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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1226 Bewertungen
Bewertung vom 19.11.2022
Leevers, Jo

Café Leben


sehr gut

Projekt Lebensbuch

„Ich bin aus verschiedenen Gründen für die Stelle geeignet. Erstens neige ich nicht zu Gefühlsausbrüchen oder Sentimentalität. Zweitens besitze ich ausgezeichnete Qualifikationen im Büromanagement und bin somit gut gerüstet, um die Lebensgeschichten rechtzeitig zu verschriftlichen, bevor die Betroffenen sterben. Drittens mag ich es, eine Deadline zu haben.“ (S. 12) Mit diesen Worten bewirbt sich Henrietta in der Beratungsambulanz eines Krebszentrums. Ihre Aufgabe wird es sein, zusammen mit den Patienten in nur 6 Sitzungen á 1 Stunde deren Leben aufzuschreiben und daraus ein Buch für die Hinterbliebenen zu machen. Dafür gibt es einen Vordruck, aber schon Henriettas erste Patientin Annie macht ihr klar, dass ihre Erinnerungen nicht in das starre Gefüge des Formulars passen. „Wenn du auf dein Leben zurückschaust, dann hat es keine geordnete Form. Es sind eher Schnappschüsse, wie in einem Fotoalbum. Und manchmal fällt es schwer, sich an die Teile dazwischen zu erinnern, daran, was in dem Moment passiert ist, bevor das Foto aufgenommen wurde, oder gleich danach.“ (S. 50) Dann rattert sie ihre Geschichte herunter und erwähnt kurz, dass ihre jüngere Schwester Kathy vor 46 Jahren mit gerade mal 18 verschwand und kurz darauf für tot erklärt wurde, weil es keine verwertbaren Spuren gab. Henrietta wird hellhörig und forscht nach, wobei es ihr zu Beginn gar nicht mal darum geht, die Lücke zu füllen, die Kathys Verschwinden in Annies Leben gerissen hat, sondern darum, das Lebensbuch abzurunden – sie mag einfach keine Leerstellen.

„Café Leben“ von Jo Leevers ist aufgrund der tragischen Schickale der drei Frauen ein sehr berührendes Buch voller unausgesprochener Vermutungen, Wahrheiten und dunkler Geheimnisse. Denn nicht nur Annie und Kathy, auch Henrietta hatte es bisher nicht leicht im Leben, dabei ist sie gerade mal Anfang 30. Sie lebt mit ihrem Hund sehr zurückgezogen und beschränkt die Kontakte zu anderen Menschen auf das absolut Notwendigste. Ich habe lange überlegt, ob sie evtl. eine Bindungsstörung hat, da sie sich nicht auf andere einlassen und Gefühle zeigen kann (ihr Gesicht ist eine unbewegte Maske). Aber im Laufe der Handlung wird klar, dass sie so erzogen wurde, ihre Eltern ihr das genauso vorleben und sie für einen Vorfall in ihrer Kindheit verantwortlich machen bzw. sogar bestrafen …
Annie scheint das ganze Gegenteil zu sein, will auffallen und Spuren hinterlassen, selbst wenn es nur ihre Fingerabdrücke auf einer frisch geputzten Glastür sind. Seit dem Tod ihres Mannes trägt sie Vintage-Kleider: „Ein bisschen exzentrisch, aber daran gibt es nichts auszusetzen, denn es gleicht die vielen Jahre der Unsichtbarkeit aus.“ (S. 228 / 229) und so lange es ihr noch gut ging, hat sie regelmäßig neue Restaurants und Cafés ausprobiert. Doch insgeheim drehen sich alle ihre Gedanken um ihr Leben mit und ohne Kathy, hinter der sie immer zurückstehen musste und die sie trotzdem so sehr vermisst. „Die Erstgeborene, aber immer an zweiter Stelle. Liebe und Groll waren die Zwillingsfäden, aus denen das Band zwischen den Schwestern bestand.“ (S. 163)

Sehr gefühlvoll beschreibt Jo Leevers die Beziehung zwischen den Schwestern und was damals passiert ist, wie sich Henrietta und Annie langsam aneinander annähern und öffnen, sich ihre größten Geheimnisse, Ängste und schlimmsten Erinnerungen erzählen. Man braucht beim Lesen starke Nerven, muss die Dramen, die die drei erleben bzw. erlebt haben, und die explizit beschriebenen Sterbeszenen der Krebskranken aushalten können. Aber sie macht auch Mut indem sie zeigt, wie es für die Zurückgebliebenen weitergeht. „Ich finde, es ist an der Zeit, dass Sie sich ins Leben stürzen.“ (S. 216)

Bewertung vom 18.11.2022
Noll, Ingrid

Tea Time (MP3-Download)


ausgezeichnet

Totgesagte leben länger

Nina und Franziska wohnen im gleichen Fachwerkhaus am Weinheimer Markt, sind um die 30 und Single – und haben so ihre Macken. Nina kann z.B. nur einschlafen, wenn sie sich in ihre Bettdecke einwickelt wie in einen Kokon, außerdem fotografiert sie mickrige Pflänzchen am Wegesrand. Franziska hat Platzangst und kämmt sämtliche, auch fremde, Fransen an Teppichen, Schals und Tüchern. Auch ihre Freundinnen haben komische Eigenheiten. Corinna beobachtet fremde Menschen durch die Fenster, um an deren Leben teilzunehmen, und wenn die nicht da sind, geht sie auch schon mal in die Häuser, nur um zu gucken. Und Jelena ist überzeugt, dass sie aus Wolkenformationen die Zukunft voraussagen kann. Aus einer Sektlaune heraus gründen sie mit 2 weiteren Frauen den Club der Spinnerrinnen. Bei einem gemeinsamen Ausflug verliert Nina ihre Handtasche und bekommt später einen Anruf von einem Unbekannten, dass sie diese bei ihm in Wiesbaden abholen soll. Leider macht Andreas Hase keinen guten Eindruck. Seine Wohnung ist verdreckt und er sieht aus wie ein asozialer Säufer. Als er dann nicht den üblichen Finderlohn erwartet, sondern ihr auf die Pelle rückt, muss Franzi helfen ...

Ich liebe die Bücher von Ingrid Noll, weil in ihnen immer mindesten einer stirbt, der es echt verdient hat – meist nicht mal geplant, sondern durch ein Versehen oder einen Unfall. Andreas Hase hätte es z.B. verdient, er ist sehr aufdringlich und nervig, taucht wie ein Stehaufmännchen ständig bei Nina auf und stellt Forderungen, dabei freundet sie sich doch gerade mit ihrem Nachbarn Yves an, der in seiner Skurrilität gut zu ihr passen würde und sehr hilfsbereit ist …

Nina und ihre Freundinne haben herrlich schräge Marotten und sind trotzdem irgendwie normal. Allerdings sollte man es sich nicht mit ihnen verscherzen, denn insgeheim träumen sie davon, störende Elemente aus ihrem Leben zu entfernen (wie die renitente Schwiegermutter oder den inzwischen überflüssigen Ehemann) und haben zum Teil auch schon recht konkrete Pläne. Aber zum Glück ist es dann doch ein Unterschied, davon nur zu träumen oder wirklich etwas zu unternehmen. Trotzdem fiebert man beim Hören die ganze Zeit mit, ob und wenn ja welcher ungeliebte Mensch wie über die Klinge springt und ob die Damen dann damit davonkommen. Ich habe mich auf jeden Fall wieder bestens amüsiert und mit den Mädels und ihren „Opfern“ mitgezittert.

Dank der Sprecherin Anna König, welche die unterschiedlichen Charaktere sehr gut in Szene gesetzt hat, war es wieder ein großartiges Hörvergnügen.

Bewertung vom 16.11.2022
Archan, Isabella

Sterz und der Mistgabelmord


ausgezeichnet

Ein Wiedersehen des Grauens

„Umgebracht is er worden … Erstochen. Aufgespießt wie ein Hendl am Grill.“ (S. 18) Mit diesen Worten wird der Kölner Inspektor Ferdinand Sterz von seiner Jugendliebe Lena aus dem Schlaf gerissen. Es ist noch halb in der Nacht, als sie ihn anruft und bittet, nach Hause nach Graz zu kommen, um den Mord an ihrem Bruder aufzuklären, seinem ehemals besten Freund. Ohne das mit seiner oder der Grazer Dienststelle abzuklären, macht er sich auf den Weg. Er konnte Lena noch nie etwas abschlagen, auch wenn er eigentlich nie zurückkehren wollte ... „Er verließ den Zug mit Erinnerungen im Gepäck, die schwerer wogen als sein Rollkoffer.“ (S. 22)
Über Vitamin B und die Kontakte seines Vaters wird er in die Ermittlungsgruppe aufgenommen und der aus Wien stammenden Inspektorin Gitte Busch zugeteilt. Das ganze Team ermittelt auf Hochtouren und hat auch bald mehrere Verdächtige im Visier, aber die haben alle entweder ein stichfestes Alibi (schlechter Wortwitz, ich weiß 😉) oder sind untergetaucht. Dann passiert ein zweiter Mord und auch auf Ferdinand wird ein Anschlag verübt – ist er dem Täter etwa zu nah gekommen, ohne es zu merken?

„Sterz und der Mistgabelmord“ ist der Auftakt der neuen Steiermark-Krimi-Reihe von Isabella Archan und überzeugt neben dem verzwickten Kriminalfall mit viel Lokalkolorit.

Ferdinand hat keinen leichten Stand in Graz. Gitte und er kommen zwar gut miteinander aus, aber sein neuer Chef mag ihn nicht, hat ihm den schnellen Aufstieg zu Europol nie verziehen. Überhaupt scheint Ferdi eher der Typ einsamer Wolf zu sein, nicht wirklich zur Teamarbeit fähig, besorgt er sich immer wieder hintenrum Informationen und gibt die gar nicht oder erst später an seine Kollegen weiter. Zudem ist er seit seiner Kindheit schwer traumatisiert und hat den Unfalltod seiner Mutter nie richtig verarbeitet, da sein Vater nicht darüber reden wollte oder konnte. Jetzt muss er sich zusätzlich zur Aufklärung der Morde also auch mit ihm und ihrer beider Vergangenheit auseinandersetzen.

Außerdem ist er erschrocken, wie sich die Orte seiner Kindheit, vor allem der Hof des Freundes, verändert haben. Der hatte doch immer so große Pläne und jetzt ist alles total verwahrlost. Auch Lena scheint nicht glücklich zu sein in ihrer Ehe, aber mit ihm wollte sie damals ja nicht weggehen. Jetzt bereut er, dass er den Kontakt zu den beiden hat einschlafen lassen.

Mein persönliches Highlight ist Hannerl Hawlik, die Patentante von Ferdinands Mutter, die sich nach deren Tod um ihn gekümmert hat. Sie ist eine sehr schillernde Persönlichkeit, die auch mit 74 noch als Souffleuse arbeitet, das Herz auf dem rechten Fleck hat und nie ein Blatt vor den Mund nimmt.

Ich bin sehr gespannt auf Sterz‘ nächsten Fall und ob er einer seiner beiden Favoritinnen landen kann – denn noch ist er zwar Single, aber es scheint nicht so, als ob er das auch bleiben will …

Bewertung vom 13.11.2022
Barns, Anne

Ein Apfelbaum am Meer


ausgezeichnet

Zauberland

„Du bist wie sie. Der rote Schimmer im Haar, der melancholische Blick, die Nase.“ (S. 16) Julie wird oft gesagt, wie ähnlich sie ihrer vor einem Jahr verstorbenen italienischen Großmutter Giulietta sieht. Die beiden waren sich sehr nahe, aber trotzdem scheint es ein Geheimnis zu geben, das Giulietta ihr nicht erzählt hat, oder warum sonst lädt deren beste Freundin Enna sie jetzt mit so eindringlichen Worten zu ihrem 80. Geburtstag nach Juist ein?! Sie haben sie früher jeden Sommer auf der Nordseeinsel besucht, bis … ja, warum sind sie eigentlich irgendwann nicht mehr hingefahren??? Und was meint ihr Vater mit: „Diese Insel hat Unglück über unsere Familie gebracht. Es gefällt mir gar nicht, dass du dort längere Zeit bleiben willst.“ (S. 68)?

Julie ist gerade in einer Neuorientierungsphase, ihr Freund hat sie vor kurzem verlassen und die Praxis, in der sie als Physiotherapeutin gearbeitet hat, wurde geschlossen. Auch der Job in der kleinen Pasticceria (sie hat schon immer gern gebacken) war leider nur vertretungsweise. Um so mehr freut sie sich, dass sie das Wiedersehen mit Enna mit einem Aushilfsjob bei deren Enkelin Merle verbinden kann, die gerade händeringend eine Aushilfe für die Backstube von ihrem Café Strandrose sucht. Julie wird also gleich mehrere Wochen auf Juist verbringen ...

Anne Barns Geschichten sind wie nach Hause kommen. Ich liebe ihre Beschreibungen der verschiedenen Nord- und Ostseeinseln und dass man immer wieder auf alte Bekannte trifft, die Bücher aber unabhängig voneinander lesen kann. Zudem gibt es das eine oder andere Familiengeheimnis zu lüften und natürlich kommt auch das Prickeln einer jungen Liebe nicht zu kurz. Wobei die Liebe hier gar nicht so jung ist, Ole hat nämlich schon früher für Julie geschwärmt: „Ich warte schon über zwanzig Jahre auf dich. … Du bist wieder da, und ich habe mein Herz an dich verloren.“ (S. 185) Aber eigentlich wollte Julie erst mal ihre Freiheit genießen.

„Ein Apfelbaum am Meer“ ist ein Buch zum Wohlfühlen, perfekt für ein gemütliches Couchwochenende und um vom nächsten Urlaub am Meer zu träumen. Aber Achtung: auch hier ist wieder Eure Figur in Gefahr, denn nicht nur im Roman wird gebacken und geschlemmt, die leckeren Rezepte stehen auch hinten drin und laden zum Nachmachen ein. Ich habe schon einige probiert und möchte sie Euch genau wie Julies Geschichte wärmstens ans Herz legen.

10 von 15 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.11.2022
Oetker, Alexander

Chez Luc


ausgezeichnet

Kulinarische Reise durchs Aquitaine

„Kannst du herkommen? Schnell, wenn es geht?“ (S. 25) fragt sein Vater ängstlich am Telefon. In seine Cabane wurde eingebrochen und sein Rezeptbuch gestohlen. „Für jeden anderen ist es doch vollkommen wertlos. Aber für mich ist es …“ (S. 27) Natürlich fährt Commissaire Luc Verlain sofort nach Hause. Er weiß zwar nicht, ob er das Buch wiederbeschaffen kann, aber er hat eine andere Idee. Zusammen mit seinem Vater unternimmt er in seinem alten Jaguar XJ6 eine Reise durchs Aquitaine und bittet die besten Köche der Region um ihre Lieblingsrezepte. Sie besuchen die höchste Düne und den längsten Strand Europas, von enthusiastischen Einwohnern wieder zum Leben erweckte Dörfchen, kleine Bistros und Sternerestaurants, immer auf den Spuren der bisher gelösten Fälle des Commissaires, ergänzt durch Zitate aus den Büchern der Reihe. Als besonderes Gimmick findet man neben der Seitenzahl übrigens die Kilometerzahl der bereits zurückgelegten Reise.

„Chez Luc“ ist für mich das Coffee-Table-Book des Jahres, die perfekte Ergänzung zu Alexander Oetkers Krimireihe. Wer bisher noch nicht ins Aquitaine verliebt war – nach diesem Buch ist er es, denn es bietet großartige Landschaftsaufnahmen und leckere Rezepte, ergänzt durch die Geschichte und Geschichten der verschiedenen Gegenden und ihrer Bewohner. Seiner poetischen Sprache merkt man an, wie sehr er dieses Gebiet liebt: „Die Platanen verneigen sich voreinander und schaffen so ein Panorama, das zur stillen Einkehr einlädt.“ (S. 206)

Die Menschen, die er portraitiert, bleiben im Gedächtnis. Es sind viele Aussteiger dabei, die eine neue Berufung gefunden oder sich auf ihre Wurzeln besonnen haben: Eine Fischerin, die nur aus wirtschaftlicher Not damit angefangen hat und jetzt sehr erfolgreich ist; ein ehemaliger Fußballstar, der ein Hotel mit Restaurant betreibt; einen Koch, bei dem es keine Karte gibt, sondern dass, wofür er am Morgen die Zutaten frisch bekommen hat; den berühmtesten Austernfischer, der auch Schauspieler ist und Bücher schreibt und dabei extrem bodenständig geblieben ist; oder eine junge Hirtin, die den meisten Teil des Jahres mit ihren Schafen und Ziegen allein in den Bergen lebt und ihre Kinder nur am Wochenende sieht, wenn der Vater sie zu ihr bringt. Die Region wird durch ihre Bewohner noch lebendiger und erlebbarer für den Leser.

Die Regionalität spielt auch bei den Zutaten eine existentielle Rolle, darum lassen sich einige Rezepte nur schwer nachkochen – vom Schwierigkeitsgrad und dem der Perfektion mal ganz abgesehen. Es gibt die Kostbarkeiten des Meeres in allen Varianten, bestes Fleisch, saisonales und Obst und Gemüse – und natürlich immer den passenden regionalen Wein.
Zum Aquitaine und dem angrenzenden Baskenland gehören natürlich auch der Stierkampf, Schweineschinken und Gänsestopfleber – allerdings ganz ohne Tierquälerei, nachhaltig, ökologisch und biologisch korrekt, wie die Produzenten zeigen.
Und wenn Alexander Oetker den Geschmack von Steak-Frites à l‘Entrecôte mit einer unglaublich leckeren Sauce beschreibt, läuft sogar mir (die ich kein rotes Fleisch esse) das Wasser im Mund zusammen.

Bewertung vom 07.11.2022
Naumann, Kati

Die Sehnsucht nach Licht


ausgezeichnet

Neuer Tag bringt neue Hoffnung

… ist einer der Leitsprüche der Familie Steiner, die seit Generationen in Schlema im Erzgebirge im Bergbau arbeitet. Sie haben viele Schicksalsschläge einstecken müssen, aber irgendwie ist es immer weitergegangen. Auch Luisa, die jüngste Generation und Vermessungstechnikerin bei der Wismut, arbeitet ehrenamtlich im Besucherbergwerk unter Tage.

„Ein Bergmann weint nicht“ hat ihr Urgroßvater Wilhelm von Kind an gelernt, und er hat auch fast nie geweint. Doch das Verschwinden seines Sohns Rudolf geht ihm und auch 2019 noch nahe. Rudolf ist 1951 während seiner Schicht spurlos verschwunden, und obwohl sie jahrelang alles versucht haben, konnten sie sein Schicksal nie aufklären, 1990 wurde er für tot erklärt. Aber sie sind überzeugt, dass noch irgendwo Aufzeichnungen darüber existieren, schließlich war das damals alles Sperrbezirk und wirklich alles wurde protokolliert. Darum soll sich Luisa jetzt noch einmal auf die Suche machen. „Aber du gibst nicht auf, nicht wahr? Du findest endlich heraus, was passiert ist.“ (S. 147)

Anhand von Familie Steiner erzählt Katie Naumann, wie sich Schlema und der Bergbau seit Beginn des 20. Jahrhunderts verändert haben. Zuerst wurde Kobalt abgebaut, dann wurde radiumhaltiges Wasser entdeckt und das Kurbad gegründet, bis erst die Nationalsozialisten und dann „die Russen“ das Uran für sich requirierten. Das alles wurde auf dem Rücken der Arbeiter und ihrer Familien ausgetragen. Sie förderten das Uran oft ohne besondere Hilfsmittel und Schutzmaßnahmen, selbst die Kinder sortierten schon strahlende Schlackebrocken. Es kam immer wieder zu teils dramatischen Unfällen – ein Menschenleben schien nicht viel wert zu sein. Besonders erschreckend fand ich auch die Beschreibung, wie an Frauen und Kindern für eine Portion Milch während des 2. WKs kostenlose „Heilbehandlungen“ mit Radon ausprobiert wurden …

Die Bergleute sind raue Menschen, von ihrer Arbeit unter Tage und der Umgebung geformt. Zu DDR-Zeiten haben auch Frauen wegen des überdurchschnittlichen Lohns jahrzehntelang im Berg geschuftet, die Kinder wurden vom Staat versorgt und erzogen. Aber die Familie hält immer zusammen und man sagt sich jeden Morgen „Auf Wiedersehen“, damit abends alle gesund und munter heimkehren. „Ich habe gehört, dass manchmal Leute im Berg verschwinden, ist da was dran?“ „Auch aus meiner Familie sind schon Männer im Berg geblieben.“ (S. 12)

Mir gefällt, wie regionale Bräuche, politische Ereignisse und die verschiedenen Staatsformen in die Handlung einfließen. Außerdem wird sehr anschaulich beschrieben, wie sich das Aussehen des Ortes im Laufe der Zeit immer wieder verändert und was es für die Bewohner bedeutet, wenn Häuser und Straßen plötzlich mehrere Meter absacken, weil der Boden vom jahrhundertelangen Abbau zerlöchert ist wie ein Schweizer Käse.

„Die Sehnsucht nach Licht“ von Kati Naumann ist eine extrem dramatische und erschütternde Familiengeschichte, die mich sicher so schnell nicht loslässt. Ich war selber schon oft im Kurbad Schlema und habe auch Radonbäder bekommen, aber die Geschichte des Ortes war mir nicht bekannt und ich glaube nicht, dass ich das Bad je wieder sorglos nutzen kann.

Bewertung vom 03.11.2022
Ahern, Cecelia

Alle Farben meines Lebens


gut

Wenn Farben zu laut werden

„Anfangs sehe ich die Farben nur bei den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, und jeden Morgen frage ich mich, welche Farbtöne mich dieses Mal begrüßen werden.“ (S. 20) Alice sieht schon als Kind die Gefühle, Gedanken und körperlichen Zustände anderen Menschen als Farben, und vor allem die ihrer Mutter machen ihr Angst. Lily ist keine gute Mutter, kümmert sich nicht um ihre Kinder, sondern geht feiern, raucht, trinkt und nimmt Drogen, hat extreme Stimmungsschwankungen. Alice und ihr älterer Bruder Hugh scheinen ihr völlig egal zu sein, wenn sie nicht gerade ihre Wut und Gehässigkeit an ihnen auslassen will. Sie steckt ihre kaum vorhandene Energie in den Jüngsten, Ollie, formt ihn nach ihrem Bild und entzweit die Geschwister damit. „Zunehmend wird ihr Hass zu seinem Hass, ihre Ängste werden zu seinen Ängsten, ihr Zorn wird sein Zorn. Ihre Traurigkeit, seine Traurigkeit. Es überträgt sich immer auf ihn, und er saugt es begierig auf, unverzerrt noch das letzte Stückchen.“ (S. 32) Doch gerade die Mutter, die ihren Kindern nichts geben konnte, fordert alles von ihnen, als sie erwachsen sind.

Hugh ist der Einzige, der sich für Alice‘ interessiert, sie versteht, immer für sie da ist und versucht, ihr zu helfen. Seine Freundin entdeckt später, was Alice „fehlt“ – sie ist Synästhetikerin, lernt aber nie richtig, damit umzugehen. Sie kommt mit den vielen Eindrücken nicht klar, verkriecht sich in ihrem Innersten uns schottet sich nach außen mit Sonnenbrille, Maske und Handschuhen regelrecht gegen ihre Umwelt ab. „Die Farben der Menschen zu sehen ist manchmal, als sähe man sie nackt.“ (S. 34) Einzig die Natur erdet sie, gibt ihr Ruhe und neue Kraft. Die bloßen Füße auf feuchtem Gras oder mit den Händen in der Erde wühlen, das ist ihre Welt. Aber dann fällt ihr ein Mann auf, der keine einzige Farbe ausströmt – das hat sie noch nie erlebt und macht sie neugierig ...

Ich bin eigentlich ein großer Fan von Cecelia Ahern, aber „Alle Farben meines Lebens“ lässt mich sehr zwiegespalten zurück. Einerseits ist Alice‘ Geschichte extrem traurig und auch irgendwie berührend, ich mag die poetische Sprache, mit der die Autorin über Alice‘ Farbempfinden schreibt, andererseits bleibt sie mir durch ihre abweisende Art fremd, obwohl man stets ihre Gedanken und Gefühle erfährt. Auch die Sprünge immer wieder in der Zeit zurück bzw. zum Ende hin dann um Jahre / Jahrzehnte nach vorn waren nicht meins und das Ende, die letzten beiden 1,5 Kapitel, hätte ich nicht gebraucht. Darum leider nur 3 von 5 Sternen

Bewertung vom 31.10.2022
Herzog, Katharina

Das kleine Bücherdorf: Winterglitzern / Das schottische Bücherdorf Bd.1


ausgezeichnet

Schottlands Stadt der Bücher

Vicky arbeitet als Kunsthändlerin im Unternehmen ihres Vaters in München und hofft, im neuen Jahr endlich die Niederlassung in Berlin übernehmen zu können. Sie braucht nur noch den einen großen Wurf, um ihren Konkurrenten auszustechen. Als ihr ein Brief in die Hände fällt, den der kleine Finlay aus Swinton-on-Sea seiner verstorbenen Mutter in den Himmel schicken wollte, ist sie gerührt. Ihren Vater aber interessiert nur das beiliegende Foto, auf dem Finley mit seinem Vater Graham und seinem Lieblingsbuch zu sehen ist – einer extrem seltenen, illustrierten Erstausgabe von Alice im Wunderland. Vicky wird losgeschickt, um es Graham abzukaufen, denn sie gehen davon aus, dass dieser nicht weiß, was es wert ist. Sie glaubt, dass das eine Geschäftsreise wie jede andere wird, doch sie hat nicht mit dem Zauber der schottischen Kleinstadt und seiner Bewohner gerechnet …

„Das kleine Bücherdorf: Winterglitzern“ ist der erste Band einer neuen Reihe von Katharina Herzog und entführt die Leser in die Vorweihnachtszeit einer malerischen Kleinstadt an der Küste, in der man sich noch gegenseitig kennt und Nachbarschaft großgeschrieben wird.
Vicky ist davon (und von Finleys Geschichte) so berührt, dass sie nicht weiß, wie sie Graham nach dem Buch fragen soll. Also lässt sie sich als Aushilfe in seinem Buchladen „The Reading Fox“ einstellen und lernt ihn und die anderen Bewohner der Kleinstadt mit ihren Schicksalen, Nöten und Sorgen näher kennen. Sie wird von ihnen herzlich aufgenommen und sofort voll integriert. Und je länger sie bleibt, um so weniger interessiert sie sich für das Buch. Stattdessen entdeckt die taffe Geschäftsfrau ihr Herz für Vater und Sohn und genießt ihr Leben endlich wieder. „Seit ich in Schottland bin, kommt es mir so vor, als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt.“ (S. 249) Sie strebt nicht mehr nur nach der Bestätigung durch ihren übermächtigen Vater und dem nächsten Erfolg. Doch irgendwie muss sie Graham erklären, weswegen sie ursprünglich nach Swinton gekommen ist …

Grahams Freunde sind der Meinung, dass er in seinem Herzen endlich Platz für eine neue Liebe machen soll, aber das fällt ihm schwer. „Es ist nicht so leicht, unter den Milliarden Frauen auf dieser Welt genau diejenige zu finden, die dein Herz berührt.“ (S. 23) Erst Vicky geht ihm wieder unter die Haut und auch Finlay mag sie sehr. Aber haben sie auch eine gemeinsame Zukunft?

„Winterglitzern“ ist ein entzückender Vorweihnachtsroman, der Lust auf eine Reise in Schottlands Bücherdorf macht. Es ist die perfekte Lektüre für einen gemütlichen Nachmittag auf der Couch, mit einer großen Kanne englischem Tee und ausreichend Shortbread. Außerdem möchte man nach dem Lesen unbedingt wissen, wie es Band 2 weitergeht und wer hinter dem / der geheimnisvollen E. Smith steckt.

Bewertung vom 29.10.2022
Barreau, Nicolas

Tausend Lichter über der Seine


ausgezeichnet

Zwei Briefe

„Ich bekam zwei Briefe. Der eine enthielt eine schlechte Nachricht, der andere eine traurige. Und doch bescherten mir diese beiden Briefe auf den seltsam verschlungenen Wegen, die das Leben manchmal nimmt, am Ende und völlig unerwartet das schönste Weihnachtsfest meines Lebens.“ (S. 8)
Im ersten Brief erfährt die Übersetzerin Joséphine Beauregard, dass der kleine Pariser Verlag, für den sie arbeitet, leider schließen muss. Im zweiten Brief steht, dass ihr Onkel Albert ist gestorben ist und ihr sein Hausboot vererbt hat. Mit dem Hausboot verbindet sie wunderbare Erinnerungen an einen verzauberten Sommer ihrer Kindheit, eine Flusskreuzfahrt mit Albert. Gern würde sie es behalten, doch in der jetzigen Situation kann sie das viele Geld, dass es wert ist, gut brauchen. Sie will noch einmal auf dem Boot übernachten und ist sehr überrascht, als plötzlich ein fremder Mann und sein kleiner Hund zu ihr ins Bett kriechen …

Joséphine ist genauso eine Außenseiterin wie die Helden in den Romanen, die sie aus dem Finnischen übersetzt. Während ihr Vater und ihre Schwestern beruflich erfolgreich sind, macht sie ihren Job, weil er ihr Spaß macht. Auch einen festen Freund kann sie zum Leidwesen ihrer Familie nicht vorweisen. Bei den Treffen mit ihnen kommt sie sich immer wie die absolute Versagerin vor. Und jetzt scheint auch noch der Verkauf des Hausbootes zu platzen, weil der Fremde behauptet, Albert habe ihm es ihm für 10 Jahre vermietet und er denke nicht daran, es eher zu räumen.

Für Joséphine ändert sich gerade alles. Job weg, Lieblingsonkel tot und dann kann sie ihr Erbe nicht mal zu Geld machen. Außerdem ist da ihr heimlicher Freund, der sie seit Jahren hin- und ihre Beziehung geheim hält. Ob er dieses Jahr endlich Weihnachten mit ihr verbringt? Und nun muss sie sich auch noch mit diesem … Stoffel … auf dem Hausboot rumärgern!

Nicolas Barreau hat einen sehr warnherzigen Roman über die Vorweihnachtszeit in Paris geschrieben, über eine bezaubernde und eigenwillige Frau, die auf die große Liebe hofft und sich in der Zwischenzeit sehr unterhaltsame Streitgespräche mit dem Hausbootbesetzer liefert. Zum Glück hat sie Cedric, ihren allerbesten Freund, der fast immer ein Ohr und Zeit für sie hat. Joséphine und Cedric sind Protagonisten, die man im richtigen Leben gern als Freunde hätte, um mit ihnen zusammen in der Vorweihnachtszeit Paris unsicher zu machen.

„Tausend Lichter über der Seine“ ist eine ganz zauberhafte, romantische und sehr berührende weihnachtliche (Liebes-)Geschichte. Ein Buch wie eine bittersüße Umarmung, eine kuschelige Decke, eine heiße Schokolade und eine Tüte heiße Maronen.

Bewertung vom 26.10.2022
Marschall, Anja

Der Henker von Hamburg


ausgezeichnet

Schuldig

Hauptkommissar Hauke Sötje ist ganz froh, als er wegen eines Toten die Oper „Tristan und Isolde“ nicht hören muss, zu der ihn seine Frau Sophie hatte. Dadurch verpasst er allerdings auch den spontanen Auftritt der grandiosen, atemberaubend schönen und jungen italienischen Nachtigall Carlotta Francini. Während sich Hauke also dem Erhängten widmet, dem man einen Zettel mit der Aufschrift „Schuldig“ in die Taschen gesteckt hat, wird Sophie Zeuge, wie sich Carlotta nach dem Konzert in ihrer Garderobe mit einem Mann streitet. Bald tauchen weitere Erhängte auf – und alle hatten in der Vergangenheit scheinbar mit Carlotta zu tun ...

„Der Henker von Hamburg“ ist bereits der 5. Band der Reihe mit Hauke Sötje und Sophie und Anja Marschall hat es geschafft, mich wieder sofort in deren Kosmos zu ziehen. Die beiden sind inzwischen verheiratet und haben eine kleine Tochter, und während Hauke langsam aber stetig Karriere macht, fühlt sich Sophie unterfordert und vermisst die früheren Abenteuer. Darum kann sie auch Carlottas Angebot, ihre Begleitung und Freundin zu werden, nicht abschlagen, obwohl die mehr als nur ein Geheimnis zu haben scheint.

Der Fall um die erhängten Toten gestaltet sich für Hauke und seine Mitarbeiter sehr kniffelig, da es sich bei ihnen ausnahmslos um angesehene Mitglieder der Gesellschaft handelt und ihnen ihr Vorgesetzter, Polizeirat Roscher, im Nacken hängt. Sie finden einfach kein Motiv und der Täter hat kaum Spuren hinterlassen.

Sophie steckt in einer Zwickmühle. Sie mag Carlotta seht, weiß aber nicht, ob sie ihr wirklich trauen kann. Carlotta ändert immer wieder kurzfristig ihre Pläne und hängt ihren männlichen Begleitschutz ab. Außerdem spielt sie die verschiedenen Bewerber um ihre Gunst geschickt gegeneinander aus und wickelt ihr Gegenüber gekonnt um den Finger. Sie hat es faustdick hinter den Ohren, ist eine sehr unabhängige junge Frau und wiegelt Sophie auf, es ihr gleich zu tun. Wobei es Sophie schon reichen würde, wenn Hauke sie wieder in seine Arbeit einbezieht – zumal Polizeirat Roscher nichts dagegen hat.

Anja Marschall hat diesen Fall wieder extrem spannend und packend gestaltet, denn obwohl ich mit einem Teil der Lösung richtig lag, war es am Ende ein Täter, den ich überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. Was für ein Plot-Twist, einsame Spitze.
Ich mag auch, wie der Alltag der Ermittler in die Handlung einfließt und dass man erfährt, wie kleinteilig die Polizeiarbeit war, wie die Ermittlungen damals abliefen und was für Hilfsmittel und Methoden angewandt wurden. Ein besonderes Highlight waren die Verweise auf die Kindermörderin Elisabeth Wiese (Haukes letzten Fall) und den versoffenen Henker, den es wirklich gab.

5 Sterne für diesen phantastischen historischen Krimi und vielleicht darf Sophie im nächsten Teil dann endlich ganz offiziell mit ermitteln.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.