Benutzer
Benutzername: 
hamburger.lesemaus
Wohnort: 
Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 473 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2022
Kühmel, Miku Sophie

Triskele


gut

Triskele
Miku Sophie Kühmel

Mone hat sich mit 64 Jahren das Leben genommen. '‘Wahrscheinlich seid ihr nicht sonderlich überrascht’', schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief. (S.7)
Sie hinterlässt drei Mädchen von drei verschiedenen Männern und eine Katze.
Jeweils 16 Jahre liegen die drei Kinder auseinander.

Die älteste Tochter Mercedes ist 48 Jahre alt, in der DDR geboren und aufgewachsen, damals waren sie ein Team: ihre revolutionäre Mutter, die selbstbewusste Omi und sie.
Als 16 Jahre später Mira zur Welt kam, fiel die Mauer gerade, doch ihre Mutter war zu der Zeit bereits krank und depressiv, so dass Mercedes jedes Wochenende von der Uni nach Hause fuhr, um sich um ihre kleine Schwester zu kümmern. Erst als diese selbständig wurde, zog sich Mercedes zurück, doch da wurde Mone ein weiteres Mal schwanger.
Matea, die jüngste Tochter, hatte es vielleicht am Schwierigsten, denn ihre Mutter lag fast immer nur im Bett und Mira zog aus, als Matea noch Windeln trug.
Jede von ihnen erlebte eine komplett andere Mutter.

Matea zieht nach dem Tode ihrer Mutter zu ihrer ältesten Schwester nach Berlin, wo auch Mira ganz in der Nähe wohnt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sind sich die Schwestern räumlich nah und stellen fest, dass sie sich überhaupt nicht kennen. Erzwungenermaßen müssen sie ihr Leben umstrukturieren, sich neu kennenlernen, Gespräche führen, gemachte Fehler eingestehen und Vorurteile aufarbeiten.

Die Schwestern kommen in dem Buch je drei Mal, nacheinander, in langen Kapiteln zu Wort.

Leider muss ich sagen, dass das Buch hinter meinen Erwartungen blieb.
Mir waren die Dialoge oft zu wirr und wechselhaft, ganz sicher von der Autorin genau so gewollt, aber für mich hat sich dadurch einfach nicht alles erschlossen.
Leider habe ich auch festgestellt, dass ich immer nur sektionsweise an den Geschichten interessiert war. Einige Gespräche haben mich dermassen intensiv gepackt, dass ich gerne mehr erfahren hätte. Andere Unterhaltungen fand ich einfach nur überflüssig. Für meinen Geschmack sind die Geschwister sich in diesem Buch nicht nahe genug gekommen, der Tiefgang fehlte mir.
2½/ 5

Bewertung vom 17.09.2022
Keegan, Claire

Kleine Dinge wie diese


ausgezeichnet

Für mich das schönste Buchcover des Jahres 2022:

Kleine Dinge wie diese
Claire Keegan,
aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

New Ross, Irland im Südosten:
Obwohl Bill Furlong 1946 als unehelicher Sohn eines Hausmädchens geboren wurde, wuchs er privilegiert auf. Die Hausherrin und Chefin seiner Mutter, Mrs. Wilson, hatte keine eigenen Kinder und so durfte seine Mutter in Anstellung bleiben und bei ihr wohnen. Dort wurde er bescheiden und gottesfürchtig erzogen, und als seine Mutter früh starb, blieb er bis zu seiner eigenen Hochzeit bei Mrs. Wilson im Hause wohnen.

1985: Jahre später ist Furlong ein selbständiger Brennmaterial- und Kohlenhändler, hat eine Frau und fünf Töchter. Er ist ein strebsamer und freundlicher Mann, meidet die Irischen Pubs und ist ein liebevoller Vater.
Irland versinkt in Arbeitslosigkeit, doch Furlongs Geschäfte laufen gut und bei ihm darf man anschreiben. Für die Armen hat er immer ein wenig Kleingeld in der Tasche.

Über der Stadt thront ein Kloster. Wohlhabende Leute bringen ihre Wäsche dorthin. Junge Frauen waschen diese weißer, als sie je waren.
Dabei hinterfragt keiner im Dorf, was es mit den jungen Frauen auf sich hat, woher sie kommen oder wohin sie gehören. Das ganze Dorf nimmt diese Frauen als gegeben hin.

Kurz vor Weihnachten beliefert Furlong das Kloster mit Brennmaterial. In dem Kohlenkeller findet er ein Mädchen eingesperrt vor.
Diese Begegnung und auch die empathielose Reaktion seiner Frau, nachdem er ihr von dem Vorfall erzählt, führen dazu, dass er sein ganzes Leben neu überdenkt.

Das kleine, schmale Buch mit gerade einmal 105 Seiten hat Tiefgang. Keegan verbindet eine fiktionale Geschichte mit einer traurigen historischen Tatsache, nämlich die der Magdalena-Wäschereien, die erst 1996 geschlossen wurden. (Schwangere) Mädchen und Frauen wurden in diesen Einrichtungen versteckt und zur Arbeit gezwungen. Unzählige Frauen und Babys starben.

Unglaublich ausdrucksstark! Viel zu schnell war dieses Buch gelesen.
Große Leseempfehlung von mir.
5/ 5

Bewertung vom 15.09.2022
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Habt ihr Wilhelm Tell früher auch in der Schule gelesen? Entschuldigung, lesen müssen? Ich meine das Buch mit der Sage über den Schweizer Nationalhelden? Der mit dem Apfel! Ahhh … gut, ihr erinnert euch!

Hier kommt der moderne Tell, sozusagen Tell reloaded:

Tell
Joachim B. Schmidt

Es ist die Geschichte von Wilhelm Tell, der sich mit der falschen Person anlegt - nämlich mit dem Habsburger Landvogt Gessler.
Tell, der eigentlich ein einfacher Bergbauer ist, von jeher ein Eigenbrötler und sehr stur, lehnt es ab sich vor dem Hut des Vogtes zu verbeugen. Als Strafe soll er, aus 50 Schritte Entfernung, mit der Armbrust, auf einen Apfel schiessen, der zuvor auf den Kopf seines Sohnes gelegt wurde. Zum Leidwesen der Habsburger gelingt Tell dieser Schuss: Der Sohn sackt unverletzt zu Boden und der Apfel wurde von dem Pfeil in vier Teile gespalten. Trotz des Erfolges soll Tell bestraft werden. Er wird festgenommen und abgeführt. Doch Tell gelingt die Flucht und sinnt nach Rache. …

Das besondere an diesem Buch ist, dass mehr als 20 Personen aus der Ich-Perspektive die Geschichte erzählen. So kommen u.a. seine Familie, der Pfarrer, der Vogt, die Soldaten und seine Söhne zu Wort.
Die neue Interpretation von Tell ist dem Autor Joachim B.Schmidt großartig gelungen. Die kleinen kurzen Kapitel lasen sich für meinen Geschmack viel zu schnell. Ein grossartiges Buch und eine Leseempfehlung von mir!
5 /5

P.S Lehrer, habt ihr gut aufgepasst? Schiller war gestern, heute ist Joachim B.Schmidt! Bringt dieses Buch an die Schulen!

Bewertung vom 13.09.2022
Röder, Britta

Zwischen den Atemzügen


sehr gut

Road Trip der besonderen Art

Da mir Britta Röders Buch „Das Gewicht aller Dinge“ sehr gefiel, wollte ich unbedingt ihr vorheriges Buch auch noch lesen:

Zwischen den Atemzügen
Britta Röder

Olli, hasst seinen Job als Versicherungsvertreter. Jeden Tag geht er aufs neue unzufrieden zur Arbeit. Einziger kleiner Lichtblick im Büro ist sein Kollege Gabor. Dieser ist immer freundlich zu ihm, aber auch hier geht die Freundschaft nicht über das Büro hinaus. Als er dann eines Tages in das Büro seines Chef gerufen wird, rechnet er mit der Kündigung. Doch es kommt anders. Das Gegenteil tritt ein: Er wird befördert.
Ganz plötzlich wird Olli schlecht, so schlecht, dass er sich über dem Tisch seines Chefs erbricht und fluchtartig verschämt das Büro verlässt.
Draussen, an der Tankstelle, wird er fast von einer Frau überfahren.

Leokadia flieht Hals über Kopf aus dem Krankenhaus, wo sie eigentlich einen Termin bei dem Professor hat.
An der Tankstelle sieht sie ein Auto. Der Schlüssel steckt noch im Zündschloss und ohne weiter zu überlegen, steigt sie in das Auto, legt den Rückwärtsgang ein und fährt Hals über Kopf los. Zumindest wollte sie das, denn den Mann, der hinter dem Auto geht, hat sie übersehen.

So beginnt die Bekanntschaft von Leokadia und Olli. Beide ohne Ziel und enttäuscht vom Leben.
Ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben fahren sie gemeinsam los. Raus aus Frankfurt und immer weiter nach Süden, über Frankreich bis hin nach Spanien.

Der Road Trip hätte so herrlich sein können, wenn nicht aus unerfindlichen Gründen jede Menge Menschen um sie herum sterben und sie nicht von der Polizei verfolgt werden und Gabor sich nicht auf die Suche nach Olli gemacht hätte.

Britta Röder hat hier einen Road trip mit Tiefgang geschrieben. Ein Buch, was zum Nachdenken anregt und eine ganz klare Message hat: LEBT HEUTE UND NUTZT DIE ZEIT! Die Geschichte von Gabors Vater hat mich sehr bewegt!
Röders Schreibstil ist flüssig und fein und lässt sich sehr gut lesen.
Einziger kleiner Kritikpunkt, sind die vielen Menschen, die während der Geschichte starben. Was mit schwarzem Humor begann, artete mir zu doll aus.

Leseempfehlung für alle, die Road Trips mit ein wenig schwarzem Humor und Tiefgang mögen.
4/ 5

Bewertung vom 11.09.2022
Strunk, Heinz

Ein Sommer in Niendorf (MP3-Download)


weniger gut

Zu Beginn lustig, später nur noch grässlich!

Roth über seine Tochter:
„Fiona ist, man muss es leider so sagen, missraten, verkorkst und zwar grundlegend verkorkst. Irgend'was ist schiefgelaufen. Beim Gen-Roulette die Null erwischt. Unbekannter Defekt. Seltene Störung, verwobener Webfehler.
Unausstehlich mit 2, unsympathisch mit 4, unerträglich mit 8, zum Kotzen mit 16. (…) In unendlichen Weiten von Fionas Gehirn müssen jede Menge Synapsen verschmokelt sein und jetzt fahren die Transmitter Achterbahn, arrogant, selbstgerecht, humorbefreit und dauerbeleidigt, glaubt sie, das Universum existiere einzig und allein zu dem Zweck, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Im Laufe der Jahre wuchs ihr Missmut, wodurch er so umfassend wurde, dass kein Kraut mehr dagegen gewachsen ist. (…) Und so sass er nach einem knappen halben Jahr wieder seiner Feindin gegenüber, vielleicht die Enttäuschung seines Lebens. Als sie in der Pubertät das Mondkalbstadion erreichte, als aus ihr ein übergewichtiges, pickliges Wesen wurde, die Verhässlichung sie noch unerträglicher machte, fiel endgültig der Vorhang zwischen ihnen.“ (Section 7)

Ein Sommer in Niendorf
Heinz Strunk,
gelesen vom Autor

Der alternde Jurist und Schriftsteller Roth mietet sich in einem kleinen Zimmer in Niendorf an der Ostsee ein. Hier möchte er ein Buch bestehend aus Zeitzeugenberichten und Aufzeichnungen seiner Familie schreiben. Er hat sich extra dafür ein Vierteljahr freigenommen und freut sich darauf, einfach mal gar nichts zu tun, sich nur auf seine Familienbiografie zu konzentrieren.
Angekommen in Niendorf und gleich zu Beginn stellt Roth fest, dass der Verwalter seiner angemieteten Wohnung ein Alkoholproblem hat. Dessen Angebote am Mittag mal einen „zu zwitschern“ lehnt er zunächst ab.
Er ist ambitioniert, sein grosses Ziel ist es, mindestens fünf Stunden am Tag zu schreiben, doch schnell stellt er fest, dass seine Familiengeschichte eigentlich nicht spannend, sondern eher langweilig ist.
Immer öfter nimmt er die Trinkangebote seines Verwalters jetzt an und merkt gar nicht, wie er bereits in einem Hamsterrad sitzt, welches sich zu drehen begonnen hat.

Was vielversprechend, mit sarkastischen Humor begann, artete völlig aus.
Während ich am Anfang noch über den Humor lächeln konnte, hätte ich am liebsten 21 Seiten vor Buchende abgebrochen. Roth ist ein Narzisst. Frauen sieht er entweder als Sexobjekte oder wertet diese an ihren nicht perfekten Körpermerkmalen ab:

Roth über eine beleibte Jugendliche am Strand:
„Das Entlein hat ein gelbes dummes Gesicht, voller bläulicher Aknespuren. In ihrem schlappen Badeanzug sieht sie aus, wie eine zerquetschte Nektarine. Schlaffe Arme, schlaffer Mund, schlaffer Blick. Die käserartigen schweren Lieder hängen auf Halbmast. Weil sie aussieht wie sie aussieht, mag sie sich nicht ausziehen. Vielleicht ist sie die Schwester oder Cousine von irgendjemand. Eine, die man aus Mitleid mitnimmt und dann irgendwo vergisst.“ (Section 6)

Beleidigungen, in einer Fäkalsprache, werden hier aneinandergereiht. Weder Niendorf, noch Niendorfer Lokalitäten kommen hier gut weg.

Die Idee, dass ein Hamburger dieses Buch liest, finde ich phänomenal. Aber nicht jeder Autor ist ein guter Hörbuchsprecher.
Strunk rattert in seinem Hamburger Akzent das Buch nur so runter. Man könnte meinen, dass ihm für Schnelligkeit ein Preis in Aussicht gestellt wurde! Ich hoffe, dass es nicht der Deutsche Buchpreis 2022 ist!

Völlig zu Unrecht auf der Longlist!
2/ 5

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2022
Engel, Nora

Gretas Geheimnis / Die Winzerin Bd.2


ausgezeichnet

Gelungene Fortsetzung

Gretas Geheimnis - Die Winzerin, Band 2
Nora Engel

Da es erst zwei Monate her ist, dass ich Gretas Erbe, die Winzerin Band 1, lesen durfte, ist mir die Geschichte von Greta, die als ungeliebte Ziehtochter auf dem Weingut Hellers aufwuchs, noch gut in Erinnerung. Ich habe die Fortsetzung herbeigesehnt und eines darf ich vorweg nehmen: Das Warten hat sich gelohnt!

Greta nimmt das Erbe ihres Erzeugers Fritz Freudberg an, das grösste Weingut der Pfalz zu leiten, obwohl dieses an drei Bedingungen geknüpft ist:
- Ihre Grossmutter Adela darf bis zu ihrem Tode auf dem Weingut wohnen.
- Greta darf kein Land verkaufen.
- Sie muss innerhalb von drei Monaten Freudbergs Kellermeister Bruno Bachstern heiraten.

Die erzwungene Ehe mit Bruno gestaltet sich nicht immer leicht: Immer wieder verfällt dieser in Phasen des Schweigens. Auch als die ersten Kinder geboren werden, wird die Vertrautheit zwischen ihnen nur zeitweise besser. Greta stürzt sich in Arbeit und versucht trotzdem ihre erste 'eigene' Familie zu schützen. Eine grosse Hilfe hierbei ist ihre Grossmutter Adela, die fest an ihrer Seite steht und sie bei allen Vorhaben unterstützt.
Greta hat Erfolg, sie wird als Winzerin in der Winzergemeinschaft und Männerdomaine anerkannt. Ihr gutes Gespür für den Weinanbau lässt sie die richtigen Entscheidungen treffen.
Als ihre grosse Liebe Robert aus Amerika zurückkommt und fast zeitgleich ihr der südafrikanische Winzersohn Henry, der Weinlesehelfer ist, schöne Augen macht, passiert ungeplantes.

Die letzten zwei Tage bin ich nur so durch die Fortsetzung des Buches geflogen. Unglaublich gut gefiel mir, wie das Autorinnen-Duo, Danela Pietreck und Tania Krätschmar, Gretas Geschichte mit historischen Fakten verbunden haben. Von den Musiksongs der Zeit, die wichtigsten politischen Geschehnisse, bis hin zur Pril-Blume. Hier fehlte nichts.
Allerdings konnte ich die Motivation Gretas, die Ehe mit Bruno fortzusetzen, nicht ganz nachvollziehen.

Eine gelungene Zeitreise und Fortsetzung von der Winzerin, und ich kann es kaum erwarten bis der letze und dritte Band erscheint!
Leseempfehlung und vergesst nicht Taschentücher und einen guten Pfälzer Wein im Hause zu haben!
4½/ 5 und zum Wohle

Bewertung vom 05.09.2022

Intimitäten


sehr gut

Gutes Hörbuch
Intimitäten
Katie Kitamura,
gelesen von Katja Danowski

Unsere namenlose Ich-Erzählerin zieht von New York nach Den Haag, um eine Stelle am Internationalen Gerichtshof anzutreten.
Es soll ein Neuanfang werden. Dieser gestaltet sich aber für die eher introvertierte Dolmetscherin nicht einfach. Immer wieder hadert sie damit, dass sie zu wenig Abstand zu den Angeklagten hat. Männer, die unter anderem des Massenmordes an Kindern und Frauen angeklagt sind. Es ist diese Intimität, diese Nähe, die entsteht, wenn man ihnen die Übersetzung in Abstand von 5 cm ins Ohr flüstert.

Und auch sonst läuft es nicht gut: In unmittelbarer Nähe wird ein Mann überfallen und schlimm zugerichtet. Sie hätte auch das Opfer sein können.
Auf einer Party lernt sie Adriaan kennen und verliebt sich in ihn. Dieser ist noch verheiratet, wenn auch bereits getrennt lebend. Adriaan macht sich nach Portugal auf, um die Trennung mit seiner Frau zu besprechen. Doch aus ein paar Tagen werden Wochen und dann bricht der Kontakt zu ihm ganz ab. Unsere Protagonistin befürchtet schlimmstes.

Wer jetzt einen Thriller erwartet, liegt hier falsch, dennoch spürt man fortlaufend eine Bedrohung. Das Buch lebt davon, dass die Protagonistin so eindringlich und facettenreich erzählt, dass man förmlich das Gefühl hat dabei zu sein.
Die Sprecherin des Hörbuches hat eher eine empathiearme Stimme, aber genau diese brauchte das Buch! Ausserdem gefiel mir der Einblick am Internationalen Gerichtshof aus der Perspektive einer Dolmetscherin.
4/ 5 und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.09.2022
Müller, Jan;Engler, Rasmus

Vorglühen


ausgezeichnet

Moin, habt ihr früher eigentlich auch immer vorgeglüht?


Vorglühen
Jan Müller / Ramses Engler


1994: Albert kommt zum studieren nach Hamburch. Freunde seina Eltern haben ihm ne coole Butze zur Verfügung gestellt. Nur leida ist diese in Barmbeeek und da ist ja bekanntlich der tote Hund begraben. In der Bahn lernt Albert 'nen coolen Typen kennen: Claus! Als er diesen ein zweites Mal auf'm Konzert trifft, wird das Wiedersehen erstma gebührend gefeiert, und zwar mit nem Zuch durch die Gemeindee. Wo er überall wa, weiss er nich mehr, aber irgendwann in der Naacht hat er sogar noch irgendwo 'n paar Riffs auf der Gitarre geklimpert. (Kommt ihr mit meinem Hamburger Schnodder-Slang klar? Oder soll ich ins Hochdeutsche wechseln? Nö?) Na ja, auf jeden Fall sind die neuen Kumpels von Albert begeistert und nehmen ihn prompt in ihrer Band auf.

Albert zieht kurzerhand um, in Claus seine WG nach St. Pauli - mitten auf'm Kiez. Den Eltern wird das erstmal nicht verklickert, denn Vaddern würde das sicher nicht gefallen. Und morgens zur Uni geh'n is auch viel zu früh und überhaupt.

Als Albert dann schon morgeens um 10 Uhr die erste Knolle (für nicht Hamburger: Bier) am Hals hat, 'ne Kakerlake in seinem WG-Zimmer findet, die Barmbeker Wohnung unabgestimmt an einen Messi untervermietet und zum ersten Mal in der Uni aufschlägt, und zwar gerade dann als vorlesungsfreie Zeit ist, merkt er, dass er ein kleines Problem hat.


Ups, da bin ich wieder! Ich war gerade mal für ein paar Lesestunden in Hamburg. Zurückversetzt in 1994, als ich selber dort als 23-jährige rumtobte. Allerdings in anderen Clubs.
Aber das war ja mal ein #flashback der besonderen Art! Herrlich! Und diese liebe Frau Baszak! Ein echtes Hamburger Unikat!
Das Autorenteam Müller und Engler haben hier wirklich ein besonderes Buch geschrieben. Auch wenn er meinen Musikgeschmack nicht wirklich traf, so fliegt man mit dem sympathischen Albert nur so durch die Seiten. Locker und leicht ist das Buch geschrieben. Ich konnte förmlich diese dreckige WG (wer kennt sie nicht?) vor mir sehen …
Kleinere Passagen im Musikbereich waren mir zu lang, aber sonst ein wirklich kurzweiliges Buch.

Leseempfehlung für alle, die eine a
Affinität zu Musik und/oder Hamburg in den 90er haben!
4½/ 5 und tschüss!

Bewertung vom 31.08.2022
Penner, Elina

Nachtbeeren (eBook, ePUB)


gut

Streckenweise sehr gut

''Ich bin eine 35-jährige gläubige, fromme und bekehrte Mennoniten, und mein Mann ist weg. Vielleicht, um bei der Frau zu sein, die er liebt. Ich frage mich, ob einer meiner Brüder ihn töten würde, wenn ich nur den Mund aufkriegen und fragen würde.’’ (Tolino S. 32)

Nachtbeeren
Elina Penner

Die 35-jährige Nelli, ist fromm. Ein Nesthäkchen und Nachzügler, mit vier älteren Brüdern. Sie selbst wurde direkt nach ihrer Metzgerlehre, mit zwanzig Jahren, schwanger und heiratete den Kindesvater. Seitdem sie im Alter von vier Jahren nach Deutschland kam, wohnt sie in Minden und dort spricht sie mit ihrer Familie ‚Plautdietsch‘. Doch vor allem ist sie Tochter von 'Russlanddeutschen‘.

''Ich wusste, wenn ich Leuten erzählte, wo ich herkam und wer ich war, dann würden Hiesige an die russischen Schminktanten denken.
Wir waren einfach Russen, die ins Land gekommen waren, Tausende von ihnen. Wir alle tranken Wodka, konnten kein Deutsch, hatten aber deutsche Nachnamen. So stellen sich die Hiesigen das vor. So machte es Sinn. Ich erklärte immer und immer wieder, alles, auch meinen Nachnamen, meine Sprache, doch niemand hörte richtig zu. Sie lächelten verständnisvoll und nickten nur.’’ (Tolino S. 73)

Jeden Sonntag trifft sich die Familie bei 'Öma' oder bei den Brüdern, es wird gegessen und viel getrunken. Meistens sind es die selben Themen, über die sie sprechen: Über die Flucht, den Glauben und die Kartoffeln. Einst waren sie froh, nach der Flucht aus Russland, in einer Notunterkunft zu wohnen. In der Notunterkunft waren sie noch mit einer Herdplatte zufrieden gewesen. Hauptsache weg aus Russland! Doch im Laufe der Jahre schimpfen sie immer mehr auf die Deutschen, die Kartoffeln.

Nelli, lehnte einst den Glauben ab, aber nach der Totgeburt ihres zweiten Kindes, und dem Tode ihrer geliebten ‚Öma‘ wurde sie depressiv, starrte tagelang ins Leere und fand Trost im Gebet.
Als ihr Mann Kornelius ihr beichtet, dass er eine andere liebt, ist sie so verwirrt, dass sie sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern kann, ob sie ihren Mann vielleicht umgebracht hat - zumindest ist er weg.

Der Debütroman von Elina Penner sprach mich mit seinem besonderen Cover sofort an. Die Schreibweise und die kurzen Sätze sind unaufgeregt, passen aber hervorragend zur Geschichte.
Besonders gut gefiel mir der Einblick in die Denkweise, ja in die Zerrissenheit der Aussiedler, nach der Flucht. Dies wird sehr gut und glaubwürdig dargestellt. Auch die liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung gefiel mir hervorragend.
Worüber ich mich jedoch sehr gestört habe, sind die Vorurteile/Verallgemeinerungen über die Deutschen, sowie dass die Deutschen insgesamt 14 Mal als ‚Kartoffeln' bezeichnet wurden.

Fazit: Ein interessantes Debüt, mit zartem schwarzem Humor, aber auch nicht mehr.
3/ 5

Bewertung vom 30.08.2022
Giordano, Mario

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen / Die Carbonaro-Saga Bd.1


sehr gut

'‘Mein Urgrossvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wundheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet. Ein kleiner Mann mit rastlosen Augen, Analphabet, aber mit einem exzellenten Gedächtnis für Zahlen und ausstehenden Gefälligkeiten. Ein Mann mit einer Glückshaut…’’ (S.9)

Terra Di Sicilia - Die Rückkehr des Patriarchen
Mario Giordano

München 1960: Der 80-Jährige Patriarch Barnaba kommt nach München. Das erste Mal war er vor über 60 Jahren hier und hat sich dort sein grosses Imperium aufgebaut. Er ist zurück, jedoch pleite, ohne einen einzigen Lira in der Tasche. Angeblich will er nur seine Familie besuchen und ein Familienfoto machen lassen, doch ist das wirklich alles? Er erzählt Maria, seiner Enkelin, seine Lebensgeschichte mit all seinen Träumen, Begierden und Wünschen, die er als 19-Jähriger hatte.

Sizilien 1890: Der junge, 144 cm große Barnaba, Sohn eines ehemaligen Priesters (dieser Priester konnte nie die Finger von den Frauen lassen und deshalb musste er die von ihm geschwängerte Tochter des Schneiders heiraten) träumt davon, einmal reich zu sein.
Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Für einen Hungerlohn arbeitet er täglich von früh bis spät auf den Obstplantagen der reichen Obstbauern. Hier wird er von den Vorarbeitern geschlagen und hat am Ende des Tages kaum genug zu essen. Des Lesens und Schreibens ist er nicht mächtig, dafür kann er, wie kaum ein anderer, mit Zahlen jonglieren, doch seine Verbesserungsvorschläge werden abgetan und belächelt.
Er versucht sich ein eigenes Geschäft aufzubauen, aber Immer wieder scheitert er mit seinen Bemühungen. Barnaba ist ein wütender und stolzer Mann. Die Einzige, die an ihn glaubt ist Pina, Tochter des reichen Plantagenbesitzers Dottore Passalacqua. Durch einen Vorfall kommt es dazu, dass er nach München fliehen muss. Hier gestaltet sich sein Leben besser, doch dann steht der erste Weltkrieg vor der Tür...

Mario Giordano hat hier, abwechselnd, in zwei Erzählsträngen, die Geschichte seines Urgrossvaters aufgeschrieben. Er hat es perfekt verstanden seine Erzählungen mit Fiktion und historischen Personen auszuschmücken.
Auch wenn der Ton mal derber wurde, gefiel mir sein Schreibstil sehr. Er ist lebendig und fast zum Anfassen nah, seine Orangen konnte ich förmlich schmecken. Die Beschreibungen von den Dörfern in Sizilien, den Plantagen und Menschen sind unübertroffen.
Dennoch blieb der Roman leicht hinter meinen Erwartungen zurück: Obwohl es einen Familienstammbaum auf der ersten Seite gibt, war der Beginn ein wenig holprig und zwischendurch gab es einige Längen. Der Hauptprotagonist Barnaba, war mir schlicht unsympathisch. Wo blieb der italienische Charme? Ein kleiner Angeber, der es immer nur aufs Geld abgesehen hat und sein Glück nicht genießen konnte. Zum Ende jedoch, zog die Geschichte noch einmal richtig an und machte vieles wett.

Fazit:
Zusammengefasst ein guter Familienroman, mit kleinen Längen und eine Leseempfehlung, nicht nur für Sizilienfans, von mir.
4/ 5