn es ein paar wenige Leserinnen gibt, die sich dafür begeistern, ist es alles, was ich will.“ (S. 350)
Jane Austen ist eine Ausnahmekünstlerin, die es zu ihrer Zeit allerdings nicht leicht hatte. Erst 6 Jahre vor ihrem frühen Tod mit 42 wurde sie endlich veröffentlicht. Catherine Bell (das Pseudonym von Kerstin Sgonina) lässt uns in „Jane Austen und die Kunst der Worte“ an deren Ringen um Selbständigkeit und Erfolg teilhaben.

Jane ist 20, als sie sich zum ersten Mal verliebt – in den Neffen ihrer Nachbarin. Sie, die sich bis dahin nie für Männer interessierte, außer, um Teile oder Eigenschaften von ihnen für ihre Romanfragmente zu verwenden, kann plötzlich nur noch an Thomas Lefroy denken, dabei warnen sie alle vor diesem Herzensbrecher. Doch wenn sie nicht ewig bei ihren Eltern leben und von ihnen abhängig sein möchte, braucht sie einen Mann und Versorger. „Wärst du ein Junge, würde dir alle Welt versichern, dass Du es einmal weit bringen wirst.“ (S. 45) „Vielleicht bringe ich es auch als Mädchen weit. … Stell Dir vor, ich könnte für mich selbst sorgen. Dann bräuchte ich gar keinen Ehemann.“ (S. 46)

Jane ist das siebente von acht Kindern einer Pfarrersfamilie und da ihre älteren Geschwister alles Jungs waren, kam sie ebenfalls in den Genuss einer sehr umfangreichen und damals nicht üblichen Bildung. Ihr Talent fürs Schreiben zeigte sich schon früh und wurde von der Familie gefördert, allerdings glaubte niemand, dass sie davon leben könnte.

Catherine Bell zeichnet das Bild einer ungewöhnlichen jungen Frau, die zwar gern auf Bälle geht, sich aber nicht um einen Ehemann bemüht, die heimlich schwimmen lernt, um sich frei zu fühlen, und fast überall schreiben kann, wenn sie nicht gerade von Liebeskummer oder Schwermut niederdrückt wird. Aber Jane ist auch sehr empfindlich, was ihren Geist und Körper angeht. Sie ist oft krank und schnell niedergeschlagen, grübelt zu viel und ihr fehlt die Leichtigkeit und Naivität, die damals gern bei einer Frau gesehen wurde. Ich fand es erschreckend, dass sie mit 22 schon als alte Jungfer galt und ihre Eltern immer wieder versuchten, sie „an den Mann“ zu bringen.

Obwohl ich Janes Leben und die geschilderten Entstehungsprozesse und Überarbeitungsphasen ihrer Romane interessant fand, konnte mich der Erzählstil nicht fesseln. Die Autorin beschreibt Janes Arbeitsweise, die Reisen, Spaziergänge, Besuche bei Freunden oder Bällen viel zu ausführlich, aber man kommt ihr als Mensch nicht wirklich nahe, von ihren Selbstzweifeln und depressiven Phasen mal abgesehen. Mir waren auch die Zitate aus ihren Romanen zu lang und die Zeitsprünge mittendrin zu verwirrend. Darum gibt es von mir leider nur 3 von 5 Sternen.

Bewertung vom 07.12.2021
Ahern, Cecelia

Sommersprossen - Nur zusammen ergeben wir Sinn


sehr gut

Sieben Sommersprossen

„Manchmal wäre es leichter, ein Mensch zu sein, wenn es keine anderen Menschen gäbe.“ (S. 121) Allegra knüpft nur schwer Freundschaften. Ihre Mutter hat sie direkt nach der Geburt beim Vater zurückgelassen und ist verschwunden. Der Musikprofessor hat sie überwiegend allein aufgezogen, gilt als verschroben und hat sie seine Sicht der Dinge gelehrt, ihr die Augen für die Kleinigkeiten im Leben und die Wunder der Natur geöffnet. Besonders die Sterne am der Nachthimmel faszinieren sie, denn sie hat zwar die Haare und Hautfarbe ihrer spanischen Mutter geerbt, aber auch die unzähligen Sommersprossen ihres irischen Vaters. Auf ihrem linken Arm bilden sieben von ihnen den perfekten großen Wagen. „Ihre Gegenwart war tröstlich. Ich trug sie wie eine Rüstung.“ (S. 13) Als Kind hat Allegra die Punkte nur mit dem Finger verbunden, dann mit Stiften, später mit spitzen Gegenständen – tiefe Narben bilden jetzt das Abbild des Sternbildes. Wenn sie nervös oder einsam ist oder Kummer hat, zieht sie sie unablässig nach.

Sommersprossen heißen auf englisch Freckles – ihr Spitzname seit der Kindheit. Wenn man es im Deutschen falsch ausspricht, klingt es nach Freak – und genau so fühlt sich Allegra oft. Sie braucht ihre tägliche Routine, das fängt beim immer gleichen Frühstück an und setzt sich auf ihrer Runde fort (sie kontrolliert als Hilfspolizistin die Parkzettel von Autos). Wenn diese Routine gestört wird, verliert sie den Halt und die Kontrolle über ihr Leben.

„Es heißt, jeder Mensch ist eine Mischung der fünf Leute, mit denen er oder sie die meiste Zeit verbringt. Spricht nicht gerade für ihren Umgang, oder? Der hier ihr Kollege ist wohl einer davon. Ich frage mich, wer die anderen vier Versager in Ihrem Leben sind.“ (S. 66) So wird sie eines Tages vom Fahrer des gelben Ferrari beschimpft, der schon wieder keinen Parkschein gezogen hat. Dieser Spruch bringt sie aus dem Takt, denn sie muss feststellen, dass sie nur eine einzige Person benennen kann – ihren Vater. Sie hat in Dublin keine Bekannten, keinen Partner, nur Kollegen und belanglose One-Night-Stands. Oft geht sie mit Hobby-Künstlern ins Bett, denen sie vorher nackt Modell gestanden hat.

Aber Allegra ist kein Freak, sondern auf der Suche nach Antworten, ihren Wurzeln, ihrer Mutter. Warum hat die sie verlassen? War sie nicht gut genug? Nicht liebenswert? Allegra ist extra nach Dublin gezogen, um sie endlich kennenzulernen, traut sich aber nicht, sie auch anzusprechen. Die Frage nach den 5 Leuten macht ihr klar, dass sie ihrem Leben endlich eine neue Richtung und einen Sinn geben muss.

„Sommersprossen“ ist ein sehr leises, berührendes Buch, das traurig macht und zum Nachdenken anregt. Allegra ist keine sympathische, angepasste Protagonistin, dazu ist sie zu ruppig, eckig und kantig und ihr Alkohol- und Männerverschleiß zu bedenklich. Aber ihre Suche nach Halt und die poetische Sprache gehen ans Herz. Besonders ergreifend fand ich die Bilder der Künstler, die ein Spiegel des jeweiligen Zustandes ihrer Seele waren.

Bewertung vom 04.12.2021
Engel, Henrike

Ein Leben für die Freiheit der Frauen / Die Hafenärztin Bd.1


ausgezeichnet

Das grüne Haus

„Sie kam nicht aus freien Stücken. Vor allem aber hatte sie London nicht aus freien Stücken verlassen.“ (S. 6)
Nach der Explosion eines Gasometers am Magdeburgquai wird dieser nicht mehr genutzt. Die Ecke des Hamburger Hafen vereinsamt, nur das grüne Haus strahlt tapfer in der Dunkelheit. Die englische Ärztin Anne Fitzpatrick hat es zusammen mit dem Verein Frauenwohl aufgebaut, um Frauen und Kindern einen Anlaufpunkt in der Not zu bieten. Doch als bei der Eröffnung ganz in der Nähe 2 Leichen gefunden werden, droht Annes Plan zu scheitern. Keine Frau traut sich mehr in diese Gegend – nur die Pastorentochter Helene Curtis, deren großes Vorbild Anne ist, lässt sich davon nicht abschrecken.

„Die Hafenärztin“ habe ich auf der Frankfurter Buchmesse zufällig in der berühmten „Ullsteineule“ entdeckt und der Klappentext hat mich sofort neugierig gemacht.
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von 3 Personen geschildert. Anne ist eine der ersten Ärztinnen in Deutschland. Sie hat lange in England gelebt und dort studiert. Ich finde sie sehr faszinierend, sie ist extrem hilfsbereit, sehr willens- und durchsetzungsstark und hält allein an ihrem Plan fest, nachdem der Frauenverein das grüne Haus nicht mehr betreuen will. Aber sie ist auch einsam und irgendwie traurig, stürzt sich in die Arbeit, um sich abzulenken, hat kein Privatleben. Man kann nur erahnen, warum sie England bei Nacht und Nebel verlassen musste und unter falschem Namen nach Deutschland zurückgekehrt ist. Sie fürchtet übrigens, dass der Täter der berühmte Jack-the-Ripper ist, der vor 20 Jahren in England sein Unwesen getrieben hat …
Helene ist eine moderne junge Frau. Sie will keine Ehefrau und Mutter sein, sondern studieren oder wenigstens einen Beruf erlernen. Das liegt nicht nur an der lieblosen Ehe ihrer Eltern und dass ihr Bruder vor dem strengen Vater regelrecht geflohen ist, sondern auch an der aus England herüberschwappenden Suffragettenbewegung. Die Idee des Frauenwahlrechts und der Gleichberechtigung begeistern sie. Helene ist sehr sportbegeistert, rudert in einem Verein und fährt Fahrrad, selbst im Winter, damit hat sie mir imponiert. Zudem ist sie gewitzt und zielstrebig. Im Laufe der Handlung entwächst sie ihrem bürgerlichen Elternhaus immer mehr und auch über sich hinaus.
Kommissar Berthold Rheydt ermittelt in dem Fall getöteten Frauen. Es ist der erste, den er allein übertragen bekommt und er beißt sich richtig fest. Rheydt wirkt auf den ersten Blick manchmal etwas abgerissen, hat einen schweren Verlust erlitten und noch nicht überwunden, aber mir gefällt, dass er sich auf die Ideen seiner deutlich jüngeren Mitarbeiter einlässt und sie motiviert, um die Ecke zu denken. Er forciert auch neue Ermittlungsmethoden wie Tatortanalyse, Fingerabdrücke und chemische Untersuchungen. Sein Steckenpferd ist der Fußball, er trainiert im gerade gegründeten FC St. Pauli und ist enttäuscht, dass der Sport noch so elitär ist, Arbeiter nicht zugelassen sind. Ein harter Kerl mit einem weichen Kern.

Für mich ist das Buch eine gelungene Mischung aus Krimi, Roman und historischem Zeitgeschehen. Henrike Engel schreibt sehr kurzweilig, atmosphärisch und bildlich, lässt das Vorkriegshamburg vor dem Auge des Lesers auferstehen. Man kann sich in den dunklen Hafenecken herrlich gruseln, mit Anne, Helene und Rheydt auf Mörderjagd gehen und erfährt nebenher, was damals tagespolitisch aktuell war. Ich bin schon sehr gespannt auf den nächsten Fall.

Bewertung vom 26.11.2021
Rehn, Heidi

Die letzte Schuld / Ein Fall für Emil Graf Bd.2


ausgezeichnet

Mord in der Vorstadt

„Was wir Juden hier vor dem Krieg erlebt haben, war ein Alptraum. Dabei waren wir hier zu Hause, haben uns als Münchnerinnen und Deutsche gefühlt wie alle anderen auch. Wir müssen zurückkommen und dabei helfen, das Unrecht wiedergutzumachen.“ (S. 18) Billa und ihre Freundin Lydia befragen für einen Artikel die Bewohner einer Münchner Vorstadtsiedlung zu den Entnazifizierungsbögen, als sie das Auto der Mordkommission entdecken. Eine tote Frau wurde gefunden, ermordet, und die Auffindesituation sieht wie eine Hinrichtung oder ein Racheakt aus. Wer ist sie und warum musste sie jetzt, ein Jahr nach Kriegsende, sterben? Am Tatort treffen sie auf den Mordermittler Emil Graf. Da Billa ihm letztes Jahr schon einmal bei einer Ermittlung geholfen hatte, bittet er sie, sich bei ihrer Recherche auch nach der Frau umzuhören. Dabei bekommt Billa den Tipp, dass es bei den „Persilscheinen“ Mauscheleien gibt. Emil hingegen stößt auf eine Spur, die zu Kunstwerken aus dem „Haus der Kunst“ führt, Hitlers ehemaliger Sammlung ...

„Die letzte Schuld“ ist der zweite Teil der Reihe um den Polizeiermittler Emil Graf und die jüdischen Reporterin Billa Löwenfeld. Man kann die Bücher aber unabhängig voneinander lesen.

Heidi Rehn schafft es, den Leser sofort in die Geschichte zu ziehen und nicht wieder loszulassen. Ich fand es sehr gelungen, wie sie auf das inzwischen vergangene Jahr und die Veränderungen bzw. Fortschritte in München eingeht. Billa und Emil hatten sich nach dem ersten Fall aus den Augen verloren und müssen sich erst einmal wieder annähern, zumal es zwischen ihnen ordentlich knistert.
Mir gefällt, wie Emils Zerrissenheit dargestellt wird. Einerseits macht er seine Arbeit gern und gut, andererseits hadert er immer noch mit seiner Schuld als Mitläufer. Er will nie wieder eine Waffe führen, nie wieder jemanden töten – das könnte bei der Polizeiarbeit zum Problem werden, es macht ihn aber auch sehr menschlich.
Billa ist sehr forsch und scheint vor kaum etwas Angst zu haben, wird dadurch aber auch leichtsinnig und gerät mehr als einmal in gefährliche Situationen. Ich bin fasziniert und beeindruckt, wie geschickt sie die Leute mit Zigaretten, Kaffee oder Schokolade zum Reden bringt und wie offen sie in die Gespräche mit ihnen geht. Sie könnte ja auch einfach alle Deutschen hassen, aber sie hat ihre Vorurteile gut im Griff. Außerdem ist sie immer noch ihrer Abstammung auf der Spur, um die ihre Mutter ein großes Geheimnis macht. Weiß Emils Bruder Fritz mehr? Seine Andeutungen lassen es zumindest vermuten …

Der Fall ist sehr spannend und wirklich gut konstruiert. Ich habe die ganze Zeit mitgerätselt und Vermutungen angestellt, wie alles zusammenhängt. Mir gefällt, wie der Prozess der Entnazifizierung und der Umgang der mit Nazi-Kunst zu dieser Zeit in die Handlung eingeflossen ist – das hat Heidi Rehn hervorragend recherchiert.

Auch die von Angst und gegenseitiger Abhängigkeit geprägt Atmosphäre in der Siedlung war förmlich spürbar. Die Bewohner wissen natürlich genau, welcher Nachbar sich bei den Nazis verdient gemacht hatte, schweigen aber aus verschiedenen Gründen. Nur der Blogwart scheint das Wissen für seine Pläne zu nutzen. Und obwohl kaum einer ein gutes Wort für die Tote übrighat, können Billa und Emil kein Mordmotive feststellen. Fakt ist nur, dass sie sehr ehrgeizig war und hoch hinaus wollte. Ist ihr das zum Verhängnis geworden?

Mein Fazit: Auch „Die letzte Schuld“ ist ein fesselnder, hervorragend recherchierter Krimi mit historisch verbürgten Fakten und einem tollen Ermittlerpaar – ich hoffe, dass sie noch weitere Fälle im München der Nachkriegszeit lösen werden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2021
Berg, Ellen

Mach dich locker


ausgezeichnet

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!

„Marie Hasemann, das Kaninchen im Raubtiergehege.“ (S. 7) ist Food-Designerin und entwickelt gesunde Nahrungsmittel. Ihrem Chef Holger, der aussieht wie ein Surferboy, steht sie fast rund um die Uhr zur Verfügung. Parallel managt sie auch noch erfolgreich ihren Mann Alexander, einen etwas lebensuntüchtigen Anwalt, und ihre beiden Kinder Robin und Lilli. Das weiß außer ihrer Assistentin Scarlett aber niemand, denn bei FeelBetterFood ist man jung, dynamisch, erfolgreich und unabhängig ... Zudem ist sie perfektionistisch veranlagt, hat für alles eine Liste und prüft alles nach. „Mein Leben ist wie jonglieren mit Dynamit … Einmal die Kontrolle verlieren, und schon fliegt mir alles um die Ohren.“ (S. 10) Und genau das passiert, als ein neuer Schüler in Robins Klasse auftaucht und dessen Mutter Babette Marie den Rang abläuft. Prompt legt ein Hexenschuss Marie völlig lahm und sie verliert die Kontrolle über ihr Leben und ihre Familie …

„Mach dich locker“ von Ellen Berg ist viel mehr als ein heiterer Frauenroman. Sehr tiefgründig geht sie auf das Problem der überforderten Karriere-Mütter ein, die immer in allem die besten und perfekt sein wollen und dabei nicht nur die eigenen Ziele und Wünsche aus den Augen verlieren, sondern auch die ihrer Partner und Kinder. Gekonnt spielt die Autorin dabei mit den Erwartungen und Ansichten der Leser und geht amüsant auf die Schulweisheiten und Irrtümer der Volkskrankheit Rücken ein.

Ich wusste zu Beginn nicht, wer mir mehr leidtut – Marie oder ihrer Umwelt. Ich werde ja schon liebevoll „Planungsbeauftragte“ genannt, aber Marie ist noch schlimmer. Sie installiert eine Überwachungskamera im Teddy ihrer Tochter, ist die Klassensprecherin bei ihrem Sohn und versucht ihren Mann immer wieder zu „optimieren“. Kein Wunder, dass der mit der lockeren Babette anbandelt und die Kinder einfach an einen Babysitter und seine extrem übergriffige Mutter abschiebt. Robin entzieht sich als Teenager immer mehr Maries Kontrolle und sie muss Seiten an ihm entdecken, die sie nie für möglich gehalten hat. Als dann auch noch die süße kleine Lilli lieber eine zerfetzte Jeans als einen rosa Rüschenrock will, gerät ihr Weltbild völlig ins Wanken. Aber je mehr sich Marie auf ihre Rückenprobleme und die Behandlung einlassen muss, desto mehr denkt sie über alles nach und versetzt such auch in die Position ihres Gegenübers ...

Natürlich kommt der Humor trotzdem nicht zu kurz. Das beginnt schon mit den ausgefallenen Namen von Babettes Kindern Luna-Rosé und Marvin-Blue (Wer muss da auch an Familie Ochsenknecht denken?) und setzt sich über die zum Teil überzeichneten Protagonisten (den Orthopäden und seine Frau habe ich gefeiert), die gelungene Situationskomik und Sprüche fort. „Manche Probleme lösen sich ganz von allein. Man darf sie nur nicht dabei stören.“ (S. 77).

Die Handlung hat ein ordentliches Tempo, man mag das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, und einige Überraschungen parat, damit es nie langweilig oder vorhersehbar wird. Genial fand ich auch die Schlüsselszene am Ende und vor allem das Kopfkino dazu. Überhaupt frage ich mich nach dem Lesen von Ellen Bergs Büchern immer, warum die noch nicht verfilmt wurden?!

5 Sterne und meine Leseempfehlung für diesen humorvollen Rücken- und Lebensratgeber.

Bewertung vom 18.11.2021
Stern, Anne

Die Stunde der Frauen / Fräulein Gold Bd.4


ausgezeichnet

Blut, Ehre, Erbe

„Das Leid der Frauen aber scheint unsichtbar.“ (S. 336)
1925 scheint Hulda Gold endlich an- und zur Ruhe gekommen zu sein. Sie ist die leitende Hebamme der Frauenklinik Berlin-Mitte und mit dem jungen Arzt Johann Wenckow zusammen, der ihr die Sterne vom Himmel holen und die Welt zu Füßen legen würde – wenn sie nur wöllte.
Als sie auf einem Ball das heulendes Dienstmädchen Ellen trifft (schwanger, hoffnungs- und zukunftslos), bietet sie ihr ihre Hilfe an und wird in ein altes Familiengeheimnis aus „Blut, Ehre, Erbe“ gezogen, das ihnen sehr gefährlich werden kann …

Anne Stern verwebt gekonnt Huldas Arbeits- und Privatleben, schildert ihren aufreibenden Klinikalltag, den Spagat zwischen dem was sie darf und was nicht. Zwar hat sie relativ feste Arbeitszeiten und ein gutes Gehalt, aber ihr fehlt die Intimität und Privatsphäre der Hausgeburten. Die Klinik ist eine Lehranstalt für angehende Ärzte und Hulda darf die Schwangeren nur noch in Ausnahmefällen entbinden. Zudem ist sie eine Anhängerin von Käthe Kollwitz, kämpft für die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper und ihr Leben – sie sollen selbst entscheiden, ob sie ein Kind bekommen wollen oder nicht. Darum wehrt sich Hulda vehement gegen den §118 und nennt den Frauen bei Bedarf eine sichere Adresse. Dabei sehnt sich immer öfter nach einem eigenen Kind.

Auch die Kluft zwischen ihrer und Johanns Welt erscheint ihr an manchen Tagen unüberwindlich. Mit ihm könnte sie endlich glücklich sein, aber die Unterschiede zwischen seiner Familie und ihr sind ihr zu groß, die Interessen, Ansichten und Vorstellungen zu verschieden. Zudem machen seine Eltern keinen Hehl daraus, dass Hulda nicht ihre Traum-Schwiegertochter ist. Und sie kann „ihren“ Kriminalkommissar Karl North nicht vergessen.

Anne Stern hat es wieder geschafft, mich ab der ersten Seite in Huldas Kosmos und die Berliner Atmosphäre der 20er Jahre zu ziehen. Seit 4 Bänden begleite ich Hulda nun schon, und noch immer entdecke ich neue Facetten an ihr, bleibt ihr Leben überraschend und spannend. Ellens Geheimnis bringt Hulda endlich ihrem Vater wieder näher, so erfährt man mehr über ihren familiären Hintergrund und langsam fügen sich die Puzzlestücke ihres Lebens zusammen.

Ich liebe und bewundere diese starke, empathische, selbständige und unabhängige Frau, die ihren Beruf mit Leidenschaft ausübt und nicht nur die Ehefrau eines gutsituierten Mannes sein will. Sie setzt sich immer wieder für andere und ihre Überzeugungen ein und verliert nie den Mut.

Und ohne zu viel verraten zu wollen, nach dem Ende jetzt bin ich natürlich extrem gespannt, wie es im nächsten Band weitergeht ;-)!

Bewertung vom 15.11.2021
Oetker, Alexander

Rue de Paradis / Luc Verlain Bd.5


sehr gut

Das gallische Dorf

„… es ist ein Sturm. Ein fieser Sturm, sonst nichts. Wir haben schon schlimmere Sachen überstanden. … Wir schaffen das.“ (S. 14) sagt Philippe Deschamps, der Bürgermeister des kleinen Örtchens am Cap Ferret, in einer verhängnisvollen Nacht im März, als er das Dorf eigentlich evakuieren lassen soll. Aber dann würde herauskommen, dass die Häuser in der Rue de Paradies illegal in der Naturschutzzone gebaut wurden und er das möglich gemacht hat. Die Sturmflut lässt die Düne brechen und überflutet das Gebiet. Eine ältere Bewohnerin ertrinkt.
Mühsam bauen die Einwohner alles wieder auf. Doch ein halbes Jahr später kommt der Schock – auf Anweisung des Innenministeriums sollen alle Häuser in der Rue de Paradies abgerissen werden. Die Gefahr ist zu groß, dass sie bei der nächsten Sturmflut wieder absaufen. Alle Häuser? Nein, das des Bürgermeisters darf bleiben, weil es weiter oben steht. Die Emotionen kochen hoch. Commissaire Luc Verlain soll vermitteln und sie zur freiwilligen Umsiedlung überreden. Da kommt wieder ein Sturm auf, die Düne bricht ein weiteres Mal und der Bürgermeister wird ermordet. Abgeschnitten von der Außenwelt und auf sich allein gestellt, beginnt Luc noch in der Nacht, den Mord aufklären. Schnell stellt fest, dass der Tote viele Feinde hatte …

Alexander Oetker hat es geschafft, von Beginn an eine extrem dichte und bedrückende Atmosphäre zu schaffen und den Krimi in ein Kammerspiel zu verwandeln. Das liegt zum einen an der Lage des kleinen Örtchens, am Ende des Cap Ferret, zwischen dem Bassin d'Arcachon und dem Atlantischen Ozean. Und zum anderen an der Sturmflut, bei der man sofort die Bilder des Ahrtals vor Augen, die alles vernichtenden Wasser- und Schlammlawinen. Dann wird Luc zusammen mit den letzten Bewohnern auf engstem Raum eingeschlossen, das Wasser steigt, der Strom fällt aus, das Handynetz bricht zusammen. Von den ersten Gesprächen weiß er, dass alle ein Hühnchen mit dem Bürgermeister zu rupfen hatten. Er hatte ihnen gedroht, ihre dunkelsten Geheimnisse zu verraten, wenn sie nicht freiwillig gehen wollten. Und er wusste alles! Deschamps war ein smarter Typ, ein Menschenfänger der sein Gegenüber überzeugen oder einlullen konnte und damit erpressbar machte. Aber wer von ihnen hat jetzt die Nerven verloren oder die Gunst der Stunde genutzt, um ihn loszuwerden?

„Rue de Paradies“ ist bereits der fünfte Teil der Luc-Verlain-Reihe von Alexander Oetker, kann aber unabhängig von den ersten Bänden gelesen werden – wobei ihr da was verpassen würdet. Und obwohl ich diesmal relativ früh einen Verdacht bzgl. des Täters und Motivs hatte, hat es mich so gefesselt, dass ich das Buch am Stück bis kurz vor Mitternacht ausgelesen habe.
Neben dem wirklich spannenden Fall machen auch das gelungene Setting, die raue Küstenlandschaft, die landestypischen Gerichten und passenden Weine diese Reihe so perfekt für einen kriminellen Ausflug an Frankreichs Atlantikküste.

Bewertung vom 13.11.2021
Feyerabend, Charlotte von

Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson


sehr gut

Die heimliche Königin Schwedens

„… wenn ich schreibe, dann passt zwischen die Welt und mich kein Blatt, dann bin ich nur noch eine dienende Hülle meiner Gedanken.“ (S. 32)
Selma Lagerlöf war eine Frau voller Widersprüche. Mit den Märchen, Sagen und Legenden ihrer schwedischen Vorfahren aufgewachsen, liebt sie alles Mystische und glaubt an die Trolle und Feen ihrer Heimat. Trotzdem strebt allem Neuen und Modernen zu, setzt sich für eine bessere Schulbildung, die Gleichberechtigung und das Frauenwahlrecht ein und liebt die Annehmlichkeiten moderner Technik. Sie war ein Vorbild für viele Frauen jeder Altersklasse und aus aller Herren Länder, erhielt und schrieb unzählige Briefe und unterstützte zeitlebens nicht nur ihre eigene Familie, sondern auch Freunde, Bekannte, ihre Angestellten und Bittsteller.

Charlotte von Feyerabend zeigt in ihrem Buch viel von Selmas privater Seite. Man kann ihr förmlich ins Herz und Hirn sehen, ist bei den Entstehungsprozessen ihrer berühmtesten Werke dabei und den Dramen, die die beiden Frauen ihres Lebens mit- und gegeneinander ausfechten.
Selma war schon immer anders, hielt sich nie für hübsch, wollte bereits als Kind ein Mann sein, der schöne Frauen lieben darf, und hinkte (wahrscheinlich aufgrund einer Kinderlähmung). Doch sie hat sich deswegen nie einschränken lassen, machte ihr Leben lang Gymnastik, reiste viel und las alles, derer sie habhaft werden konnte, um sich universell zu bilden.

„Kontrolle war eins ihrer Lebensmottos, neben dem starken Willen und dem Fleiß.“ (S. 13) Die Autorin zeichnet das Bild einer pflichtbewussten und disziplinierten Frau voller Träume und Ideen, die um ihre Unabhängigkeit von Männern und ihrem Brotberuf (sie war Lehrerin) kämpfte. Sie zeigt Selmas Ringen um Ideen und Anerkennung – auch monetäre (!), denn sie muss immer wieder auf ihr (Urheber-)Recht und eine angemessene Bezahlung drängen.
Auch die Dreiecksbeziehung zwischen Selma und ihren beiden Gefährtinnen wird sehr respektvoll beschrieben, obwohl da wohl ganz schön die Fetzen geflogen sind. Ich habe Selma für ihren Mut bewundert, im Rahmen ihrer Möglichkeiten (Geld, gesellschaftliche Normen etc.) so zu leben, wie sie wollte. Zudem hat mich fasziniert, dass sie es wirklich geschafft hat, dass vom Vater durch Schulden verlorene Hofgut der Familie wieder zu erwerben und aufzubauen, und damit den Menschen der Umgebung Arbeit zu geben. Sie hat immer versucht, anderen zu helfen und machte sich auch gegen die Nationalsozilisten stark.

Der sehr poetische, etwas ausschweifende und bildliche Erzählstil erinnert an den Selmas und lässt Land und Leute zu ihrer Zeit lebendig werden, machte es mir aber z.T. etwas schwer, der Handlung zu folgen. Ich hätte mir an einigen Stellen auch noch mehr Details und Fakten gewünscht (z.B. über das Buch Nils Holgersson, das ja eigentlich als Schulbuch konzipiert war, und ihren gleichnamigen Adoptivsohn), aber da nur Fragmente ihres Lebens erzählt, einiges nur angerissen wird und zum Teil sehr große Zeitsprünge in der Handlung sind, was das wahrscheinlich nicht möglich.

Trotzdem ist „Selma Lagerlöf - sie lebte die Freiheit und erfand Nils Holgersson“ eine sehr empfehlenswerte Romanbiographie über eine beeindruckende Frau.