Benutzer
Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 520 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2019
Kreutner, Bernhard

Der Preis des Lebens


gut

Organtransplantationen sind vermutlich auf der ganzen Welt ein wichtiges Thema. Fakt ist: es gibt zu wenig Spenderorgane. Und dann gibt es Menschen, die aus der Not derjenigen, die auf ein Organ warten, Kapital schlagen und ihnen ebendiese besorgen. Auf Kosten von irgendwem. Wildfremde Menschen werden zu Opfern einer Organ-Mafia, weil sie zu fast 100% kompatible Spender sind. Unfreiwillige Spender. Deren Tod nur dem einen Zweck dient: einem solventen Empfänger zu helfen.
So weit so altbekannt.
„Der Preis des Lebens“ von Bernhard Kreutner beschäftigt sich mit dem Thema Organhandel/Organraub. Aber auch damit, dass dieser Raub erst durch clevere Hacker und schlaue Informatiker möglich wird, die eine ebenso wichtige Rolle dabei spielen, wie die ausführenden Ärzte. In einer Zeit von Big Data, in der Datenschutz ein schönes Wort, aber kein haltbares Versprechen ist.
Das Buch ist ziemlich spannend, aber durch den österreichischen Dialekt in der Schreibung für mich ziemlich holprig zu lesen, auch der Aufbau der österreichischen Polizei wird mir vermutlich auf ewig ein Rätsel bleiben, bei dessen Lösung mit das Buch nicht weiterhelfen konnte. Die Charaktere, obgleich detailliert beschrieben, bleiben eher blass, ich konnte zu keinem größere Sympathien aufbauen. Eher wirken sie als Rahmenwerk für die Geschichte, denn als Mitwirkende. Auch die am Anfang sehr hohe Spannung kann der Autor nicht konstant aufrechterhalten.
Das Buch ist gruselig, ohne ein Horror-Roman zu sein. Oder ist es einer? Organmafia kennt man aus Entwicklungsländern. Organhandel ist ebenfalls kein Neuland. Aber unfreiwillige Organspenden mitten in Europa? Sicher ist der Roman fiktiv, aber nicht unmöglich. Gier und Not und die Möglichkeit, Dank Datenklau („Big Data is tracking you“) beides miteinander zu kombinieren, schafft einen Nährboden für kriminelle Machenschaften. Daher lässt einen das Buch mit einem unguten Gefühl in der Magengegend zurück. Wegen der rasch abflachenden Spannung, der großen Dialog-Lastigkeit, der für nicht-Österreicher zum Teil schwer verständlichen Sprache und der (meiner Meinung nach) nicht immer passenden philosophischen Zitate 3 Punkte.

Bewertung vom 04.11.2019
Marrs, John

Die gute Seele


ausgezeichnet

„Vier Stunden später war es an der Zeit, dass ihre Mutter erfuhr, wie man sich fühlte, wenn jemand mit einem spielte“. Dieser Satz ist in John Marrs‘ „Die gute Seele“ sehr bezeichnend. Denn darum geht es: Psychospielchen. Manipulatives Verhalten. Hinterhältigkeit. Und Aggressivität, Perfidität und die tiefsten Abgründe menschlichen Verhaltens.
Im Englischen heißt das Buch von John Marrs „The good Samaritan“. Dieser Titel weist direkt auf die Aufgabe hin, die die Hauptfigur hat: nämlich ehrenamtlicher Dienst bei der Telefonseelsorge. Denn das ist es, was Laura macht. Aber sie ist nicht gut, vielleicht hat sie noch nicht einmal eine Seele. Und eine gute Samariterin ist sie schon gar nicht. Tief in ihrem Inneren schlummert das abgrundtief Böse.
Anfangs fand ich das Buch enorm zäh und es für mich schwer in die Geschichte zu finden. Lauras ehrenamtlicher Dienst bei der Telefonseelsorge tröpfelt so dahin, man erfährt etwas über sie und ihre Familie, ihren Mann Tony, ihre beiden Töchter und den schwerbehinderten Sohn Henry. Und über ihre Kindheit in Pflegefamilien, nachdem sie ihre Herkunftsfamilie verloren hatte. Und schlagartig wird das Buch von fade und langweilig zu einer zutiefst verstörenden Mischung aus Psychothriller und tiefem Einblick in eine zutiefst gestörte Seele. Nichts, aber auch gar nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint, jede der Figuren lebt in ihrer eigenen Realität und hat eine eigene Sicht auf die Dinge. Welche stimmt? Man weiß es nicht. Aber eines weiß man: Laura ist eine Frau, für die es keinen schöneren Klang auf der Welt gibt, als den letzten Atemzug eines Menschen.
Die Personen verstricken sich allesamt so tief in Manipulationen, dass irgendwann keiner mehr weiß, was wahr ist. So ziemlich jeder findet im Laufe des Buches einen Gegenpart, der noch manipulativer ist und tatsächlich noch unterschwellig böser. Trau, schau, wem – nach einigen Seiten, bei denen ich mich zum Lesen zwingen musste, trotz mancher zu verwirrender Plottwists für die hervorragende Idee und die über weite Strecken sehr gekonnte Umsetzung von mir ganz klare 5 Sterne.
Ein paar holprige Übersetzungen und ein Logikfehler fielen mir dennoch auf. Laura gibt ihrem ehemaligen Pflegebruder Nate einen 10 Euroschein. Im Britischen Northampton eher unwahrscheinlich, denn nach wie vor wird auf der Insel in Pfund bezahlt.

Bewertung vom 30.10.2019
Froböse, Ingo

Raus aus der Tablettenfalle!


sehr gut

Mal vorneweg. Das Buch ist gut geschrieben, sauber und gründlich recherchiert. Die Sprache ist nah am Leser, verständlich und einfach. Prof. Dr. Ingo Froböse erläutert anhand von Statistiken und Studien, wieso Medikamente oft nicht nötig sind. Er zeigt Wege auf, wie man Krankheiten vermeiden kann oder bestehende Leiden bessern kann. Einfache sportliche Übungen fehlen in dem Buch genauso wenig wie Ernährungsempfehlungen und Trainingspläne. Dankenswerterweise fehlt auch der Hinweis nicht, dass Männer, Frauen und Kinder substanziell verschieden sind und daher eigentlich anders behandelt werden müssten.
Der Autor behandelt die Themen Schmerz (Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Arthrose) genauso wie Bluthochdruck, Diabetes und erhöhtes Cholesterin. Bei alldem kann eine Veränderung in der Lebensweise hilfreich sein.
Es ist auch schön zu lesen, dass der Autor auch im Alter von 60 Jahren keinerlei Medikamente nimmt. Nehmen muss. Aber bei mir als Leser hinterlässt dieser erhobene Zeigefinger ein etwas unbehagliches Gefühl. Natürlich führt er ein gesundes Leben. Und ist daher gesund. Obwohl er betont, es ginge ihm nicht um Schuld, fühlte ich mir unterschwellig schuldig. Wegen einer chronischen Erkrankung bei der täglicher Sport, Normalgewicht und ausgewogene Ernährung nicht helfen, die mich täglich auf Tabletten angewiesen sein lässt. Daher stieß mir die Polemik, mit der der Autor Bewegung als Heilmittel für viele Krankheiten (auch in der Vorbeugung) anpreist, an mancher Stelle unangenehm auf. Diese Vehemenz zeigt aber auch deutlich, dass er kein Arzt ist, sondern Sportwissenschaftler.
Er vernachlässigt meiner Meinung nach sträflich diejenigen, die auf Medikamente angewiesen sind. Denn tatsächlich sind Antidepressiva keine lustigen Stimmungsaufheller für diejenigen, die nur zu faul sind, Sport zu machen und deshalb schlecht drauf sind. Vielleicht bin ich bei diesem Abschnitt sehr sensibel, aber Sport als Allheilmittel zu propagieren finde ich verwerflich denen gegenüber, die beispielsweise aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts unter schweren Depressionen leiden. Da hilft auch der beste und ausdauerndste Sport nicht.
Nichts destotrotz ist das Buch ein lesenswerter Überblick über die Möglichkeiten, auf Medikamente verzichten zu können. Aber es ist keineswegs eine Anleitung und auch ganz sicher nicht der alleinseeligmachende Weg. Der Leser muss seinen eigenen Weg finden, kritisch mit sich, seinen Leiden und den Medikamenten in seinem Leben umgehen. Wirkungen, Nebenwirkungen und Leidensdruck abwägen. Und diesen Punkt vernachlässigt der Autor meiner Meinung nach sehr stark.

Daher von mir wegen des großen Informationsgehalts (auch über das Prozedere bei der Zulassung von Medikamenten, einigen Vorgängen im Körper und den guten Anregungen für ein gesundes Leben) 3,5 Punkte, aufgerundet auf wohlmeindende 4.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2019
Fölck, Romy

Sterbekammer / Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn Bd.3


ausgezeichnet

Nachdem ich „Totenweg“ und „Bluthaus“ von Romy Fölck gelesen hatte, habe ich die Veröffentlichung des neuesten Bandes um die Polizistin Frida Paulsen mit Ungeduld erwartet. Und das ganz offensichtlich völlig zu Recht! Mit „Sterbekammer“ hat die Autorin einen enorm spannenden Krimi abgeliefert, den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte.
In gewohnter Manier nimmt Romy Fölck ihre Leser mit in die Elbmarsch, wo auch schon die beiden Vorgängerbände spielten. Und wieder gibt es einen Toten in der idyllischen Landschaft. Und parallel dazu einen alten Vermisstenfall, die vermisste junge Frau tritt immer wieder in einzelnen Kapiteln in Erscheinung, in denen der Leser ihre Gedanken und Gefühle lesen kann. Aber ist sie noch am Leben? Ist die versteckte Kammer unter der Küche des toten alten Mannes die „Sterbekammer“ aus dem Titel? Hängen die beiden Fälle zusammen und ist sie das einzige Opfer eines mysteriösen Entführers? Näher kann und möchte ich auf den Inhalt nicht eingehen. Ich möchte hier nicht zu viel verraten.
Man trifft auf alte Bekannte (Fridas Eltern, die wie schon in den anderen Büchern um die Existenz des familieneigenen Apfelhofes kämpfen, ihr Kollege Bjarne Haverkorn und auch ihre Freundin Jo sind wieder dabei, letztere allerdings nur als Randfigur). Neu in der Runde ist der jung-dynamische neue Chef der Mordkommission Nick Wahler. Aber obwohl es der dritte Band der Reihe um Frida Paulsen ist, ist er in sich völlig abgeschlossen und man kann ihn separat problemlos verstehen.
Inhaltlich ist der Krimi solide konstruiert und sauber aufgebaut. Der Spannungsbogen ist latent das ganze Buch über konstant, wird aber durch die Einblicke in die Privatleben der Ermittler angenehm unterbrochen und die Autorin gönnt dem Leser damit kurze Verschnaufpausen. Die Charaktere sind so beschrieben, dass man als Leser ein sehr deutliches Bild vor Augen hat. Bei mir entwickelten sich schnell Sympathien und Antipathien. Und auch die Abgründe der menschlichen Psyche skizziert die Autorin gewohnt gekonnt.
Das Buch ist spannend bis zum (für mich aber nicht sehr überraschenden) Schluss. Der Schreibstil ist sehr angenehm und flüssig, die Sprache alltagsnah und einfach. 5 Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.

Bewertung vom 23.10.2019
Leadbeater, David

Relic Hunters


weniger gut

Auf der einen Seite ein extrem gut organisierter brutaler Geheimbund. Auf der anderen ein knallhartes Elite-Team. Leichen pflastern die Wege beider Seiten. Es wird geprügelt, geschossen, gemordet. Weswegen? Wegen eines der sieben Weltwunder, von denen jahrelang angenommen wurde, dass es nicht mehr existiert.
Insgesamt könnte es ein tolles Buch sein. Für mich war es das nicht. Es las sich wie ein müder Abklatsch von Dan Browns Romanen, lang, langatmig, brutal, aber nur stellenweise spannend. Schade, denn eigentlich hatte das Thema sehr viel Potenzial, das der Autor nicht wirklich ausschöpfen kann. Mich konnte das Buch nicht fesseln und nicht begeistern.
Von mir 2 Punkte für den teilweise vorhandenen Spannungsbogen.

Bewertung vom 21.10.2019
Stranger, Simon

Vergesst unsere Namen nicht


ausgezeichnet

Von A bis Z ein Werk gegen das Vergessen
Stolpersteine hat sicher so gut wie jeder schon einmal gesehen. Aber nur wenige verbinden mit den Namen darauf eine Geschichte, Gesichter und Schicksale. Anders bei Simon Strange, dem Autor von „Vergesst unsere Namen nicht“. Er erzählt ausgehend vom Stein für Hirsch Komissar die Geschichte seiner Frau Rikke und deren Familie.
Und nicht nur dieses ganz persönliche Schicksal bringt der Autor dem Leser näher. Nicht zeitlich linear, sondern gegliedert in Stichworte von A bis Z, verflicht er Familiengeschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Norwegen, vor allem mit den grausamen Taten von Henry Oliver Rinnan und seiner „Rinnan-Bande“ in und um Trondheim. Rinnan widmet Stranger einen großen Teil des Buchs, seiner Entwicklung von einem kleinen, schmächtigen Vorgartengangster (er beklaute seinen Arbeitgeber) zu einem Doppelagenten, Folterknecht und mehrfachen kaltblütigen Mörder. Am Rande dokumentiert er knapp, aber nicht minder bedrückend, die Geschichte des Juden-Hasses, der Juden-Verfolgung und der Pogrome. Lässt aber auch diejenigen nicht unerwähnt, die ihr Leben riskierten, um Menschen aus Norwegen nach Schweden, und damit in Sicherheit, zu bringen.
Hirsch Komissar wurde 1942 als eine Art Vergeltungsmaßnahme erschossen – für eine Tat, mit der er nichts zu tun hatte, vermutlich nicht einmal davon wusste. Direkt hat seine Geschichte auch nichts mit der „Rinnen-Bande“ zu tun, außer, dass sie beide aus derselben Gegend stammen. Später zieht Gerson, einer der Söhne von Hirsch Komissar mit seiner Familie allerdings in eben das Haus ein, in dem Rinnen Verdächtige foltern ließ, selbst folterte und mordete, in das sogenannte „Bandenkloster“. Eine perverse Koinzidenz. Vor allem, weil das Haus, obwohl es in der Zwischenzeit sogar als Kindergarten genutzt wurde, immer noch die Spuren der Gräueltaten trägt, wie zum Beispiel Kugeln in den Kellerwänden oder einem Beutel mit ausgerissenen Fingernägeln, die die Kinder im Dachgeschoss finden.
Stranger setzt einerseits dem (ihm natürlich unbekannten) Urgroßvater seiner Frau ein eindrückliches Denkmal, erzählt Ausschnitte aus seinem Leben und Sterben. Andererseits dokumentiert er den Aufstieg von Henry Oliver Rinnan anhand von Original-Unterlagen sehr präzise. An manchen Stellen schildert er sie für mich fast zu präzise.
Alles in allem ist das Buch alles andere als leichte Kost. Es ist trotz der gefälligen Sprache beileibe keine Unterhaltungs-Lektüre. Im norwegischen Original trägt das Buch den Titel „Lexikon von Licht und Dunkelheit“ – auch das passt hervorragend. Allerdings ist der deutsche Titel auch nicht ganz unpassend gewählt. Denn im jüdischen Glauben heißt es, dass man zweimal stirbt. Einmal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und das Gehirn sich abschaltet. Aber ein zweites Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, wann auch immer das sein wird. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Tot ist nur, wer vergessen ist.
Es ist ein leises, ruhiges und trotz der vielen Grausamkeiten angenehm unaufgeregtes Buch. Es (be)wertet nicht, prangert nicht an, diese Gewichtung überlässt der Autor dem Leser. Es beschreibt nur. Einen Aspekt des Holocaust (nämlich den in Norwegen), von dem ich bislang nur sehr wenig wusste. Ein Buch, das die Erinnerung an die Opfer und damit sie selbst am Leben hält, lange über ihr Dasein hinaus.
Ein bedrückendes Werk, vor allem in der heutigen Zeit. Und trotz der Angst, die das Buch hinterlässt, trotz des unguten Gefühls und der schlaflosen Nacht, die es mir beschert hat, weil ich es nicht aus der Hand legen konnte – ein absolutes Muss!

Bewertung vom 21.10.2019
Korten, Astrid

WO IST JAY?


ausgezeichnet

„Die Hölle, das sind die anderen“ – dieser Satz aus Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ fiel mir bei der Lektüre von „Wo ist Jay“ von Astrid Korten immer wieder ein. Der Psychothriller vereint alles, was das Genre so lesenswert macht: harmonische Fassaden verstecken tiefste Abgründe, Narzissmus läuft neben Profilneurose und ganz dominant: Neid, Missgunst und blanker Hass.
Dabei ist die Geschichte an sich nichts Neues: eine Frau verlässt ihren Mann und die beiden Kinder. So sehen es auf jeden Fall alle im Umfeld der Tierärztin Mia, als Jay verschwindet. Und sie ist von Anfang an die einzige, die davon überzeugt ist, dass Jay nicht einfach nur „verschwunden“ ist. Sie ist die einzige aus dem Freundeskreis, die darauf besteht, sie zu suchen, will als einzige die Polizei einschalten. Aber sie ist in der Clique auch die, die am naivsten ist. Alle anderen haben ihre Leichen im Keller und sei es auch nur die eigene traurige Existenz.
Im Verlauf des Buchs kommen über jeden einzelnen, vor allem aber über die verschwundene Jay, Dinge zutage, von denen niemand wusste, von denen niemand wissen sollte. Die Mitglieder des Freundeskreises agieren über weite Teile des Buchs nach dem Motto „Regel Nr. 1, jeder macht seins“ – außer, wenn nach irgendeiner Seite Zwietracht gesät werden kann. Im Austeilen sind (mit Ausnahme von Mia) alle gut, im Anschluss wird dann gekränkte Eitelkeit zur Schau gestellt.
Anfangs tat ich mich mit dem Buch wegen der durcheinandergewürfelten chronologischen Reihenfolge schwer, da fehlte mir erst die Linearität. Aber nach kurzer Zeit hielt mich das Buch völlig gefangen. Nicht zuletzt, weil es etwas beschreibt, das wohl jeder der Leser kennt: Freundschaft, Liebe und Familie, aber auch Neid und Hass. Und das alles mitten in Aachen. Jay verschwand an eine Ort, an dem mich auch ab und zu laufe (Kaiser-Friedrich-Park, Hangeweiher). Was für ein Gänsehaut-Faktor!
Es ist ein sehr unbehagliches Gefühl, mit dem das Buch den Leser zurücklässt. So viele hübsche Fassaden, so viel Unzufriedenheit, so viele Lügen – so viel schöner Schein auf so wenigen Seiten! Da stellt man alle Freundschaften doch mal in Frage, die man so pflegt. Denn, wer solche Freunde hat, wie in diesem Thriller, der braucht echt keine Feinde mehr. Denn in dem Buch ist nichts, aber absolut gar nichts so, wie es nach außen aussieht. Die Charaktere, meiner Meinung nach vor allem die der weiblichen Protagonisten, sind sehr tiefgründig beschrieben. Sympathisch ist eigentlich nur Mia, trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer Naivität und ihrer Besessenheit, Jay zu finden.
Enorm spannend, psychologisch enorm verstörend und eine absolute Lese-Empfehlung von mir.

Bewertung vom 17.10.2019
Seppelt, Hajo

Feinde des Sports


sehr gut

Da ich die Reportagen von Hajo Seppelt im Fernsehen verfolge, brachte mir das Buch so gut wie keine neuen Erkenntnisse. Die meisten Recherche-Ergebnisse kannte ich ohnehin schon. Dennoch liest sich das Buch irgendwie wie ein ziemlich spannender Krimi, allerdings ohne Schluss-Akkord. Denn es gäbe für dieses Dilemma, in dem sich der Leistungssport befindet, nur eine Lösung: er muss sauber werden. Und das wird er nicht. Zu groß sind die Interessen aller: die der Sportler, der Trainer, der Funktionäre und der Regierungen der Staaten, unterstützt von denen, die sie eigentlich kontrollieren sollten und natürlich von Ärzten, Chemikern und anderen, die das alles ermöglichen. Die Geschichte des Dopings wird also jeden Tag weitergeschrieben und es ist kein Ende in Sicht. So viel ist aus Hajo Seppelts Buch herauszulesen.
Das Buch ist keine Gesellschaftskritik (höchstens zwischen den Zeilen), sondern eine Auflistung der Recherche-Arbeit, die Seppelt und sein Team über die Jahre geleistet haben, samt Ergebnissen. Oft führten die Nachforschungen zu Sperren oder Verurteilungen, aber oft hatten sie auch keine Konsequenzen. Das Buch an sich ist auch ein guter Überblick über das Doping an sich: die verschiedenen Formen des Dopings (von Blutdoping bis zum Cocktail aus Wachstumshormonen und Steroiden), die Sportler, die des Dopings überführt wurden und in welchen Ländern und Sportarten es gehäuft vorkommt. Es ist ein Buch, das unglaublich viele Namen nennt, Fakten darlegt, die Ergebnisse aus vielen Jahren Recherche. Nicht mehr und nicht weniger.
Mich als Hobby-Sportler, der Leichtathletik sonst mit großem Interesse verfolgt, lässt das Buch mit einem unbehaglichen Gefühl zurück. Jeder neue Rekord ist in Frage zu stellen, irgendwie schürt das Buch einen Generalverdacht für alle, die erfolgreich sind. Ob zu Recht, muss jeder Leser selbst wissen. Für mich hatte der Sport hat seinen Charakter schon lange vorher verloren, seine Spannung und den Wettkampf-Geist. Höher, weiter, schneller, oder wie Eliud Kipchonge, der am 12.10.2019 als erster Sportler den Marathon unter 2 Stunden lief sagte: „No human is limited.“ [sic] also: für den Menschen gibt es keine Grenzen.
Meisterwerk ist das Buch keines, weder sprachlich noch inhaltlich, der Autor ist kein Schriftsteller, sondern Journalist. Aber es ist ein guter Fakten-Überblick und bekommt deshalb von mir klare und ungedopte 4 Punkte.

Bewertung vom 10.10.2019
Woelk, Ulrich

Der Sommer meiner Mutter


ausgezeichnet

„Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“

Mit diesem Satz wirft der Autor novellengleich den Leser mitten in die Geschichte und mitten in sein Leben. In ein Leben voller Umbrüche, neuer Entwicklungen, Entdeckungen und Chaos.

Es ist die Welt meiner Eltern und Großeltern, für mich als Leser, der 1977 geboren wurde, ist sie fremd. Den „Summer of Love“ kennt man aus Filmen, die Spießigkeit der Vorstadtsiedlung (im Buch ist es Köln, könnte aber jede beliebige Stadt dieser Zeit sein) ebenso. Es ist die Zeit der Mondlandung, der Proteste und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und die der Emanzipation.,

Und mittendrin ist der elfjährige Tobias. Hin- und hergerissen zwischen seiner Begeisterung für die Mondlandung und den ersten erotischen Erfahrungen mit Rosa, der Tochter der neuen Nachbarn. Und nicht nur er erlebt Neues. Auch seine Mutter versucht, sich vorsichtig aus der Spießigkeit und der Enge des Patriarchats zu befreien. Mit neuen Kleidern und einem Job. Sie erlebt mit den neuen Nachbarn (einem Philosophieprofessor und seiner Frau, die als Übersetzerin arbeitet), dass sie mehr ist, als nur das Heimchen am Herd, das in den Augen des Ehemannes „nicht richtig funktioniert“.
„Es war wie so oft: durch meine Mutter erlebte ich Dinge und mein Vater erklärte sie mir“, sinniert Tobias. Und der Vater ist ein Mann seiner Zeit. Er ist der Ernährer, seine Frau hat zu funktionieren. Er hätte gerne mehr Kinder gehabt, sie ist ihm aber nicht so zu Willen, wie er es gerne hätte. Auch ihre Bestrebungen, sich als Übersetzerin zu versuchen, findet er falsch („Es gefällt mir nicht, wenn du arbeitest. Was sollen unsere Freunde denken? Oder meine Kollegen? Dass es nicht reicht, und wir auf einen Zuverdienst angewiesen sind? Es wäre peinlich für mich, das muss dir klar sein.“).
Wie die Geschichte ausgeht, weiß der Leser vom ersten Satz an. Wieso es dazu kommt, erfährt er auf den letzten paar der nur knapp 190 Seiten.
Das Buch ist trotz des tragischen Ausgangs keine wirkliche Tragödie, dafür ist alles viel zu nüchtern und exakt beschrieben, ich konnte keine wirklichen Sympathien für irgendeinen Charakter entwickeln. Der erwachsen gewordene Tobias blickt auf die Zeit zurück, beschreibt sie sachlich, fast wissenschaftlich. Interessant für mich die Beschreibung der Vorstadt-Idylle, die tatsächlich ja keine ist. Eine Idylle voller Bügelfalten, gestärkten Blusen, wo man E605 noch gegen Ungeziefer einsetzen konnte und man Kinder „früh, aber behutsam an Alkohol heranführen“ sollte. „Das ist der beste Weg zu lernen, später damit umzugehen.“
Erzählerisch hatte das Buch für mich keinerlei Spannung. Psychologisch, vor allem entwicklungspsychologisch und historisch steckt allerdings unfassbar viel drin. Die Kontraste zwischen den beiden Nachbarsfamilien, sowohl bei den Eltern als auch bei den beiden Kindern und die Entwicklungen, die angestoßen werden, sind enorm spannend. Die Umbrüche, sowohl in der Gesellschaft im Allgemeinen, als auch in den Familien im Speziellen und im Leben von Tobias – für mich stand mehr zwischen den Zeilen als in ihnen. Insgesamt für mich ein interessantes Buch, die Mischung aus Novelle und Coming-of-Age Roman ist dem Autor geglückt. Er hat den Zeitgeist der späten 1960er Jahre hervorragend eingefangen und beschrieben. Für mich eine klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2019
Langenbein, Volker

Totengräbers Tagebuch


sehr gut

„Totengräbers Tagebuch“ – ein schlichter Titel für einen im ersten Augenschein auch eher schlichten Roman, gedeckelt von einem schlichten Titelbild. Sprachlich sehr schlicht gehalten, viel Umgangssprache und derbes Vokabular – keine Literatur, sondern der Bericht von einem aus dem Volk. Und dennoch ein ziemlich eindrücklicher Entwicklungs- oder Coming-of-Age-Roman.
Und der Leser entwickelt sich zusammen mit der Hauptfigur Rusty, der vom Kleinkriminellen erst zum Gärtnergehilfe auf dem Friedhof und dann nach einem Jahr zum Totengräber wird und letztendlich seinen „eigenen Friedhof bekommt“. Und nicht nur beruflich entwickelt er sich weiter. Anfangs ist er noch ein ziemlicher Chaot. Mich als Leser überraschte seine komplett fehlende Allgemeinbildung. Er kannte weder die Begriffe Gebeine, Aufbahrung, Totenstarre oder Leichenflecken, musste lernen, wie Wachsleichen entstehen und wie Verwesung funktioniert. Nun gut, so kann der Leser eventuell mit Rusty noch was dazu lernen.
Und nicht nur das. Er lernt Menschen kennen und verstehen, lebende und tote, und damit lernt er etwas für sein Leben. Er lernt, was Mitleid, Pietät und Mitgefühl sind und erkennt, dass seine ehemaligen Freunde nicht mehr in sein neues Leben passen. Er entwickelt sich und wandelt sich völlig – nicht zu seinem Nachteil, und auch nicht zu dem seines Umfelds, vor allem positiv für seine Kollegen und seine Frau.
Anfangs tat ich mich mit dem Buch sehr schwer. Der derbe Schreibstil, die zum Teil sehr flapsige Sprache – alles sehr ungewohnt für mich. Und auch das Thema Totengräber, Friedhof und Bestattung war mir zwar nicht ganz fremd, aber auch nicht vollkommen geläufig. Vor allem die vielen Aufgaben, die die Totengräber übernehmen (müssen). Vieles davon wird andernorts vom Bestatter übernommen (das Abholen der Verstorbenen, das Herrichten für die Bestattung und so weiter). Da gibt das Buch einen tiefen Einblick. Nicht nur in das ganz Offensichtliche, sondern auch in das, was der Beruf mit den Menschen macht, die ihn ausüben.
Da sich das Buch aber gegen Ende sehr zäh liest, von mir alles in allem 4 Sterne.