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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 572 Bewertungen
Bewertung vom 23.01.2020
Foley, Lucy

Neuschnee


gut

Lucy Foley kann hervorragend schreiben, das hat sie mit "Die leuchtenden Tage am Bosporus" unter Beweis gestellt.

Doch "Neuschnee" hat mich leider enttäuscht. Dies mag zum einen daran liegen, dass das Cover einen Thriller verspricht. Demzufolge hatte ich einen durchweg hohen Spannungsbogen erwartet, ich wollte mich beim Lesen gruseln, ich hatte gehofft, das Buch kaum mehr zur Seite legen zu wollen, weil mich die Story so fesseln würde. Dies ist leider nur im letzten Viertel passiert. Der größte Teil des Plots ist eher langweilig, die Geschichte plätschert so vor sich hin.

Dabei ist die Erzählform durchaus interessant. Foley schreibt aus der Sicht von fünf der insgesamt elf Protagonisten: ein Freundeskreis aus neun Personen, die Silvester auf einer abgelegenen Berghütte verbringen, sowie zwei Angestellte der Logde. Die Kapitel sind abwechselnd aus Sicht von drei weiblichen Gästen, der Verwalterin und des Wildhüters geschrieben, wobei interessanterweise die vier Protagonistinnen als Ich-Erzählerinnen auftreten, oft in auktorialer Perspektive und mit vielen Rückblenden. Hingegen ist der einzige männliche Erzähler, der Wildhüter, personal, hier verwendet die Autorin die Er-Perspektive.

Die Erzählung erstreckt sich über vier Tage, vom 30. Dezember bis zum 2. Januar, wobei die Story nicht chronologisch entwickelt wird, sondern die Kapitel im Kalender vor und zurück springen. Es wird viel Zeit darauf verwendet, die Charaktere der Protagonisten zu zeigen und das Beziehungsgeflecht der Freunde untereinander darzustellen. Die Abgeschiedenheit der Lodge in den schottischen Highlands bietet die ideale Kulisse für einen gruseligen Mord. Doch leider gelingt es Foley nicht, dieses Potenzial auszuschöpfen. Ich habe mich so gut wie nie gegruselt, die Geschichte wirkt eher wie ein Cosy Krimi als ein Thriller.

Doch auch wenn ich "Neuschnee" als Krimi einordne, habe ich noch Kritik: Zum einen wirkte der beschriebene Freundeskreis extrem oberflächlich und unreif auf mich, das passt nicht ganz zu Alter und Gesellschaftsschicht. Zum anderen bin ich über viele Klischees gestolpert, hier hätte ich mir doch eine reflektierte Betrachtung gewünscht.

Daher gibt es von mir eine mittlere Bewertung: kann man lesen, muss man aber nicht.

Bewertung vom 13.01.2020
Lapena, Shari

A Stranger in the House


ausgezeichnet

Mit "A Stranger in the House" gelang der Kanadierin Shari Lapena bereits der zweite internationale Bestseller. Und das völlig zu Recht: So muss ein Top-Thriller für mich sein - atemberaubend, fesselnd, bis zur letzten Seite voller überraschender Wendungen.

Besonders hat mir gefallen, dass der Plot nahezu ohne reißerische Action-Szenen auskommt. Das Grauen stellt sich vielmehr gerade dadurch ein, dass die Story in gutbürgerlichem Milieu spielt, sie quasi jedem von uns passieren könnte.

Ein zentrales Thema ist dabei: Wie gut können wir einen Menschen je wirklich kennen, selbst wenn es sich um unseren Ehepartner handelt?

Reizvoll ist auch der Wechsel der Erzählperspektiven: Die Kapitel alternieren zwischen Sicht der beiden Protagonisten, mal lesen wir die Gedanken des Ehemanns Tom, dann wieder kommt seine Frau Karen zu Wort. Die Spannung ist durchweg hoch, ich konnte kaum etwas vorhersehen.

Daher: Meine unbedingte Leseempfehlung für alle Liebhaber intelligent geschriebenen Nervenkitzels!

Bewertung vom 13.01.2020
Ebert, Sabine

Meister der Täuschung / Schwert und Krone Bd.1


gut

Meine Erwartungen an den Auftakt dieser historischen MIttelalter-Saga waren groß. Wurde Autorin Sabine Ebert doch als deutsche Rebecca Gablé gefeiert und in einem Atemzug mit Bestsellerautor Ken Follet genannt.

Leider hält der vorliegende Roman diesen Vergleichen nicht stand. Und dabei war mein erster Eindruck sehr positiv: ein edler Einband mit Goldprägung und stilvoller Abbildung der Reichsinsignien, ein praktisches Lesebändchen, historische Karten und Stammtafeln der Protagonisten auf Vor- und Nachsatz, im Anhang ein Glossar mit mittelalterlichen Begriffen und eine Zeittafel - auf den ersten Blick machte die hochwertige Ausstattung große Lust aufs Lesen. Doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich Mängel: Im Glossar sind Begriffe durcheinander geraten, so dass nicht alle Schlagworte alphabetisch aufgelistet werden, und einige im Mittelalter gebräuchliche Worte werden leider gar nicht erläutert, z.B. Tasselscheiben oder Fehwerk.

Auch inhaltlich konnte mich dieser Roman nicht überzeugen. Ich schließe durch die Lektüre von Historienromanen gerne meine (zugegebenermaßen immer noch zahlreich vorhandenen) geschichtlichen Wissenslücken. Doch leider habe ich hier nicht viel dazu gelernt. Dazu war die Story viel zu komplex, die unzähligen Namensgleichheiten waren extrem verwirrend, trotz der Ahnentafeln und eigener Online-Recherche schwirrte mir ob der zahlreichen Konrads, Friedrichs, Heinrichs und Getruds der Kopf. Ich musste ständig hin- und herblättern und verlor dennoch immer wieder den Durchblick und teils auch die Lust am Lesen.

Spannung kam eher selten auf, die Geschichte ist eine Aufzählung von Intrigen und Kriegen, mehr dröger Geschichtsunterricht denn fesselnde Erzählung. Die Protagonisten werden detailliert beschrieben, was ihr Äußeres betrifft. Leider gilt dies nicht im gleichen Maß für deren charakterliche Entwicklung. So blieb es für mich denn auch nicht nachvollziehbar, wie schnell so mancher Herzog oder Graf schnell mal die politische Seite wechselte, und dies auch noch ohne schwerwiegende Konsequenzen befürchten zu müssen. Mal eben rechtzeitig auf die Knie fallen und um Verzeihung bitten, und schon konnte man sich der königlichen Gnade sicher sein; der Gnade des Königs, gegen den man eben noch ins Feld gezogen war!

Sprachlich beherrscht Ebert ihr Handwerk. Allerdings gibt es etliche Dialoge, in denen die Figuren sich über Sachverhalte austauschen, die beiden Seiten hinlänglich bekannt sein müssen. Dies wirkt auf mich seltsam gekünstelt und dient wohl vor allem dazu, den Leser mit ihm unbekannten Informationen zu versorgen. Dies hätte man geschickter lösen können.

Fazit: Zu viel verwirrende Historie, zu wenig unterhaltsame Romanfiguren, mit denen man mitfiebern kann.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.01.2020
Görg, Christoph

Reliquiae - Die Konstantinopel-Mission - Mittelalter-Roman über eine Reise quer durch Europa im Jahr 1193. Nachfolgeband von "Der Troubadour"


sehr gut

Mit "Reliquiae" legt der österreichische Autor Christoph Görg - im Haupterwerb ist er Steuerberater - den Folgeband zu "Troubadour" vor. Letzterer war ursprünglich gar nicht als Fortsetzungsroman geplant gewesen, doch nachdem sich dieser mehr als erfolgreich erwies, juckte es den Autor dann doch wieder in den Fingern und er schickte seinen Protagonisten Niki auf weitere Abenteuer.

Zu meiner großen Freude und Überraschung: Denn hatte mir Troubadour schon gut gefallen, so ist Reliquiae für meinen Geschmack noch eine Spur besser. Das mag auch daran liegen, dass ich diesmal schon ungefähr wusste, was mich erwarten würde. Nämlich kein klassischer historischer Roman, wie ihn (leider) das Cover ankündigt. Ja, der Plot spielt im Mittelalter, und die Geschichte behandelt auch klassisch mediävale Themen wie die Kreuzzüge und die Suche nach dem Heiligen Gral. Aber dieser Roman lässt sich nicht eindeutig einem Genre zuordnen. Er ist vielmehr eine bunte und sehr gelungene Melange aus Historienroman und Zeitreise, gewürzt mit einer deftigen Prise Humor und gespickt mit zahllosen Zitaten aus Film, Literatur und Musik. Nicht zu vergessen: Auch Liebhaber von Sexszenen und anzüglichen Sprüchen kommen auf ihre Kosten. (Bei überzeugten Femistinnen bin ich mir da nicht ganz so sicher ...)

Ich habe das Buch regelrecht verschlungen, trotz der über 500 Seiten kam nie Langeweile auf. Die Story ist spannend, sehr witzig und mit Liebe zum Detail erzählt. Görg gibt seinen Protagonisten erfreulich viele Facetten. Ihre Emotionen und Beweggründe stellt der Autor plausibel dar, die Szenerien sind wunderbar bildreich beschrieben.

Auch die Ausstattung des Hardcovers ist hochwertig: Auf Vor- und Nachsatz ermöglichen historische Karten Europas und Konstantinopels dem Leser gute Orientierung. Meine einzigen beiden (kleinen) Kritikpunkte sind ein paar sachliche Ungereimtheiten und etliche Druckfehler, hier hätten Lektorat und Autor noch ein wenig mehr Sorgfalt walten lassen können.

Davon abgesehen habe ich wirklich äußerst spannende und vergnügliche Lesestunden verbracht und nebenbei noch interessante Fakten über Reliquien gelernt. Ich warte schon jetzt ungeduldig auf den dritten Band!

Bewertung vom 30.12.2019
Gowar, Imogen Hermes

Die letzte Reise der Meerjungfrau


ausgezeichnet

So wie der Schutzumschlag, so ist auch die Erzählung, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt: glänzend, schillernd, verschnörkelt und zauberhaft, mit ganz eigener Ästhetik und Ausdruckskraft.

Imogen Hermes Gowar, Archäologin, Anthropologin und Kunsthistorikerin, ist mit diesem Roman ein zu Recht preisgekröntes Debüt als Schriftstellerin gelungen.

Sie nimmt uns mit auf eine Reise ins London des späten 18. Jahrhunderts. Kaufmann Jonah Hancock kommt - wie der Untertitel bereits ankündigt - quasi über Nacht zu Reichtum und Ruhm. Der sensationelle Erwerb einer unglaublichen Rarität, einer echten Meerjungfrau, ändert sein Leben schlagartig. Und auch er selbst verändert sich, er wird vom eigenbrötlerischen ewigen Junggesellen zum späten Ehemann, mit dem wachsenden Besitz wachsen auch die Begehrlichkeiten.

Gowar ist ein beeindruckender Genremix gelungen, das Buch ist ein Gesellschafts- und Historienroman über das viktorianische London, sie entwickelt großartige Psychogramme ihrer Protagonisten, die Geschichte ist ein Sittengemälde, gewürzt mit einem Schuss Mystik. Es geht um große Themen, um Leidenschaft und Liebe, Träume, Enttäuschungen und immer wieder: um das Streben nach mehr.

Die Autorin spielt ihre schriftstellerische Klaviatur virtuos. Oftmals entstehen leise, zarte Töne, dann wieder setzt sie zu einem gewaltigen Fortissimo an, das einen völlig in die geschilderte Szenerie eintauchen lässt. Ich hatte einen wirklich sinnlichen Lesegenuss, sah förmlich einen Film ablaufen und schmeckte und roch Beschriebenes.

Einen kreativen Einfall stellen kurze mit der Grafik einer Jakobsmuschel gekennzeichnete Einschübe dar, die Gedanken der Meerjungfrau wiedergeben, in ganz eigener Sprache. Überhaupt ist die Sprache eine der ganz großen Stärken dieses Romans. Gowar schreibt, als wäre sie vor gut zweihundert Jahren aufgewachsen, man taucht auch dadurch wunderbar in die Epoche der Handlung ein.

Für mich eines der Lesehighlights 2019!

Bewertung vom 30.12.2019
Prüfer, Tillmann

Kriegt das Papa, oder kann das weg?


ausgezeichnet

Autor Tillmann Prüfer ist Chefredakteur des ZEITmagazins, in dem auch seine wöchentliche Kolumne "Prüfers Töchter" erscheint.

Nun hat er also sein erstes Buch über den Alltag mit seinen vier Töchtern verfasst. Wobei - Alltag trifft es bei Luna, der Ältesten, nicht mehr ganz genau, denn sie lebt bereits in einer WG. Dennoch kommt sie hinreichend zu Wort, ebenso wie (in absteigendem Alter) Lotta, Greta und Juli, das Nesthäkchen.

Prüfer erzählt in kurzen Anekdoten, wie stark sein Leben von seinen Töchtern beeinflusst wird - auch wenn aus Julis Sicht meist Papa der Bestimmer ist ... Ich habe das Buch regelrecht verschlungen und mich dabei köstlich amüsiert, etwa wenn sich die Zacken der abgerissenen "Haare" der Playmobil-Figuren schmerzhaft in Prüfers Fußsohlen graben. Oder wenn er einen Kindergeburtstag unter erschwerten Bedingungen zu managen hat, da sich einige Mütter von eingeladenen Kindern kurzerhand auf dem Prüferschen Sofa niederlassen und die Aktivitäten von dort beobachten und (nicht immer wohlwollend) kommentieren.

Sprachlich ist das Ganze sehr gelungen, wie nicht anders zu erwarten beherrscht Prüfer als Redakteur sein Handwerk. Besonders gefallen hat mir, dass neben der vorherrschenden unterhaltsamen und heiteren Erzählweise durchaus auch nachdenkliche und tiefsinnige Töne anklingen. So zum Beispiel wenn Tillmann im Hinblick auf seine älteste Tochter befürchtet, von der jungen Erwachsenen bald nicht mehr als Vater gebraucht zu werden.

Die Ausstattung des kleinen Hardcovers ist solide, ein Lesebändchen eine praktische Ergänzung.

Mein Fazit: Wer Axel Hackes "Der kleine Erziehungsberater" mag, wird Prüfers "Kriegt das Papa, oder kann das weg?" lieben.

P.S.: Wer sich einen optischen Eindruck der vier Protagonistinnen verschaffen möchte, dem lege ich das ZEITmagazin ans Herz. Hier findet sich zu Prüfers Kolumne jeweils ein wunderschön illustriertes Porträt von Juli, Greta, Lotta und Luna, im wöchentlichen Wechsel.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.12.2019
Rackete, Carola

Handeln statt hoffen


sehr gut

Carola Rackete lief im Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 in den Hafen von Lampedusa ein, mit 40 auf dem Mittelmeer in Seenot geratenen Geflüchteten an Bord. Sie setzte sich damit über das Verbot des italienischen Innenministeriums hinweg und erlangte dadurch internationale Bekanntheit.

Zusammen mit Co-Autorin Anne Weiss ist nun ein Buch entstanden, das Racketes Erlebnisse von damals Revue passieren lässt. Doch es ist wesentlich mehr, als ein Erfahrungsbericht der Seenotretterin. Denn Rackete mag es eigentlich gar nicht, so sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Und schon gar nicht sieht sie sich als Heldin der Seenotrettung. Vielmehr sieht sie es als ihre Pflicht an, in einer derartigen Situation auf dem Meer durch zivilen Ungehorsam Menschenleben zu retten.

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Hindou Oumarou Ibrahim, einer Klimaaktivistin aus dem Tschad. Sie zeigt die Auswirkungen des Klimawandels - Rackete spricht lieber von Klimakatastrophe - auf ihr Heimatland auf und schafft so eindringlich Bewusstsein dafür, was wir mit unserem westlich geprägtem Konsumverhalten in Entwicklungsländern anrichten.

Rackete gibt zunächst einen unerwartet privaten Einblick in ihre Vita. Sie schildert ihr Elternhaus, ihren Werdegang als Kapitänin und ihr Studium der Naturschutzökologie. Dann nimmt sie den Leser mit auf die Sea-Watch 3. Sie lässt ihn an den miserablen Zuständen mit Dutzenden traumatisierten Menschen an Bord teilhaben, sie schildert ihre moralische Verpflichtung, das Leben dieser Menschen zu retten, auch wenn sie dafür den Weg der Legalität verlassen muss. Und schließlich benennt Rackete deutlich zwei Hauptursachen für aktuelle große Fluchtbewegungen: die Klimakatastrophe und globale Ungerechtigkeit. Sie sieht uns alle in der Verantwortung, hier schnellstmöglich zu handeln, und zwar durch zivilen Ungehorsam. Es ist keine Zeit mehr für blinden Optimismus, sondern es ist Zeit zu handeln. Der zivile Ungehorsam soll friedlich bleiben, dennoch schlägt sie radikale Maßnahmen vor.

Teils fand ich die Ansichten etwas zu pauschal formuliert, aber das mag auch dem relativ knappen Umfang mit 176 Seiten geschuldet sein.

Zahlreiche Literatur- und web-Tipps fordern zu weiterer, vertiefender Lektüre auf.

Fazit: Ein gelungener Appell, der wachrüttelt. Lesen, diskutieren, handeln!

3 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.12.2019
Boschwitz, Ulrich Alexander

Menschen neben dem Leben


ausgezeichnet

Herausgeber Peter Graf hat sich auf die Wiederentdeckung in Vergessenheit geratener Texte spezialisiert. So erschien nun der Debütroman von Ulrich Alexander Boschwitz erstmals auf Deutsch, 82 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in schwedischer Sprache.

Der Berliner Boschwitz emigrierte 1935 nach Skandinavien, später nach England. Er starb im zweiten Weltkrieg im Alter von nur 27 Jahren.

Sein Erstlingsroman spielt im Berlin der Zwanzigerjahre. Seine Protagonisten sind die "kleinen Leute", die Verlierer, die am Rande der Gesellschaft ums Überleben kämpfen und dabei doch auch ihren Spaß haben wollen.

Boschwitz schildert den harten Alltag von Bettlern, Hausierern, leichten Mädchen und Kriegsversehrten. Seine Figuren erschließen sich nicht sofort, aber der Romancier zeichnet - für seine 22 Jahre erstaunlich lebenserfahren - die Charaktere feinfühlig, nach und nach gewinnen sie Kontur und auch die ein oder andere Sympathie des Lesers. Etwa dann, wenn man erfährt, welches Trauma "Tönnchen" zu dem Menschen gemacht hat, der er nun ist: ein übergewichtiger, schwachsinniger Erwachsener, der nur noch an der Befriedigung seiner primären Bedürfnisse Essen, Trinken und Schlafen interessiert ist, und der entsetzliche Angst vor dem Alleinsein hat.

Mit ungeschöntem Blick auf den unfassbar schweren Überlebenskampf inmitten der Wirtschaftskrise ist Boschwitz ein beeindruckender Gesellschaftsroman gelungen. Seine Sprache ist beklemmend, eindringlich, unvergesslich.

Mein großer Dank gilt Herausgeber und Verlag für diese (Wieder-)Entdeckung!

Bewertung vom 10.12.2019
WW

WW - Genial saisonal!


gut

Dieses Weight Watchers Kochbuch stellt 60 saisonale Rezepte vor, die Sternekoch Andi Schweiger entwickelt hat.

Die Bandbreite ist groß, zu allen vier Jahreszeiten finden sich Salate, Suppen, Hauptgerichte und Süßspeisen. Ich habe drei Rezepte nachgekocht, die allesamt sehr lecker waren. Die benötigten Zutaten sind übersichtlich aufgelistet, die Zubereitung ist detailliert und verständlich beschrieben. Zusätzlich findet sich zu jedem Rezept ein QR-Code, über dessen Scan man den Link zu einem entsprechenden Kochvideo erhält.

Dennoch konnte mich dieses Kochbuch in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugen: Ob es genial ist, wie der Titel so vollmundig verspricht, sei mal dahin gestellt. Aber saisonal - wie das zweite Adjektiv auf dem Cover ankündigt - sollten die Rezepte ja dann doch sein. Und dazu hätte ich doch mehr erwartet, als dass ein oder zwei Zutaten zur jeweiligen Jahreszeit passen. Gerade im Hinblick auf Nachhaltigkeit versuchen immer mehr Menschen in der Küche frische Zutaten zu verwenden, die gerade Saison haben, und zwar bei uns, also auch regional sind. Denn nur so kann man lange Transportwege und/oder energieintensive Lagerung vermeiden. Doch leider benötigt man für viel der Rezepte neben der saisonalen Zutat auch Obst oder Gemüse, das von weit her kommt, etwa für den winterlichen Feldsalat importierte Physalis.

Überhaupt sind viele Zutaten - wenn man nicht gerade wie der Sternekoch in einer Großstadt lebt - nur durch lange Einkaufswege oder online zu bekommen: Kerbelwurzel, Topinambur, Schwarzkohl, gelbe Beete oder Vadouvan Würzmischung bekomme ich jedenfalls weder im Supermarkt noch im örtlichen Bioladen. Auch einen Küchengasbrenner dürfte nicht jeder Haushalt sein eigen nennen.

Bei den Mengenangaben heißt es aufpassen: Mal sind die Rezepte für sechs, mal für vier oder auch nur für zwei Personen angegeben. Außerdem finde ich es schade, dass sich das Buch offenbar nur an Teilnehmer des Weight-Watcher-Programms richtet, die sich mit dem verwendeten Punktepgrogramm zur Gewichtsreduzierung bereits auskennen. Es wird zwar auf einer Doppelseite kurz vorgestellt, verstanden habe ich es dadurch aber leider nicht.

Optisch ist das Buch sehr gelungen, Fotos, die eine echte Augenweide sind und ein modernes Layout machen sofort Appetit. Ein Lesebändchen und das Register nach Zutaten sind praktische Details.

Inhaltlich kann das Werk leider nicht mithalten: Die "Kleine Frühlingskräuterkunde" ist zum einen wirklich sehr kurz geraten: Gerade mal drei Kräuter werden aufgeführt und in je drei Sätzen abgehandelt. Zum anderen wird erwähnt, dass Koch Andi Bärlauch am liebsten im Wald sammelt. Bärlauch wird jedoch leicht mit giftigen Maiglöckchen oder Herbstzeitlosen verwechselt, daher ist der Aufruf zum Sammeln ohne entsprechenden Warnhinweis in meinen Augen fahrlässig!

Desweiteren hat mich an vielen Stellen die "Lobhudelei" des Sternekochs genervt: "Und weil Andi eben ein echter Profi ist ..." "Wird die Natur im Sommer für einen Profi wie Andi Schweiger ..." usw. Alles in seiner Küche ist "cool" und "fresh" - ich kam mir bei der Lektüre vor als wäre ich in eine Kochvorführung eines TV-Shopping-Kanals geraten.

Was die reine Betrachtung der Rezepte angeht, hätte ich vier Sterne vergeben, so reicht es gerade eben für drei.