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Benutzername: 
mrs-lucky
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Norddeutschland

Bewertungen

Insgesamt 189 Bewertungen
Bewertung vom 07.02.2023
Sibir (eBook, ePUB)
Janesch, Sabrina

Sibir (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In ihrem aktuellen Roman „Sibir“ verknüpft die Autorin Sabrina Janisch die Geschichten zweier Kindheiten miteinander und macht den Leser aufmerksam auf ein Kapitel deutsch-russischer Geschichte, das nicht oft im Fokus steht. Mir war zwar grundsätzlich bekannt, dass im Osten Europas angesiedelte Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft um die Zeit des zweiten Weltkriegs auch nach Russland umgesiedelt wurden, die Tragweise der Schicksale dieser Menschen ist mir erst durch diesen Roman bewusst geworden.
Josef Ambacher ist 10 Jahre alt, als er mit seiner Familie in einen Zug gesteckt und unter unmenschlichen Bedingungen nach Kasachstan gebracht wird, bereits unterwegs stirbt sein jüngerer Bruder, seine Mutter Emma bleibt in einem Schneesturm bei ihrer Ankunft in Sibirien verschollen. Josef lebt dort mit seinen Großeltern und seiner Tante, ist jedoch weitgehend auf sich gestellt. Die Freundschaft zu einem gleichaltrigen Jungen aus dem nahe gelegenen Kasachendorf hilft ihm, in der unwirtlichen Steppe zu überleben.
Mitte der 50er Jahre kehrt die Familie gemeinsam mit aus Sibirien freigelassenen Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück und lässt sich in einer Siedlung in der Lüneburger Heide nieder. Die Meschen fühlen sich fremd in Deutschland, sind geprägt durch ihre Erlebnisse, ihre Lebensgewohnheiten unterscheiden sich von den anderen Bewohnern des Ortes.
Josefs Tochter Leila spürt dieses Anderssein auch noch 40 Jahre später als Teenager Anfang der 1990er Jahre.
Die Geschichte springt zwischen Erzählungen aus Josefs Zeit in Sibirien und Leilas Aufwachsen in Niedersachen hin und her. Dabei ergänzen sich die Szenen oftmals; während Josef mit seinem Freund Tawil in der Steppe Vorräte anlegt und eine verlassene Hütte als Unterschlupf wieder aufbaut, sammelt Leila mit ihrem besten Freund Arnold Dinge, die ihnen wichtig sind in wechselnden Verstecken. In beiden Zeitschienen dominiert das Gefühl der Heimatlosigkeit, des Eindrucks, nicht dazu zu gehören, aber auch der Stärke, die aus einer engen Freundschaft entstehen kann.
Vieles steckt hier zwischen den Zeilen, wird von der Autorin nicht direkt ausgesprochen sondern anhand vieler kleiner Anekdoten verdeutlicht, so wie auch in den Familien vieles ungesagt bleibt und zu einigen Missverständnissen führt. Der Roman beeindruckt mit der Art und Weise, wie die Geschichten der beiden Zeitschienen miteinander verflochten sind, sich ergänzen und wie die Vergangenheit auf Leilas Jugend abzufärben scheint.
Für mich war es der erste Roman der Autorin, der Stil und der Inhalt haben mich so beeindruckt, dass mein Interesse auch an ihren anderen Werken geweckt ist.

Bewertung vom 09.01.2023
Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11 (eBook, ePUB)
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11 (eBook, ePUB)


gut

Nach 5 Jahren hat Camilla Läckberg mit „Kuckuckskinder“ einen neuen Band zu ihrer erfolgreichen Krimireihe um Patrik Hedström und Erica Falck veröffentlicht.
In Fjällbacka veranstaltet der erfolgreiche und aktuell für den Literatur-Nobelpreis nominierte Schriftsteller Henning Bauer eine große Feier anlässlich seiner Goldenen Hochzeit. Als Freundin der Schwiegertochter Luise sind auch Erica Falck und ihr Mann Patrik unter den Gästen. Zur selben Zeit wird nur wenige Häuser entfernt der Fotograf Rolf Stenklo ermordet, während er in einer Galerie eine Ausstellung seiner Werke vorbereitet hat. Er gehörte zu den engsten Freunden Henning Bauers und seiner Frau, hatte die Einladung zu deren Ehrentag jedoch ausgeschlagen.
Der Ort gerät in Aufruhr, als wenig später innerhalb der Familie Bauer eine weitere grausame Tat entdeckt wird.
Während Partrik Hedström mit der Polizei ermittelt und versucht verwertbare Spuren zu finden, ist Erica Falck auf einen rätselhaften Todesfall aus Rolf Stenklos Vergangenheit gestossen, der Inspiration für ihren neuen Roman sein könnte. Während die Polizei weiter im Dunkeln tappt, was Täter und Motiv angeht, findet Erica bei ihren Recherchen zum Tode Lolas in den Achtzigerjahren Hinweise, die diesen mit den aktuellen Fällen in Fjällbacka in Verbindung bringen.
Trotz der langen Zeitspanne bis zum Erscheinen dieses 11. Bandes waren die Vorgeschichten zu den Hauptcharakteren schnell wieder präsent. Mir gefällt die Mischung des Krimis aus Fällen, deren Auflösung sich nach und nach zusammensetzt, sowie der persönlichen Geschichte Ericas und Patriks, die hier erfreulicherweise eher im Hintergrund bleibt. Rückblenden in die 1980er lockern die Geschichte auf und sorgen für zusätzliche Spannung, die Abschnitte zu Lola und ihrer Tochter berühren, Camilla Läckberg greift das Thema LGBT sensibel und informativ auf.
Der Band fügt sich gut in die Reihe ein, ist insgesamt aber eher Durchschnittskost. Der Beginn zieht sich, es dauert, bis Spannung aufgebaut wird. Es gab schon komplexere Bände, hier ist ein Teil der Geschichte schnell vorhersehbar, die Auflösung wirkt jedoch nicht sehr glaubhaft.
Für Fans der Reihe ist der Band durchaus empfehlenswert, als Neueinstieg nicht die beste Wahl.

Bewertung vom 06.11.2022
Kalt und still / Hanna Ahlander Bd.1 (eBook, ePUB)
Sten, Viveca

Kalt und still / Hanna Ahlander Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Mit „Kalt und Still“ startet die schwedische Autorin Viveca Sten eine neue Krimireihe mit einer neuen Hauptfigur und an einem ungewohnten Schauplatz im winterlichen Skiort Åre.
Hanna Arlander ist 34 Jahre alt, als Anfang Dezember ihre gewohnte Welt zusammenbricht. Nach Differenzen in ihrem Job bei der Stockholmer Polizei wird ihr angeraten, sich auf eine andere Stelle zu bewerben, ihr Freund verlässt sie für eine andere und lässt ihr nur wenige Tage, aus seiner Wohnung auszuziehen. Rettung findet Hanna bei ihrer älteren und gut organisierten Schwester Linda, die ihr anbietet, bis auf weiteres in ihrem Ferienhaus in Åre unterzukommen, und dort in Ruhe zu überlegen wie es weiter geht. Hanna nimmt das Angebot an und versinkt zunächst in Verzweiflung. Als sie erfährt, dass ein junges Mädchen nach einer Lucia-Feier nachts nicht nach Hause gekommen ist, beteiligt sich Hanna an der Suche nach Amanda, kein einfaches Unterfangen bei minus 20 Grad und hohem Schnee. Auch das Auftauchen eines eingeschüchtert wirkenden jungen Mädchens, das als Reinigungskraft im Haus ihrer Schwester auftaucht, lässt Hanna neugierig werden, da Fälle von Gewalt gegen Frauen ihr nicht nur beruflich ein Dorn im Auge sind.
Hanna beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und kommt bald mit der örtlichen Polizei in Kontakt. Dort leitet Daniel Lindskog mit viel Engagement aber zu wenig Personal die Ermittlungen und versucht den Spagat zwischen Job und Familie mit einem neugeborenen Baby hinzubekommen.
Tempo und Spannung sind hoch in diesem Krimi, dennoch kommt auch die menschliche Seite nicht zu kurz. Der Leser erlebt Hannas und Daniels Zwiespälte ebenso mit wie die angespannte Situation Amandas vor ihrem Verschwinden. Sie hat etwas erlebt, dass sie belastet aber nicht mit einem Erwachsenen zu besprechen wagt.
Als Leser erlebt man hautnah mit, wie die Polizei unter Hochdruck an der Lösung des Falls arbeitet, es gibt viele Spuren und Verdächtige, als Leser kann man miträtseln und spekulieren, was tatsächlich passiert ist. Etwas unrealistisch fand ich lediglich die Geschichte von Amandas Familie, ich hätte erwartet, dass es in einem solchen Fall in irgendeiner Weise psychologische Hilfe gegeben hätte.
Insgesamt finde ich diesen Reihenauftakt vielversprechend mit interessanten Charakteren und werde die Augen offen halten nach einer Fortsetzung.

Bewertung vom 26.10.2022
Aquitania (eBook, ePUB)
García Sáenz, Eva

Aquitania (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In dem historischen Roman „Aquitania - Das Blut der Könige“ lässt die Autorin Eva García Sáenz das Leben einer faszinierenden Person der europäischen Geschichte lebendig werden. Eleonore von Aquitanien war mir als Mutter des englischen Königs Richard Löwenherz bekannt, dieser Roman beschreibt jedoch ihr Leben und ihr Wirken in ihren jüngeren Jahren.
Eleonore ist erst 13 Jahre alt, als ihr Vater auf einer Reise in Santiago de Compostela tot aufgefunden wird, und sie das Erbe des reichen südwestfranzösischen Herzogtums Aquitanien antritt. Als sie kurz darauf mit dem französischen Thronfolger Ludwig VII. vermählt wird, behält sie die Herrschaft über das Herzogtum und wird bald darauf neben ihrem Mann Ludwig Königin von Frankreich.
Der Roman zeigt ein lebendiges Bild des Lebens am Hofe, zeigt die menschliche Seite Eleonores und Ludwig VII. ebenso wie die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, die allgegenwärtigen Intrigen und Bedrohungen, aber auch den Einfluss, den sie trotz ihrer Jugend auf die französische Geschichte haben.
Die intensive Recherche der Autorin, die sie am Ende des Buches belegt, hat sich ausgezahlt. Zu Beginn der Geschichte fand ich Eleonores Reife und planvolles Vorgehen noch unglaubwürdig, im Verlauf fasziniert ihrer Persönlichkeit jedoch immer mehr. Sie wurde schon früh auf ihre spätere herrschende Rolle vorbereitet, die Belange Aquitaniens liegen ihr sehr am Herzen und stehen immer in ihrem Fokus, sie darf in dieser Geschichte jedoch auch schwache Momente zeigen, ist Mensch und nicht nur eine historische Figur.
Für Spannung sorgt das Krimielement in dem Roman; Elenore lassen die fragwürdigen Umstände um den Tod ihres Vaters keine Ruhe, ihre Nachforschungen bringen jedoch nicht nur sie selbst in persönliche Gefahr.
Außerdem gibt es noch Kapitel mit Rückblenden aus der Sicht eines Jungen, dessen Geschichte sehr mysteriös erscheint und dessen Bedeutung erst gegen Ende deutlich wird.
Insgesamt bietet der Roman aus meiner Sicht eine rundum gelungene Verknüpfung von Fakten und Fiktion, der mein Interesse an der bedeutenden Persönlichkeit Eleonores geweckt hat. Er endet, als Eleonore erst 28 Jahre alt ist und lässt nur erahnen, welch ereignisreiche Jahre bis zu ihrem Tod mit 82 Jahren noch vor ihr liegen.

Bewertung vom 27.09.2022
Verbrenn all meine Briefe (eBook, ePUB)
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Auch in seinem aktuellen Roman „Verbrenn all meine Briefe“ widmet sich der schwedische Autor Alex Schulman wieder einem autobiographischen Thema.
Nach einem Streit mit seiner Frau wird Alex bewusst, dass er eine nicht definierbare Wut in sich trägt, seine Kinder zeigen Angst vor seinen Reaktionen, versuchen seine Stimmungen zu lesen und es ihm recht zu machen, so wie Alex es als Kind bei seiner Mutter getan hat.
Auf der Suche nach der Ursache hinter seiner Wut rückt schnell Alex Großvater, der Schriftsteller und Literaturkritiker Sven Stolpe in den Fokus. Alex erinnert sich an die häufigen Wutanfälle seines Großvaters ebenso wie an die unterwürfige Haltung seiner Großmutter Karin, an die unendliche Reihe von Konflikten in der Familie seiner Mutter und den Hass zwischen den Geschwistern.
Mit Hilfe alter Briefe und Dokumente versucht Alex zu rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte, dass Sven Stolpe seiner Frau mit so viel Hass und Verachtung begegnet, diese sich aber weiterhin um ihren seit Jahren kranken Ehemann kümmert und es offenbar nicht wagt, diesen zu verlassen.
Anhand von alten Briefen und Tagebucheinträgen erkennt Alex, dass seine Großeltern im Sommer 1932 einige Wochen in der Literaturstiftung in Sigtuna verbracht haben, wo sie sich auch kennengelernt und ein Jahr zuvor geheiratet haben. Karin lernt dort den jungen Schriftsteller Olof Lagercrantz kennen, die beiden verlieben sich ineinander und beginnen sich heimlich zu treffen. Als Sven Stolpe hinter dieses Verhältnis kommt, beginnt er zu toben, die folgenden Ereignisse führen dazu, dass alle drei Beteiligten ein Leben lang darunter leiden müssen.
Die Geschichte wird auf drei Ebenen erzählt, in der Zeitschiene im Jahr 1932 erschafft Alex Schulman aus den vorliegenden Fakten eine fiktive Liebesgeschichte, die mit ihrer Intensität berührt. Die Szenen sind sehr persönlich und ergreifend mit einer schwer zu fassenden Tragweite und Tragik.
Die Schilderungen aus der Gegenwart haben dagegen einen eher dokumentarischen Charakter, der Leser begleitet den Autor bei seinen Recherchen und Deutungen seiner Erkenntnisse.
Verbunden sind die Ebenen durch Erinnerungen Alex‘ aus einem Besuch bei den Großeltern im Winter 1988, deren Begebenheiten ihm erst jetzt nach seinen Recherchen in vollem Ausmaß bewusst werden.
Der Roman erzählt eine ergreifende Geschichte ohne kitschig zu sein, ist lebendig und fesselnd geschrieben und zeigt, wie sehr derart schicksalhafte Ereignisse das Leben mehrerer Generationen prägen kann.
Ich bin wieder begeistert von Alex Schulmans Erzählstil.

Bewertung vom 20.09.2022
Ein notwendiger Tod
Holt, Anne

Ein notwendiger Tod


sehr gut

„Ein notwendiger Tod“, Anne Holts zweiter Krimi aus der Reihe um Selma Falck, bietet wieder eine komplexe und spannende Geschichte mit politischem Hintergrund.
Im Herbst 2018 erwacht Selma Falck in einer brennenden Hütte mitten im kalten Nirgendwo. Sie ist schwer verletzt, kann sich nicht erinnern, wie sie in die Hütte und in diese Situation geraten ist. Sie kann den Flammen im letzten Moment entkommen, während sie verzweifelt einen Unterschlupf sucht und einen Weg zurück in die Zivilisation, kommen bruchstückhaft Erinnerungen an die vorangegangenen Ereignisse zurück.
Neben dieser dramatischen Zeitschiene bekommt der Leser aus verschiedenen Perspektiven Hintergrundinformationen sowohl aus dem Frühjahr als auch dem Sommer desselben Jahres.
Im Sommer ist Selma Falck Gast auf der Hochzeit ihrer Tochter, wenn auch nur aufgrund des Wohlwollens ihres Schwiegersohns Sjalg Petterson, der während der Feier auf tragische Weise ums Leben kommt. War es ein Unfall oder ein Mord, weil jemandem die rechtsextreme Gesinnung nicht passte, die dem Toten in den sozialen Medien viele Anhänger beschert hat?
Selma Falck gerät bei ihren Nachforschungen auf die Spur politischer Verstrickungen auf nationaler Ebene, die auf gar keinen Fall an die Öffentlichkeit geraten dürfen.
Die Geschichte ist komplex. In der Hörbuchfassung ist es anfangs nicht leicht, den Zeit- und Perspektivwechseln zu folgen, je mehr man die Charaktere kennenlernt und in die Geschichte eintaucht, wird dies aber leichter.
Vieles dreht sich um die politischen Entwicklungen und Strömungen in Norwegen, Themen wie die Zunahme extremistischer Gruppierungen, Einflussnahme und Hetze in den sozialen Medien, sind aber ein globales gesellschaftliches Phänomen.
„Früher mussten wir Politiker büßen, wenn wir einen Fehler gemacht hatten.
Heute ernten wir Hetze, Verachtung und Hass, wenn wir das Richtige tun.“,
diese Aussage von Justizminister Tryggve Mejer in dem Roman ist zentraler Faktor in diesem Krimi.
Die Geschichte ist so vielschichtig, dass man als Leser konzertiert bei der Sache bleiben muss, um keine Nuance zu verpassen. Trotz vieler Informationen ist der Spannungsbogen hoch, dafür sorgen die Wechsel in den Zeiten und Perspektiven, während die Fäden nach und nach zusammenlaufen und ein vollständiges Bild ergeben.
Selma Falck ist als Hauptfigur nicht unbedingt ein Sympathieträger, sie fasziniert durch ihre brillante Auffassungsgabe und ihre Ausstrahlung, stößt andere Menschen aber durch ihre Direktheit und ihre Ansprüche schnell vor den Kopf. Ihr Charakter erscheint ebenso wie die Skrupellosigkeit einiger Taten etwas zu überzogen, der politische und berufliche Hintergrund der Autorin spricht jedoch für die Authentizität zumindest der Hintergründe der Geschichte.
Mir hat auch dieser Band wieder sehr gut gefallen, in der Hörbuchfassung habe ich gerne dem angenehmen Vortrag der Sprecherin Katja Bürkle gelauscht.

Bewertung vom 15.09.2022
Freiheitsgeld (eBook, ePUB)
Eschbach, Andreas

Freiheitsgeld (eBook, ePUB)


sehr gut

In seinem aktuellen Roman mit dem Titel „Freiheitsgeld“ hat Andreas Eschbach ein interessantes Zukunftsszenario erschaffen.
Basierend auf der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens erhalten im nicht fernen Jahr 2064 alle Einwohner der EU das sogenannte „Freiheitsgeld“, das ihnen ein sorgenfreies Leben ermöglicht. 30 Jahre zuvor war dieses Geld die Rettung aus einer Krise, nachdem Roboter die Arbeitswelt so weit dominierten, dass Arbeitsplätze knapp wurden. Im Jahr 2064 ist niemand dazu verpflichtet einen Job anzunehmen, die vorhandenen Jobs sind anders gewichtet als heute.
Um die Klimakatastrophe zu verhindern, wurden große Naturschutzzonen eingerichtet und die Menschen aus kleinen Siedlungen in große Städte umgesiedelt, wohlhabende Einwohner leben abgeschottet in Gated Communities.
Eine davon ist die „Oase“, in die eine der Hauptfiguren zu Beginn der Geschichte einzieht. Vincent ist dort unter anderem der persönliche Fitnesstrainer des ehemaligen Kanzlers Robert Havelock, der vor 30 Jahren das Freiheitsgeld etabliert hat. Als Havelock stirbt, glaubt der Polizist Ahmad Müller nicht an einen Selbstmord und wird in seiner Meinung bestärkt, als kurz darauf ein Journalist tot aufgefunden wird, der als Havelocks größter Widersacher gilt.
Der Roman gibt mit seinen verschiedenen Handlungssträngen und Charakteren ein lebendiges Bild dieses Zukunftsszenarios. Die Perspektivwechsel innerhalb der Kapitel sorgen für Abwechslung und für ein aufmerksames Lesen, um nicht den Überblick zu verlieren. Die Dialoge wirken manchmal etwas hölzern und die Charaktere etwas stereotyp, das ist aber für Eschbach nicht ungewöhnlich und bei einer interessanten Geschichte zu verschmerzen.
Mir gefällt die subtile Art und Weise, mit der Eschbach die schöne Utopie nach und nach Risse bekommen lässt, je tiefer man als Leser in diese Welt eintaucht, während Ahmad bei seinen Ermittlungen zunehmend auf Ungereimtheiten stößt. Einige der technischen und sozialen Entwicklungen fand ich spannend, nicht alles wirkt logisch. Ist in Deutschland tatsächlich eine solche Umstrukturierung in so kurzer Zeit denkbar?
Das Szenario entspricht auffallend einigen gängigen Verschwörungstheorien, die Kritik ist aber aus meiner Sicht eher vage gehalten und lässt mit seinem überraschenden Ende einige Fragen offen und mich mit gemischten Gefühlen zurück.

Bewertung vom 28.08.2022
Ich bin nicht da (eBook, ePUB)
Spit, Lize

Ich bin nicht da (eBook, ePUB)


sehr gut

Auch in ihrem 2. Roman mit dem Titel „Ich bin nicht da“ erzählt Lize Spit in ihrer brillanten und dabei schonungslosen Art eine beklemmende und emotional nahe gehende Geschichte.
Im Mittelpunkt steht ein junges Paar um die 30. Leo und Simon sind seit 10 Jahren zusammen und in ihrer Beziehung aufeinander fixiert. Beide haben früh ihre Mütter verloren und wenig bis gar keinen Kontakt zu ihren Vätern, ihr Freundeskreis beschränkt sich auf einige Kollegen. Ihre enge Bindung gerät ins Wanken, als Simon eines Nachts aufgedreht nach Hause kommt, sein neues Tattoo präsentiert und von neuen Freunden inspiriert seinen festen Job als Grafikdesigner kündigt, um sich selbständig zu machen.
Er stürzt sich manisch in dieses neue Projekt, bewegt sich unruhig durch die Wohnung und lässt Leo ratlos zurück, die sich von Simon immer mehr ausgegrenzt fühlt und in seiner neuen Persönlichkeit wenig des Simons wieder findet, den sie liebt. Zur gleichen Zeit wird Leos Freundin Lotte schwanger, ausgerechnet von Simons ehemaligem Chef Coen, in dem er mehr und mehr seinen größten Feind sieht. Lotte und Coen sind in diesem Roman der Gegenpol zu Leo und Simon, ein strahlendes Paar, das auf fast kitschige Weise glücklich und erfolgreich ist, während Leo und Simon in ihren Karrieren keine Fortschritte erreichen und sich privat einander entfremden.
Der Leser erlebt die Ereignisse aus Leos Sicht, die schonungslos die Veränderungen in ihrer Beziehung zu Simon und in beider Persönlichkeiten schildert. Es schmerzt, Leos Verzweiflung und Hilflosigkeit mitzuerleben, während Rückblenden in die Vergangenheit ihre frühere innige Verbundenheit und Unbeschwertheit aufzeigen. Lize Spit schafft mit ihrer präzisen Sprache Bilder im Kopf, die manchmal schon zu detailliert sind und an die Grenze des Erträglichen gehen. Andererseits macht das die Authentizität der Geschichte aus, man spürt beider Hilflosigkeit sowohl in Simons manischen als auch in seinen depressiven Phasen.
Der Roman überzeugt mit seiner Intensität und der phantasievollen Sprache, die teils poetisch wirkt. Mit den wiederholten Schilderungen entwickelt er jedoch Längen, die auch mit den eingeschobenen Kapiteln der Eskalation aus der Gegenwart nicht aufgefangen werden können, da die Spannung hier eher aufgezwungen wirkt, statt sich aus der Geschichte zu entwickeln.

Bewertung vom 14.08.2022
Das Profil / Erdmann und Eloglu Bd.1 (eBook, ePUB)
Borck, Hubertus

Das Profil / Erdmann und Eloglu Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Der Thriller „Das Profil“ ist Hubertus Borcks erste Krimi-Veröffentlichung und meiner Meinung nach ein gelungener Auftakt für die geplante Reihe um zwei ungleiche Hamburger Ermittler, der Lust macht mehr davon zu lesen.
Die Themen sind nicht ganz neu, hier aber schlüssig und spannend in Szene gesetzt: Ein psychopathischer Täter wird durch die in seiner Kindheit erlittenen Traumata zur tickenden Zeitbombe, die Opfer geben in den sozialen Medien allzu leichtfertig persönliche Details und Informationen aus ihrem Leben preis und machen sich selbst zur Zielscheibe.
Als Leser ist man der Ermittlern stets eine Schritt voraus, in Rückblenden wird die Vergangenheit des Täters dargestellt, ebenso wie in der Gegenwart sein ausgeklügeltes Vorgehen bei der Auswahl und Überwältigung seiner Opfer. Die Nähe zum Täter, die in den Schilderungen geschaffen wird, sorgt für das Empfinden von Unbehagen, man spürt seine Besessenheit und inneren Zwänge.
Im Kontrast dazu steht die Sorglosigkeit der Opfer, die vorbehaltlos ihr Leben auf Instagram ihren Followern präsentieren und es dem Täter leicht machen, sie auszuspionieren.
Auf Seiten der Polizei steht die erfahrene Ermittlerin Franka Erdmann im Mittelpunkt, die wie so viele Kriminalkommissare zumindest in der Literatur ihr Privatleben der Arbeit untergeordnet haben und mit ihrer eigenwilligen Art so manches Mal bei Kollegen und Vorgesetzten aneckt. Ihr zur Seite gestellt wird der junge Kollege Alpay Eloğlu, für den die erste Ermittlung in einem Mordfall sich gleich zur Suche nach einem Serientäter ausweitet.
Die beiden ungleichen Kollegen brauchen eine Weile, um sich aneinander zu gewöhnen, ihre kleinen Reibereien lockern die Geschichte auf, es steht jedoch stets die Ermittlungsarbeit im Vordergrund. Als Leser verfolgt man hautnah die Entwicklungen und Diskussionen zu Täter und Motiven. Die Ermittlungen sind herausfordern und komplex, da der Täter sehr geplant vorgeht und es versteht, seine Spuren zu verwischen und sich zu tarnen.
Der Spannungsbogen ist über die gesamten etwa 380 Seiten hoch und findet einen schlüssigen Abschluss in einem finalen Showdown.

Bewertung vom 10.08.2022
Denk ich an Kiew
Litteken, Erin

Denk ich an Kiew


sehr gut

Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine sind derzeit sehr präsent und erschütternd. Der Roman „Denk ich an Kiew“ arbeitet ein älteres Kapitel der ukrainischen Geschichte auf, dessen nicht weniger brisanten aber wenig bekannten Ereignisse in ihrer Tragweite erschüttern und ein Stückweit erklären, weshalb die Menschen in der Ukraine sich auf keinen Fall erneut einer russischen Herrschaft unterwerfen wollen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Katja, die im Jahr 1930 mit ihren Eltern und ihrer Schwester im Osten der Ukraine einen kleinen Bauernhof bewirtschaftet. Sie ist verliebt in einen Nachbarsjungen und erlebt einen unbeschwerten Sommer, als eine Gruppe russischer Aktivisten sich im Dorf einnistet, um die Bauern zu zwingen, sich den Kolchosen anzuschließen. Dabei gehen Stalins Männer mit großer Gewalt vor, deportieren und töten diejenigen Bauern, die ihrer Meinung nach den „Kulaken“ angehören oder Widerstand leisten. Die Steuern werden so weit erhöht, dass den Menschen kaum etwas zu Essen und zum Überleben bleibt.
Anhand des Schicksals von Katja und ihrer Familie erlebt der Leser mit, wie die Bevölkerung zunehmend unter der Gewalt und Unterdrückung sowie der Hungersnot leidet. Den Begriff Holodomor hatte ich schon gehört, die Ausmaße dieser von Stalins Herrschaft erwirkten Hungersnot war mir jedoch nicht bewusst. Die Autorin schafft mit ihrer Geschichte ein deutliches und erschütterndes Bild der Ereignisse, das mich beim Lesen oft fassungslos und mit Tränen in den Augen zurückgelassen hat.
Sie rückt ein wichtiges Kapitel nicht nur der ukrainischen Geschichte in den Fokus, auch in angrenzenden Regionen sind hunderttausende Menschen der Hungersnot zum Opfer gefallen.
Die Intensität der Bilder, die die Schilderungen heraufbeschwören und die Nähe zu den Figuren haben mir in diesem Teil des Romans ausgesprochen gut gefallen.
Die Rahmenhandlung des Romans, die im Jahr 2004 angesiedelt ist, fällt dagegen stark ab. Grundsätzlich passt das Szenario; Cassie entdeckt im Haus ihrer zunehmend an Demenz leidenden Großmutter deren Tagebuch. Die Großmutter hat es immer abgelehnt, über ihre Vergangenheit in der Ukraine zu sprechen, nun erlaubt sie ihrer Enkelin, mithilfe eines Nachbarn die auf Ukrainisch verfassten Tagebucheintragungen zu übersetzen. Die Rahmenhandlung mit Cassies Vorgeschichte und den Entwicklungen in der Vergangenheit wirkt jedoch kitschig und sehr dick aufgetragen, hier fehlt die Intensität und Nähe zu den Figuren, die die Rückblenden so lebendig werden lassen. Für Katjas Geschichte vergebe ich 5 Sterne, für die Rahmenhandlung maximal drei.