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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 761 Bewertungen
Bewertung vom 04.07.2017
Braitenberg, Valentin; Hosp, Inga

Die Natur ist unser Modell von ihr


sehr gut

Interdisziplinäre Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis

Das Buch besteht aus Essays von elf Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zu Grenzfragen der Erkenntnis. Im Fokus stehen erkenntnistheoretische Fragen, z.B. wie die Welt in unser Bewusstsein gelangt und wie unser Erkennen der Welt unser Weltbild prägt. Die Naturwissenschaften beeinflussen massiv die Philosophie, wie der Physiker Peter Mulser im Vorwort deutlich macht. "Aus naturwissenschaftlicher Sicht gesehen ist moderne Philosophie im Sinne vergangener Jahrhunderte schwerlich vorstellbar; sie greift nicht mehr." (13)

Ernst von Glasersfeld beschreibt seine Position des radikalen Konstruktivismus. Er moniert, dass es keine von uns unabhängige Realität geben kann, die dennoch für uns erkennbar ist. Als Beispiel erläutert er ein Gottes-Paradoxon byzantinischer Weiser, welches bereits im 3. Jahrhundert bekannt war. Die reale Welt bezeichnet er, wie im Titel seines Beitrags angedeutet, als "Black box". Der Konstruktivismus, wie er ihn vertritt, ist ein Modell des Denkens.

Der Psychologe Thomas Bernhard Seiler beschäftigt sich mit der Frage, wie Weltbilder entstehen. Dabei handelt es sich um allgemeine Betrachtungen zur Welterfahrung und nicht um kosmologische Weltbilder. Sind wir selbst die Schöpfer unserer Weltbilder? Er bezeichnet Weltbilder als komplexe Wissensstrukturen, unterscheidet verschiedene Arten von Wissen, thematisiert die Kulturabhängigkeit von Weltbildern und analysiert die Zeit als Raster des Welterlebens.

Können Naturgesetze, die für den Bereich der unbelebten Natur erschlossen wurden, zu einem Verständnis der belebten Welt führen? Diese Frage untersucht der Physiker Alfred Gierer in seinem Beitrag. Er hält eine Reduktion der Biologie auf die Physik nicht für möglich. Damit grenzt er den Reduktionismus ein, ähnlich wie das schon der Biologe Ernst Mayr in seinem Buch "Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt" getan hat.

Einen sehr anspruchsvollen Beitrag leistet die Mathematikerin Eva Ruhnau. Sie beschäftigt sich mit bewusstem Zeiterleben des Gehirns (Gleichzeitigkeitsfenster) und der Zeit aus physikalischer Sicht. Das bewusste Jetzt hat eine zeitliche Ausdehnung. Schon Einstein hat sich intensiv mit der mentalen und der physikalischen Zeit beschäftigt. Ruhnaus Ziel ist es, einen Beitrag zum Materie-Bewusstsein-Streit zu leisten.

Andrea Sgarro, Professor für Computerwissenschaften, erläutert, wo es Ungewissheit, Unvollständigkeit oder Unentscheidbarkeit in der Mathematik gibt, wie die Wissenschaft mit diesen Effekten umgeht und wie die Weltsicht dadurch beeinflusst wird. Er schlägt die Brücke von der Logik zum menschlichen Gehirn und stellt dessen Fähigkeit heraus, mit Ungewissheit umzugehen.

Bei Physiker Claus Kiefer stehen die Pfeile der Zeit im Fokus. Er erläutert, warum sich die Scherben einer Tasse, die auf den Boden gefallen ist, nicht wieder von selbst zusammenfügen. Wie ist das vereinbar mit den zeitumkehrsymmetrischen Gleichungen der Physik? Die Leser erfahren außerdem, dass die Nahrungsaufnahme dazu dient, die eigene Entropie niedrig zu halten.

"Die Verwechselung von Realität und Virtualität wirkt sich auch auf die Entwicklung des politischen Lebens aus." (205) Informatikprofessor Guiseppe O. Longo erweist sich damit 1995 als weitsichtig. Er thematisiert in seinem Essay die Wechselwirkung von Erkenntnis und Informationstechnik und beschreibt die Informationsrevolution.

Die Essays sind anspruchsvoll und vielseitig. Ist die Natur unser Modell von ihr? Eine Antwort gibt der Hirnforscher Gerhard Roth in seinem Essay: "Wir erleben die Welt als unmittelbar gegeben, als ein einheitliches Ganzes ... Demgegenüber zeigt die Hirnforschung, dass die Wahrnehmungswelt ein Konstrukt des Gehirns ist." (99)

Bewertung vom 26.06.2017

Das Hausbuch des schlesischen Humors


sehr gut

„Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ (Otto Julius Bierbaum aus Grünberg / Schlesien)

Das Buch enthält eine Sammlung von schriftlich und mündlich überlieferten Geschichten, Anekdoten, Sprichwörtern und Gedichten von bekannten und unbekannten Autoren aus Schlesien über das Land und die Menschen in Schlesien. Herausgeber ist der aus Oppeln stammende Schriftsteller Alfons Hayduk (1900-1972).

Ziel ist es, den Lesern den typischen schlesischen Volkshumor näher zu bringen. Die Schlesier werden als „derb und und tapsig, geradezu und hinterpfiffig“ (7) beschrieben. Die Geschichten sind teilweise in schlesischer Mundart verfasst, was das Verständnis ein wenig erschwert. Das schlesische Wörterbuch im vorletzten Kapitel des Buches ist da sehr hilfreich. Die Leser erhalten auch einen Eindruck davon, welche Ausdrücke aus Schlesien sich zum Allgemeingut entwickelt haben.

Das Buch enthält, auf zwölf Kapitel verteilt, Lesenswertes zur Historie, zu Breslau, zu Kulinarischem, zum Leben in der Schule, zur Bürokratie, zu Ehe und Familie, um Beispiele zu benennen. Es geht in diesem Buch nicht um Flucht und Vertreibung, sondern um die sprichwörtlich gute alte Zeit und den zeitlosen schlesischen Humor.

Bewertung vom 09.06.2017
Riedl, Rupert

Biologie der Erkenntnis


sehr gut

Biologische Grundlagen der Vernunft

Vernunft ist die oberste menschliche Erkenntnisinstanz. Der Rationalismus sieht in der Vernunft ein verlässliches menschliches Erkenntnisverfahren. Dieser eher philosophischen Erkenntnislehre fehlt zum Nachweis die Empirie. Auch stellt sich die Frage, wie Erkenntnisprozesse entstehen, die letztlich die Grundlage der Vernunft bilden.

Der österreichische Zoologe Rupert Riedl (1925-2005) setzt sich in diesem Buch mit den biologischen Grundlagen der Vernunft auseinander. Er untersucht die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft aus naturwissenschaftlicher Sicht. Damit erweitert er das Fundament der Evolutionären Erkenntnistheorie, die mit Namen wie Gerhard Vollmer, Konrad Lorenz und Hoimar von Ditfurth verknüpft ist.

Das Buch ist einerseits wohl strukturiert, andererseits aber schwer verständlich und das liegt nicht nur am Thema, sondern auch an komplizierten Sätzen, die man häufig mehrmals lesen muss. Die erkennbare Systematik macht aber deutlich, dass der Autor tief im Thema steckt. Wem es primär um die "Evolutionäre Erkenntnistheorie" geht, ist mit dem gleichnamigen Buch von Gerhard Vollmer bestens bedient.

Bewertung vom 27.05.2017
Fromm, Erich

Die Kunst des Liebens


ausgezeichnet

Eine tiefsinnige Analyse des Phänomens Liebe

"Die Kunst des Liebens" ist ein Klassiker des Sozialpsychologen Erich Fromm, der sich in seinen Schriften mit psychologischen, soziologischen und philosophischen Fragestellungen auseinandergesetzt hat. Mit diesem 1956 erschienen Buch wurde Fromm als humanistischer Denker bekannt, der daran glaubt, dass Menschen zu Vernunft und Liebe fähig sind.

Das Buch reflektiert den Zeitgeist der 1950er und 1960er Jahre und beruht damit auf einem Rollenbild von Frau und Mann, welches nicht mehr aktuell ist. Das sollte aber nicht überbewertet werden. Es ist der normale Lauf der Dinge, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern. Literatur ist immer auch ein Spiegelbild des jeweiligen Zeitgeistes. Viele seiner Vorschläge und Forderungen sind zeitlos.

Fromm setzt sich mit theoretischen und praktischen Fragen auseinander. Er bringt die Liebe mit der menschlichen Existenz in Verbindung und analysiert Nächstenliebe, Mutterliebe, Erotik, Selbstliebe und die Liebe zu Gott. Das Buch ist keine Anleitung in die Kunst der Liebe. "... ich möchte zeigen, dass es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann." (9)

Es gibt Erkenntnisgrenzen, die die Menschen nie überwinden werden. Fromm glaubt, dass Menschen das Universum nicht begreifen, aber im Akt der Liebe erkennen können. (43) In der Liebe drückt sich die menschliche Sehnsucht nach Einheit aus. Liebe dient in allen seinen Facetten der Überwindung des Getrenntseins.

Fromms Ausführungen machen deutlich, dass er nicht nur ein Kind seiner Zeit ist, sondern in einigen Aussagen auch seiner Zeit voraus ist. Das gilt z.B. für seine Beschreibungen der Rolle der Filmstars, Showmaster und Kolumnisten ("Ihre Hauptqualifikation besteht oft darin, dass es ihnen gelungen ist, in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen.") (129) und für seine Ausführungen zur Politik, Geschäftswelt und Bürokratie ("ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck"). (145)

"Die Kunst des Liebens" ist ein Basiswerk, wenn man sich mit dem Thema Liebe auseinandersetzt. Es ist kein Ratgeber, der dazu dient, den Menschen kurzfristig zu verändern, sondern eher ein intellektuelles Werk, welches bei der Selbstreflexion hilft. Das Buch kann ich auch heute noch empfehlen.

Bewertung vom 22.05.2017
Watzlawick, Paul

Anleitung zum Unglücklichsein


ausgezeichnet

Parodie auf die Glücksratgeber

Paul Watzlawick, bekannter Kommunikationswissenschaftler, Konstruktivist und Psychotherapeut, ist ein Freund paradoxer Verhaltensweisen. Das paradoxe an diesem Ratgeber ist, das es eigentlich ein Anti-Ratgeber für Glücklichsein und als solcher eben auch ein Ratgeber zur Reduzierung des Unglücklichseins ist.

Die Beispiele sind aus dem Leben gegriffen, enthalten viel Humor und Ironie und sind ausgesprochen lehrreich. Die Ausleihe eines Hammers und die verscheuchten Elefanten haben sich zu Klassikern entwickelt. Alle Menschen können in Harmonie miteinander leben, wenn sie das Leben als Nichtnullsummenspiel begreifen.

Es könnte so einfach sein, aber der Mensch taugt noch nicht einmal für das Paradies, wie der Autor gleich zu Beginn seines Buches deutlich macht. Dummheit ist eine systemimmanente Eigenschaft des Menschen. Er begreift nicht, dass er nur unglücklich ist, weil er nicht weiß, das er glücklich ist.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.05.2017
Ferguson, Marilyn

Geist und Evolution


schlecht

Gehirnrevolution?

„Wir haben das Supergehirn bereits. Wir hatten es schon immer. Um nichts anderes geht es in der Gehirnrevolution.“ (9) Im Vorwort wird suggeriert, dass die Ergebnisse der Gehirnforschung und verwandter Disziplinen wissenschaftliche Theorien und die Gesellschaft revolutioniert haben. Als Leser fragt man sich: Geht es auch eine Nummer kleiner?

Marilyn Ferguson, eine amerikanische Autorin der New Age – Ära, stellt in ihrem Buch Ergebnisse der Gehirn- und Bewusstseinsforschung vor. Wenn man im ersten Kapitel liest, dass die telepathische Fähigkeit von Menschen gesteigert werden kann (23), welche Form die Wünschelrute haben muss, um Erfolg zu haben (26) und es eine organisierende Lebenskraft gibt (31), kommen erhebliche Zweifel auf hinsichtlich der Seriösität des Buches. Das ganze mischt sich dann mit sehr wohl anerkannten Effekten wie z.B. dem Phantomschmerz in amputierten Gliedmaßen.

Zu den behandelten Themen zählen veränderte Bewusstseinszustände, die Auswirkungen psychedelischer Drogen, Meditation und Hypnose. Ausführlich werden anhand von Fallbeispielen Schädigungen des Gehirns und psychopathische Auffälligkeiten angesprochen. Wenn das Bewusstsein mit einem Filter verglichen wird, deckt sich das durchaus mit aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung (Gerhard Roth: „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ oder Ap Dijksterhuis: „Das kluge Unbewusste“). Um sich sachlich zu informieren, empfehle ich, direkt bei etablierten Wissenschaftlern nachzulesen.

Das Buch passt in die New Age – Ära der 1980er Jahre, in der wissenschaftliche Erkenntnisse, parapsychologische Vorstellungen und fernöstliche Religionen zu einem Einheitsbrei miteinander vermischt wurden. So ist es für den unbedarften Leser nicht möglich, zu unterscheiden, was Mainstream in der Wissenschaft ist und was Interpretation der Autorin bzw. Esoterik ist. Ein Literaturverzeichnis ist nicht vorhanden. Der Inhalt wird zur Glaubensfrage. Das Buch kann ich nicht empfehlen.

Bewertung vom 20.05.2017
Watzlawick, Paul

Die erfundene Wirklichkeit


sehr gut

Ernst von Glasersfeld erläutert die Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus (RK). Es handelt sich um eine Anschauungsform, die den Menschen allein verantwortlich macht für sein Denken, Wissen und Tun. Der radikale Konstruktivist lehnt den metaphysischen oder ontologischen Realismus, der die Existenz einer denkunabhängigen Realität annimmt, ab. Damit unterscheidet sich der RK von der Evolutionären Erkenntnistheorie, die eine Annäherung an eine objektive Welt impliziert.

Heinz von Foerster führt die Gedanken weiter aus und beschreibt das Erkennen als das Errechnen einer Wirklichkeit. Das Beispiel mit dem blinden Fleck im Auge hat eine hohe Überzeugungskraft, weil das Gehirn eine geschlossene Wirklichkeit konstruiert, die nicht vorhanden ist. Dennoch wird m.E. der Bogen überspannt, wenn behauptet wird, dass die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, unsere Erfindung ist. Denn es stellt sich die Frage, „wer“ denn der Erfinder ist? Muss das Subjekt dann nicht zwangsläufig auch ein Konstrukt sein? Und wenn ja, wessen Konstrukt?

Rupert Riedl thematisiert das Ursachendenken, wie es für die Naturwissenschaften existenziell ist. Kausalität ist in der Natur vielleicht gar nicht vorhanden, wie David Hume vermutet. Für Immanuel Kant ist Kausalität eine angeborene Denkkategorie. Aufschlussreich sind Riedls Erläuterungen zu den unterschiedlichen Welterklärungen der Naturwissenschaften (Kräfte, Kausalität) und der Geisteswissenschaften (Zweck, Gründe).

Paul Watzlawick widmet sich ausführlich einem seiner Lieblingsthemen, den selbst erfüllenden Prophezeiungen. Für dieses Phänomen gibt es viele Beispiele. Ein bekanntes Beispiel, welches Watzlawick hier nicht vorstellt, ist die Entwicklung der Aktienkurse, wenn zur Entwicklung Aussagen gemacht werden. Beim herkömmlichen Ursachendenken folgt die Wirkung zeitlich versetzt auf die Ursache. Bei den selbst erfüllenden Prophezeiungen determiniert die (erwartete) Zukunft die Gegenwart.

Der Psychologe David L. Rosenhan beschreibt Versuche in der Psychiatrie mit Scheinpatienten, die deutlich machen, wie schwierig es ist, Normalität von Anomalität zu unterscheiden. Interessanterweise waren es eher die Patienten und nicht die Fachleute, denen die Täuschungsversuche aufgefallen sind. Die Erwartungshaltung erweist sich als mächtig und formt die Wirklichkeit. Letztlich werden die Grenzen psychiatrischer Diagnostik deutlich.

In der Literatur gehören Konstruktionen zum Alltag. Rolf Breuer stellt mehrere Romane vor, die das Problem der Rückbezüglichkeit behandeln. Es sind eher anspruchsvolle Werke der Literaturgeschichte, die Breuer anspricht. Dazu zählen z.B. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust und die Trilogie „Molloy“, „Malone stirbt“ und „Der Namenlose“ von Samuel Beckett. Der Verlust des Glaubens an eine objektiv zugängliche Realität spiegelt sich auch in der Literatur wieder.

Der Beitrag von Jon Elster über eine aktive und passive Negation wirkt sehr theoretisch. Er wird lediglich durch ein Paradoxon von Groucho Marx aufgeheitert. Als vergleichbar schwierig erweist sich der Aufsatz des Mathematikers Gabriel Stolzenberg, der sich u.a. mit Begriffsrahmen von Systemen beschäftigt und welche Auswirkungen es hat, wenn diese von Innen oder von Außen betrachtet werden.

Für einen Lichtblick halte ich den Beitrag von Francisco Varela, der sich mit Rückbezüglichkeit und Zirkularität beschäftigt. Er greift auf Skizzen von M. C. Escher zurück und thematisiert Gödels Unvollständigkeitssätze. Die Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt gehört zu seinen Themen.

So lehrreich der RK auch ist, es wird zu wenig auf Grenzen dieser Wirklichkeitsforschung eingegangen. Es kann nicht alles konstruiert sein. Da stellt sich sofort die Frage nach dem Konstrukteur. Wenn die Welt ein Konstrukt ist, ist sie mein Konstrukt. Auch liefern die Naturwissenschaften Erkenntnisse bezogen auf eine intersubjektive Wirklichkeit, die ich mir nicht aussuchen kann.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.05.2017
Schüle, Christian

Heimat


ausgezeichnet

„Ich spürte die Verwurzelung meines Körpers in einem bestimmten Boden, und der Kirchturmglockenklang korrespondiert mit einem Gefühl, das diebstahlsicher im Archiv des eigenen ICHs verwahrt ist.“ (12) Der Autor versteht es, die Geborgenheit, die Menschen mit Heimat verbinden, prägnant zu beschreiben.

Dennoch bleibt Schüle auch widersprüchlich in seinen Aussagen oder er schafft bewusst eine Diskussionsgrundlage. Dies gilt schon hinsichtlich der Frage, was Heimat denn nun ist. Ist Heimat nur die Idylle auf dem Land? Nein. Heimat ist auch: „Die Bindung an den Ort des eigenen Ursprungs – der ebenso gut die Plattenbausiedlung einer Metropole, die Straßenschlucht einer Großstadt oder die Leere einer Mark sein kann ...“ (11/12)

Die Magie der Kirchturmglocken wird am Ende des ersten Teils des Buches noch einmal beschworen, aber in Frageform. Ist Heimat „das Produkt einer poetischen Erinnerungsleistung“ (66) oder „der mystische Modus zu ... Teilnahme an einem Kulturraum, der durch Gerüche, Geschmäcke und Tonfälle sinnlich bestimmt ist.“ (66/67) Da sind sie wieder, die Bilder, die der Autor mit seinen Worten erzeugt.

Offensichtlich ist Heimat für viele Menschen nicht die Idylle, die im ersten Teil des Buches beschworen wird. Millionen Menschen aus Afrika sind wegen Hunger, Dürre und Krieg auf der Flucht. Hier stellt sich die Frage, welche Bedeutung Heimat für diese Menschen hat. Ist Heimat der reale Geburtsort oder hat Heimat eine metaphysische Bedeutung?

Auf der Suche nach neuer Heimat werden flüchtende Menschen, insbesondere wenn sie in großer Anzahl auftreten, mit Misstrauen und Abwehr konfrontiert. Der Autor spricht von anthropologischen Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. (98) „Mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerungen zieht Geschlossenheit der Offenheit vor.“ (104) Hier wäre ein Ausflug in die Evolutionsbiologie hilfreich, um die Zusammenhänge besser verstehen zu können.

Das Thema hat eine gesellschaftliche Dimension. Es geht beim Fremden nicht primär um Hautfarbe oder Religion. Es geht um die Anerkennung der gesellschaftlichen Prinzipien des aufnehmenden Landes. Religion wird nur dann problematisch, wenn sie über das Grundgesetz gestellt wird. Eine Kultur, die Frauen unterdrückt, wird in Europa keine Anerkennung finden.

Migration ist ein schwieriger Prozess und aus den oben genannten Gründen haben es Menschen aus christlich geprägten Kulturen hier leichter als Menschen aus muslimisch geprägten Kulturen. Dabei ist der Autor nicht auf einem Auge blind, sondern macht deutlich, was im Namen des Christentums alles geschehen ist. Der Begriff „Werte“ erscheint als ein Widerspruch zu sich selbst, wenn man ihn spiegelt mit Inquisition, Folter und Verbrennung.

Auch fällt auf, dass Deutschland eine historische Last zu tragen hat und über Assimilation und strukturelle Integration nicht unbefangen diskutieren kann. Der Traum von Multi-Kulti ist in Deutschland beherrschend und die Schuld für misslungene Integration wird allein bei der aufnehmenden Gesellschaft gesucht. Wenn Deutschland als neue Heimat in Betracht gezogen wird, ist – als Minimalforderung - die Kenntnis der Sprache unbedingte Voraussetzung.

Schüle setzt sich mit der Entwicklung in Europa auseinander und benennt Schwächen. „In jeder funktionsfähigen Demokratie westlicher Prägung können die Bürger opponieren und eine Regierung abwählen – in der EU können sie das nicht.“ (207) Trotzdem bestimmt die EU mittlerweile den Alltag. Viele Menschen fühlen sich diesem Hypersystem ausgeliefert. Hier hat die Politik eine Bringschuld, den Nutzen verständlich und plausibel zu erläutern.

Der Autor zeichnet ein Bild der Zerrissenheit, aber auch der Hoffnung. Sein Entwurf ist nicht frei von Widersprüchen, aber das ist auch nicht das Ziel. Es geht nicht um einfache Antworten, sondern um eine Reflexion des Themas in seiner Vielschichtigkeit und damit um eine Diskussionsgrundlage, um den Veränderungsprozess zu begleiten. .

Bewertung vom 07.05.2017
Bittl, Monika

Ich will so bleiben, wie ich war


sehr gut

Take it or leave it!

Warum der im Buchtitel geäußerte Wunsch nicht erfüllt werden kann, macht Monika Bittl bereits im Vorwort deutlich. „Zu dumm nur, dass aber Älterwerden die einzige Möglichkeit ist, um zu überleben.“ (7) Im Sinne dieser fatalistischen Erkenntnis handelt es sich bei diesem Buch auch nicht um einen Ratgeber, sondern eher um ein Arrangement mit dem Älterwerden.

Die Natur meint es gut mit den Menschen, denn in der Regel sehen wir uns positiver, als unsere Umwelt uns sieht. Insofern sollte das von Frau Bittl beschriebene „Gespenst im Spiegel“ (11) eher die Ausnahme sein. Wer es dennoch erkennt, kann die Brille wechseln oder wie einst Edith Piaf, der die Autorin ein eigenes Kapitel widmet, „Je ne regrette rien“ (67) in den Äther schmettern.

Frau ist heute ihrer selbst bewusst. „Ich bin lustig und heiter, wenn es mir gerade passt, und nicht, wenn eine Radio-Tussi mir das vorschreibt.“ (122) Und da alles relativ ist, gilt auch: „Und ich bin noch jung. Zumindest auf dem Weg zu meinen Eltern – denn dorthin fahre ich immer noch als Kind.“ (122) Alles ist perfekt. Wozu dann noch die Brille wechseln?

Die Autorin greift eine Vielzahl an Alltagssituationen auf, die sie ironisch bzw. humorvoll, verpackt in kleinen Kapiteln, vorstellt. Es sind Ansichten, Einsichten, Erfahrungen und sogar eine kleine Übersetzungshilfe, damit der Partner „sie“ besser versteht. (193) Die Antwort auf viele Fragen gibt die Autorin im Kapitel „Als das Wünschen noch geholfen hat“. Das Beste, was Frau (Mann) erreichen kann ist: „Sei du selbst.“(124)