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Frankfurt

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Insgesamt 789 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2022
Schirach, Ferdinand von

Nachmittage


sehr gut

Ehrengast oder Hofnarr?

Ferdinand von Schirach hat mit ‚Kaffee und Zigaretten‘ eine sehr lesenswerte Zusammenstellung an Geschichten geschrieben. Der damals noch praktizierende Anwalt, ist heute mit seien 58 Jahren ein gefragter Schriftsteller, bekannt und immer gerne als Gast gesehen. Wer will auch seine eloquente manierliche Art missen wollen! Nun nach ‚Schuld‘, ‚Verbrechen‘, ‚Strafe‘ und wie sie nicht alle hießen, kommt nun eine Weiterführung seiner sehr persönlich geprägten Geschichten in ‚Nachmittage‘. Wobei die 175 Seiten eher wie Fragmente, Anekdoten, Schnipsel einer Vergangenheit wirken, die fiktionalisiert wurden. In 26 Abschnitte, manche gerade mal eine Seite lang, erzählt von Schirach uns melancholisch von der Welt durch die Augen eines Ich-Erzählers, den ich beim Lesen dem Autor gleichgesetzt habe. Er geht auf Begegnungen ein, verwebt sie. Hebt Orte und Personen in einen Rahmen und wie in Gewohnter Manier ist die Pointe, wenn man so sie so nennen dürfte meist anders als erwartet. Der Schreibstil auch ganz seiner treu geblieben, sachlich, klar auf den Punkt, reduziert und ausdrucksstark. Durch die kurze Textform ist es ein wahrlicher Lesegenuss und macht viel Freude ihm förmlich beim Denken zuzuschauen. Auch der unfassbare Reiseschatz aus denen er schöpft von Tokyo über Paris ist grandios. Und doch ist dieser Band ein wenig anders: Melancholisch wie eh und je, aber doch oft der Liebe zugewandt.
Ich habe es gerne gelesen, aber der Aufschlag mit ‚Kaffee und Zigaretten‘ war noch besser. Auf jeden Fall verhilft von Schirach dem Stiefkind „Kurzgeschichte“ eindeutig mehr an Popularität zu gewinnen, was immer begrüßenswert ist!

Bewertung vom 19.09.2022
Brune, Kerstin

Die Jahre des Maulwurfs


ausgezeichnet

Herr Klotho reist nach Hause

Kerstin Brune debütiert mit einem ganz besonders tollen Roman und hat mich von ihrer Schreibkunst 100% überzeugt. Die erfahrene Gymnasiallehrerin und dorfgeborene nutzt ihren Erfahrungsschatz und bastelt uns daraus eine wunderbar liebevolle Geschichte über die eigene Heimat, den eigenen Blickwinkel und den Lauf der Zeit. In einer unbeschreiblich guten Prosa nutzt Kerstin Brune eine sehr poesievolle Sprache. Wer sie als wortgewandten und vor allem gut pointierte Sprücheklopferin von Twitter kennt (war Twitter-Kolumnistin des Zeitmagazins „Große Pause“), mag überrascht sein, dass auch die Langform hervorragend aus ihrer Feder geflossen ist. Trust me: Es ist gut!
Und wer ist eigentlich Herr Klotho? Das ist der ausgestopfte Maulwurf, der einst Tanja gehörte und nun das letzte ist was der Protagonistin geblieben ist von ihrer besten Freundin aus Kindertagen. Tanja, immer ein bisschen zu laut, immer ein bisschen drüber, immer ein bisschen zu viel, faszinierte die brave Erzählerin. Tanja ist eine Freundin, die man sich wünscht, die mit einem Pferde stiehlt und das bisschen Furcht zur Seite schiebt, dass man Ärger bekommt, wenn man sich nun doch traut Blödsinn zu machen oder besser gesagt, dass was die Erwachsenen als Blödsinn empfinden. Die rothaarige Tanja war anders und dann verschwand sie und blieb verschwunden.
Jahre später kommt nun die Erzählerin in ihr Heimatdorf zurück, offen ist der Anlass, aber es katapultiert sie zurück in ihre Kindheit und sie erkundet neu, reflektiert und setzt Erlebtes ins Verhältnis zu ihrer jetzigen Welt. Es macht Spaß ihr zu folgen und durch ihre Kinderbrille diesem Dorf zu begegnen und nun als Erwachsene. Diese Welt des Dorfes portraitiert Kerstin Brune mit ihren Schrullen und Macken genauso gut wie die den Zusammenhalt und die doch eigentlich liebevolle Art einander Nahe zu sein.
Fazit: Wir könnten alle ein wenig mehr Tanja gebrauchen in unseren Leben!

Bewertung vom 19.09.2022
Palm, Kurt

Der Hai im System


sehr gut

Der Tod kann mich am Arsch lecken

Drei Leben, drei Schicksale, drei Menschen, die alle ihre Probleme haben und damit leben müssen. Wir lernen den Polizisten Philipp Hoffmann kennen, der seiner schwangeren Frau untreu wurde und nun von seiner Geliebten erpresst wird mit brisanten Fotos. Dann ist da noch die Lehrerin Franziska Steinbrenner, die das Sorgerecht von ihrem Ex-Mann erstritten hat, aber sich sorgt, dass er es nicht hinnimmt. Und die explosivste Person im Dreigestirn ist ein Mann des Bundesheers, nach Quittierung des Dienstes hat er ein Sturmgewehr behalten, welches mit 42 Schuss geladen ist. Er ist enttäuscht, sinnt auf Rache und findet in kein passendes Leben zurück. Das die drei nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind im Laufe des Romans, steht außer Frage.
Was passiert hier eigentlich nicht? Dieses Buch ist sehr dicht in allem, in der Handlung, in der Intensität und der ungebändigten Katastrophe auf die alle zusteuern. Ja, eine thrillerhafte Handlung mit tiefen Kratern und Spuren der Verwüstung, die wir hier erblicken, wenn man in den gesellschaftlichen Abgrund blickt. Denn aus meiner Sicht geht es Kurt Palmer nicht um den Grusel sondern um die menschlichen Tragödien, die uns miteinander verbinden und zugleich entzweien. Das fatale Miteinander, dass zu einem Pulverfass werden kann. Eine psychologische Analyse.
Sprachlich mitreißend und auch mal hart am Limit, aber packend, ohne Frage. Das Kurt Palmer Österreicher ist merkt man dem Text an, was ich immer sehr charmant finde, dass es da doch Unterschiede im Sprachgebrauch gibt.
Das Cover ist unglaublich passend zum Buch gestaltet, nicht nur der Titel wird hier aufgenommen und wiedergespiegelt – auch ist es eine Szene im Buch die fast so stattfindet – fast.
Fazit: Wer Quentin Tarantino schaut, kann auch Kurt Palm lesen.

Bewertung vom 13.09.2022
Lo Chiatto, Michele

Alles andere ist eine Lüge


ausgezeichnet

Mafia – Wie rutscht man rein und wieder raus?

Nach der Lektüre hat mich erstaunt, dass dieser Roman im Selbstverlag erschienen ist und damit leider nicht unterstützt wird von der „Marketing-Maschinerie“ der großen Verlage! Deshalb falle ich gleich mit der Tür ins Haus: Es ist ein lesenswerter Roman!
Wer sich für Mafiastrukturen interessiert und wie handelnde Personen mit viel Gewalt und vor allem Macht ihre Entourage am Laufen halten, sollte dieses Buch lesen. Wie eine Schlange hat die Mafia die Bevölkerung in Neapel im Würgegriff. Es ist ein Roman wie schon erwähnt und kein Sachbuch, aber mir scheinen die zugrundeliegenden Verzahnungen und die ungeschriebenen Gesetzte so real, dass hier nicht von Fiktion die Rede sein kann.
Die Geschichte, die hier um Nino Alfieri erzählt wird, ist in der Tat ausgedacht und eine gute Rahmenhandlung. Nino wacht nach einem Mordanschlag auf ihn im Krankenhaus auf und weiß er muss weg sonst kriegen „sie“ ihn.
Er ist in Neapel und es passieren täglich viele unglaubliche Taten, da wird ein Mann auf der Straße mit einem Kopfschuss exekutiert, ein Hund wird von Schrotkugeln durchsiebt und ein Mann verblutet auf einer Straßenkreuzung. Was ist hier los?
Nino flüchtet nach dem Angriff auf ihn zu seiner Großtante, die auf einem entlegenen Bauernhof lebt, aber hier fühlt sich Nino wie ein Tiger im Käfig. Selbstmord oder aufdecken was hier geschieht? ‚Alles andere ist eine Lüge‘ ist ein spannendes Buch, dass harte Szene beinhaltet und eigentlich hofft man fortwährend, dass es so was im echten Leben nicht gibt, aber die Sorge wächst von Seite zu Seite, dass die Welt sehr viel schlechter ist als man ahnt.
Michele Lo Chiatto schreibt eingängig gut. Der Schreibstil gefällt mir. Spannend, aber doch reflektiert und die Charaktere sind gut gezeichnet.

Bewertung vom 12.09.2022
Storm, Andreas

Das neunte Gemälde / Lennard Lomberg Bd.1


ausgezeichnet

Kunsthistoriker auf der Spur von Beutekunst

Wir lernen Dr. Lennard Lomberg kennen, ein Mann der weiß was er geschafft hat und sich nach vielen Jahren in London nach einer Karriere im Auktionshaus Christie’s wieder nach Bonn begibt um dort als Kunstsachverständiger zu arbeiten. Sein Spezialgebiet: NS-Beutekunst, wir schreiben das Jahr 2016. Er hat auch eine Tochter Julie, die Anfang 20 ist und dabei ist ihre Karriere zu starten im investigativen Journalismus.
Lomberg bekommt einen Auftrag von einem gewissen Dupret ein vermisstes Gemälde – Das neunte Gemälde - wieder an die Besitzer zurück zu führen. Kurz darauf ist Dupret tot und Lomberg muss sich im Strudel der Geschehnisse zischen BKA-Untersuchungen der Chefermittlerin Röhm, dem zwielichten Detektiv Deveraux der auf der Spur des Gemäldes ist und seinem guten vertrauten Mentor sowie Freund Peter Barrington den Fakten stellen.
Die spannende Geschichte treibt uns nicht nur historisch in verschiedene Zeitebenen, denn die Geschichte nimmt zu Begin des 1. Weltkriegs seinen Lauf und spinnt die Fäden bis in die Gegenwart zu Lomberg. Auch treibt es uns durch Europa, von Bonn nach Paris und weiter nach Barcelona und zu vielen anderen Handlungsorten.
Andreas Strom hat die geschichtlichen Dimensionen aus meiner Sicht hervorragend mit den kulturellen Facetten verlinkt und das Schicksal einzelner spannend erzählt. Wer einen schnöden Krimi erwartet, bekommt mehr als er eventuell möchte. Ich fand es super!
Andreas Storm schreibt genau die Art von Spannungsliteratur die ich mag! Europäisch, historisch verankert und dazu noch spannend ohne in der Summe trivial zu werden. Besonders erfreulich an diesem Debüt ist, dass es ein Auftakt einer Krimireihe sein wird. Denn Storm ist bereits im Band 2 und dort spielt wohl der spanische Bürgerkrieg eine Rolle und er wird „Die Triada von Madrid“ heißen. Ich bin sehr sehr gespannt!
PS: Auch wenn es nichts mit dem eigentlichen Text zu tun hat, gefallen mir die Karten im Vorsatz sehr wie auch das Cover.

Bewertung vom 09.09.2022
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


sehr gut

Willkommen auf der Champollion!

Ich habe vorher nichts von Cay Rademacher gelesen, daher kann ich nichts im Vergleich zu seinen anderen Büchern sagen, aber mir scheint, dass er in anderen Kriminalfällen eine andere Schreibart hatte und eventuell Leser seiner anderen Krimis nicht voll auf ihre Kosten kommen.
Wir gehen hier zum Ende der 1920er Jahre gemeinsam mit einer interessanten Gruppe an Personen an Board der Champollion in Marseille. Die Reiseroute führt über den Port Said, den Suezkanal, nach Jemen und Oman. Dazu gibt es auf dem Vorsatz eine tolle Illustration, so etwas gefällt mir sehr!
Auf diese phantastische Reise begeben sich die Hamburger Kaufmannsfamilie Rosterg, Mutter, Vater inklusive verheirateter Tochter Dora mit Ehemann Theodor Jung, ein Fotoreporter der Berliner Illustrierten. Dann sind außerdem an Board der 1. Klasse neben den Rostergs noch eine Berliner Nachttänzerin, ein amerikanischer Ingenieur und eine englische Lady. Alle könnten von Interesse sein, wenn irgendwann Dora verschwunden ist.
So weit so tragisch, aber der Einzige der überhaupt davon überzeugt zu sein scheint, dass sie jemals an Board war ist ihr Ehemann! Nun beginnt für ihn nicht nur die Tortour sie zu finden sondern auch seine Wahrnehmung und alle anderen zu überzeugen, dass er Recht hat.
Ein psychologisches Spiel in Mitten einer tollen Szenerie! Mich hat das Buch überzeugt, weil ich gerne leichte Krimis in spannendem Setting lese, auch bin ich großer Agatha Christie Fan und ich würde behaupten, dass ist Cay Rademacher auch! Wer also „Mord auf dem Nil“ oder „Mord im Orientexpress“ kennt und liebt, wird hier bestens unterhalten. Nicht nur das 20er Jahre Setting ist herrlich gut beschrieben, auch die langsame Herangehensweise wie dieser Fall gelöst wird. Nicht actiongeladen, sondern gemächlich.
Auch sollte man sich für diese Schiffsreise interessieren, ist sie zwar Setting, aber nicht nur! Denn die Beschreibungen dieser Passage nimmt zu Recht einen großen Teil dieses Buches ein.

Bewertung vom 08.09.2022
Lutz, Leonie;Osthoff, Anika

Begleiten statt verbieten


ausgezeichnet

Entwicklungsziel: Medienkompetente Familien!

Meine Tochter kam diese Woche in die weiterführende Schule und durch den neuen Schulweg, der auch eine Ubahnfahrt beinhaltet, hat das gute Kind nun auch ein Smartphone. Ich schreibe bewusst nicht Handy, denn wenn es „nur“ ein Telefon wäre, hätte ich nicht so viele bedenken! Davon mal abgesehen gibt es im Haushalt mehrere Tablets, Spielekonsolen, Laptops und natürlich den smarten Fernseher – alles mit dem Wlan verbunden! Das ich da angesichts der Fülle an Toren zur Welt kleine Sorgenfalten bekomme, ist doch verständlich, oder?
Daher habe ich mir „Begleiten statt verbieten“ durchgelesen um mich besser zu rüsten! Dieses Buch hat mich ein wenig aufatmen lassen. Es ist sehr pragmatisch geschrieben, mit vielen Tipps gespickt und macht konkrete Handlungsräume auf. Es wird zwar auch einiges erklärt, aber das hält sich in den Grenzen des notwenigen.
Aufgeteilt ist das Buch in zwei große Blöcke, die dann wiederum runtergebrochen werden. Der erste große Block beleuchtet die „Zukunftskompetenz – warum es ohne sie nicht geht“ und geht auf die notwenigen digitalen Kompetenzen ein, die unser aller Kinder noch dringender brauchen werden als wir es bisher taten. Hier wird dann ganz konkret auf Bedienen und Anwenden eingegangen, die kompetente Recherche, Kompetenz Problemlösen und Handeln und vieles mehr. Im Text sind immer wieder Sätze grün hervorgehoben um deren Bedeutung hervorzuheben, daher ist auch ein blättern und suchen nach Stichworten kein Problem.
Der zweite große Block beschäftigt sich damit wie „Kinder sich in der digitalen Welt sicher bewegen“. Dieser Teil lag mir besonders am Herzen und geht auf das cyber mobbing ein, wie das Suchtverhalten bei Gamern und wie man soziale Medien dosieren sollte und dann wird natürlich der Titel noch in den Fokus gestellt: Begleiten statt verbieten. Immer nah dran bleiben und zeigen lassen was das Kind dort im Netz macht und besprechen.
Vor allem fand ich die letzten Teile mit Tipps zu Webseiten und Apps hilfreich sowie die Anregungen zu den digitalen Familienregeln.
Aus meiner Sicht haben Leonie Lutz und Anika Osthoff hier einen kompakten und zugleich umfangriechen Ratgeber zusammen geschrieben, der leicht konsumierbar ist und Erziehungsberechtigten hilft sich zu orientieren!

Bewertung vom 08.09.2022
Kupferberg, Shelly

Isidor


sehr gut

Schmal, aber gehaltvoll

Mir hat dieser schmale Band eines jüdischen Lebens in Form von Dr. Israel Geller, auch genannt Isidor, vorzüglich gefallen. Seine Großnichte, Shelly Kupferberg, hat sich der Geschichte ihres Großonkels angenommen und sein spannendes wie trauriges Leben in diese Biographie gegossen. Er war ein Mann der sich hochgekämpft hat, von Galizien nach Wien, von unten nach oben. Ein hart arbeitender Mann, der aber auch ein Genießer des schönen Lebens war. Bis die Nazis ihm brutal mit ihrem Judenhass den Boden unten den Füßen entzog.
Dieses Buch ist der Debütroman von Shelly Kupferberg und ist eine sehr persönliche Arbeit. Ob das zu diesem großartigen Schreibstil geführt hat? Sie schreibt mitreißend, gut und hat mich voll überzeugt. Auch wenn dieses Porträt nur knapp 240 Seiten umfasst, zeigt es uns Charaktere mit Ecken und Kanten und zeichnet sie lebhaft.
Das zusätzliche Interview mir Shelly Kupferberg am Ende des Buches über ihre Recherche und Herangehensweise war auch hochinteressant, um die Hintergründe zu verstehen um das Entstehen des Buches. Ach und natürlich ist der Stammbaum ganz am Ende auch hilfreich – ich habe ihn leider erst recht spät entdeckt.
Ein jüdisches Leben – eine Innenansicht, bedrückend und so wichtig diese Erinnerung zu bewahren.

Bewertung vom 08.09.2022
Saunders, George

Bei Regen in einem Teich schwimmen


ausgezeichnet

Wann will man weiterlesen und wann fühlt man sich als Leser ernst genommen?

Beinahe wäre mir dieses gute Buch durch die Lappen gegangen und dann sah ich es doch an vielen Stellen auftauchen, sei es bei Bloggerinnen, bei redaktionellen Literaturkritiker(innen) oder auch einfach nur bei Bekannten. Zum Glück, denn sonst wäre mir ein Lesevergnügen entgangen mit den Abhandlungen des texanischen Literaturprofessors George Saunders „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ über seine liebsten russischen Meistergeschichten des 19. Jahrhunderts. Ich habe das Buch in der Tat verkannt und dachte es wäre mehr ein Buch für Schreibende als für Lesende! Aber nein, ein Buch (wie so oft) für alle! Es ist eine Schule des Lebens, nicht nur des Schreibens!
Er selbst, Georg Saunders, ist ein begnadetere Kurzgeschichtenschreiber und lehrt seit 1997 an der Uni Syracuse creative writing und dieses Buch ist im Grunde die Essaysammlung aus all den Jahren der Lehre nun als zusammengetragen.
Es sind in der Summe 7 russische Erzählungen. Erst liest man die jeweilige Geschichte und dann geht es in die Analyse von Saunders. Aber keine Angst, kein staubtrockener wissenschaftlicher Text. Er nähert sich literarisch. Macht Interpretationsangebote und bindet die Leserschaft in seine Gedankenwelt ein. Er hat viel Gutes aufzuzeigen, wenn er die Konstruktionen auseinander nimmt, aber er scheut auch Kritik an den großen Meistern nicht. Im Grunde steht immer die Frage im Raum: Wie gut funktioniert eine Geschichte?
Fazit: Dieses Buch bietet nicht nur unverhofft 7 gute Kurzgeschichten der russischen Meister sondern grandioserweise auch gleich die Interpretationen von Saunders en detail mit. Sprachlich auf allen Seiten ein Genuss!

Bewertung vom 07.09.2022
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


sehr gut

Aufgearbeitete ukrainische Familiengeschichte

Fast schon grotesk, dass sich die Enkelin eines Flüchtlings aus der Ukraine, die es in die USA schaffte, nun einen Roman schreibt und ihrer Familiengeschichte auf den Grund geht und der Roman fertig ist kurz bevor der Krieg ausbrach und nun im Grunde brandaktuell ist und uns die Vergangenheit der Ukraine im UdSSR Kontext näherbringt. Erin Litteken begann sogar zu schreiben noch bevor der Konflikt auf der Krim entflammte 2014.
Der Roman hat zwei Erzählstränge und verbindet sich dann. Der erste spielt 2004 und wir lernen Cassie kennen, die mit ihrer Tochter in Illinois lebt und kürzlich ihren Mann bei einem Autounfall verlor. Ihre Großmutter Bobby emigrierte aus der Ukraine in die USA und begann dort ein neues Leben. Da Cassie nicht so recht auf die Beine kommt nach ihrem tragischen Verlust schlägt ihre Mutter vor, dass sie bei Bobby einzieht, dort nach dem Rechten sieht und ihre Großmutter unterstützt, die so langsam alt wird und selbst von sich sagt bald zu sterben. Eine Win-Win-Situation.
Der zweite Handlungsstrang beginnt 1929 in der Ukraine und erzählt die Lebensgeschichte von Katja. Es beginnt idyllisch auf dem Bauernhof ihrer Eltern bis Stalins Idee der Kolchosen und der Verstaatlichung mit aller erdenklichen Macht durchgedrückt wird, viele ihr Leben lassen und das Leben einfach nur noch unbarmherzig ist. Dieser Teil hat mich besonders erschüttert und zeigt eindrücklich wie die Verstaatlichung und Stalins harte Hand damals führte. Kein Entkommen und viel Elend.
Mich hat der Roman aus zwei Gründen überzeugt. Er ist super leicht zu lesen und man taucht richtig schnell ein in die Geschichte. Erin Litteken hat hier einen guten Ton gefunden und auch beiden Strängen einen eigenen Ton gegeben. Auch die Übersetzung ist gelungen durch Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt. Der zweite ist noch offensichtlicher, denn es bringt einem Nahe wie das Verhältnis der ukrainischen Bevölkerung zur UdSSR entstanden ist und wie das ukrainische Volk schon damals enorm unter der harten Hand der UdSSR und Stalin litt. Der Strang in 2004 lockert den heftigen Teil zu Beginn der 30er Jahre in der Ukraine auf und es passt es super gut zusammen.
In der Summe ein gutes Buch, dass auch noch historisch bereichert.