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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 760 Bewertungen
Bewertung vom 16.12.2017
Kehlmann, Daniel

Beerholms Vorstellung


sehr gut

Die Vermessung der Psyche

Der Titel „Beerholms Vorstellung“ bringt prägnant zum Ausdruck, wovon Daniel Kehlmanns Erstlingswerk handelt. Es ist mehr als die Biografie von Protagonist Arthur Beerholm, es ist eine Introspektion, eine Beschreibung seiner Gedankenwelt, seiner Entwicklungsphasen, seiner Erfolge und seines Scheiterns.

Arthur wird von Familie Beerholm adoptiert. Ich-Erzähler Arthur beschreibt seine Kindheit, seine Jugend und seine Vorliebe für die Zauberei. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass der Protagonist direkt jemanden anspricht. (12) Arthurs Stiefmutter stirbt kurz nach seiner Erstkommunion; er wird in einem Internat untergebracht, als sein Stiefvater seine Haushälterin heiratet.

Sein Weg ist nicht geradlinig. Die Zauberei, genau genommen die Magie, wird zu seiner Profession, nachdem er seine Ausbildung zum Priester abgebrochen hat. Er hat Erfolg, auch aufgrund seiner Lehrzeit bei dem Magier van Rode. Im Zuge seiner persönlichen Entwicklung findet er seine Grenzen in der Auseinandersetzung mit der Unendlichkeit.

Kehlmann versteht es, mathematische, physikalische, philosophische und theologische Betrachtungen einfließen zu lassen. Bei Törleß [1] sind es die imaginären Zahlen, bei Beerholm ist es die Irrationalität, die symbolisch für die Unberechenbarkeit der Welt bzw. für die Begrenztheit der Vorstellungswelt steht. Hier findet selbst die Magie ihre Grenzen.

An dieser Situation verzweifelt Protagonist Arthur, dem schon, wie einst Faust, die Theologie nicht helfen kann. Paradoxerweise verzweifelt er am Zweifel selbst, wie Pater Fassbinder ihm zu erklären versucht. Dennoch zählt der Zweifel nicht zu den sieben Todsünden. (113) Auch verwechselt der Autor bei seinen physikalischen Betrachtungen Beschleunigung und Kraft. (244)

Daniel Kehlmann hat einen Roman mit Tiefgang abgeliefert, der für einen 22-jährigen Autor ungewöhnlich ist. Im gelingt das, ohne dass seine vielfältigen Gedankengänge lächerlich oder naiv wirken. Über kleine Unschärfen kann hinweg gesehen werden. Die Literaturwelt wird um einen experimentierfreudigen Autor bereichert.

[1] Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.12.2017
Lunde, Maja

Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1


sehr gut

Welt ohne Bienen

Die tote Biene auf dem Umschlag bringt prägnant zum Ausdruck, worum es in diesem Buch geht. Es ist nicht nur die Geschichte der Bienen, sondern insbesondere die Geschichte über das Sterben der Bienen. Wie sieht die Welt aus, wenn es keine Bienen mehr gibt? Damit verarbeitet Maja Lunde ein aktuelles Thema, denn Störungen in der Ökologie führen real zum Sterben der Bienen. Daneben greift Lunde durch den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen bedingte Störungen in familiären Beziehungen auf.

Die Autorin erzählt drei Geschichten aus unterschiedlichen Orten und Zeiten, die im Laufe der Entwicklung auf unspektakuläre Weise miteinander verknüpft werden. Die Kapitel sind nach den Ich-Erzählern benannt und wechseln einander ab. Diese Struktur trägt wesentlich zur Übersicht bei. Die erste Geschichte handelt vom Beginn der Bienenzucht im Jahre 1852, die zweite Geschichte von ersten Anzeichen der Krise im Jahr 2007 und die dritte Geschichte beschreibt die Folgen des Bienensterbens im Jahr 2098.

William Atticus Savage ist Biologe und angehender Imker im England des Jahres 1852. Er entwickelt zusammen mit seiner forschen Tochter Charlotte einen modernen Bienenstock, den er vermarkten möchte. Deutlich wird, dass intelligente Frauen es in einer patriarchalischen Welt nicht leicht haben, anerkannt zu werden. Sowohl die berufliche als auch die familiäre Situation ist von Rückschlägen geprägt.

Im Jahre 2007 gibt es in den USA bereits Bienenbestäuber, die mit ihren Bienenstöcken durch das Land reisen. George ist Imker, aber durch seinen Hof ortsgebunden. Seine finanzielle Situation ist angespannt und er versucht seinen Sohn Tom für die Hofarbeit zu gewinnen. Dieser interessiert sich mehr für Journalismus. Eines Tages verschwinden die Bienen und es beginnt eine hektische Suche nach den Ursachen.

Dramatisch geht es im China des Jahres 2098 zu. Die Ich-Erzählerin Tao, Mutter eines dreijährigen Sohnes, ist wie viele andere Frauen Bestäuberin, da es keine Bienen mehr gibt. Sohn Wei-Wen wird der Familie nach einem unerklärlichen Unfall entrissen und von den Machthabern an einen unbekannten Ort verlegt. Tao erweist sich bei der Suche nach ihrem Sohn als starke Frau, die sich nicht von ihrem Weg abbringen lässt.

Das Buch ist ein Lehrstück. Es holt die Leser dort ab, wo sie sich gerade befinden und zeigt ihnen eine Welt auf, auf die sie zusteuern. Von den drei Geschichten ist die in China die spannendste. Allein dieser Stoff hätte ausgereicht für ein eigenes Buch. Über die Bienenzucht und die Ursachen des Bienensterbens gibt es noch wesentlich mehr zu sagen. Dennoch ist die Botschaft angekommen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.12.2017
Weinberg, Steven

Die ersten drei Minuten


gut

Geburt eines Universums

"Jedes Teilchen muss also, lax ausgedrückt, ungefähr so groß gewesen sein wie das beobachtbare Universum!" Was der Physiker und Kosmologe Steven Weinberg hier zum Ausdruck bringt, ist der einen Bruchteil einer Sekunde folgende Augenblick nach einem Ereignis, welches für uns in jeder Hinsicht unerreichbar ist. Daher beschreibt Weinberg nicht den Urknall, sondern die ersten Minuten danach.

In diesem ersten Augenblick fallen Mikrokosmos und Makrokosmos zusammen. Es handelt sich um Modellvorstellungen auf Basis der etablierten Naturwissenschaften, die Grenzbereiche betreffen, wo es spekulativ wird. Natürlich gibt es keine Gewissheit über die Entstehung des Universums, auf der anderen Seite handelt es sich nicht um Mythen der Menschheitsgeschichte.

Weinberg widmet sich ausführlich des von Penzias und Wilson 1965 entdeckten richtungsunabhängigen Mikrowellenrauschens, welches später als durch den Urknall ausgelöste kosmische Hintergrundstrahlung interpretiert wurde. Er macht deutlich, dass diese Strahlung aufgrund theoretischer Überlegungen auch schon zu einem früheren Zeitpunkt hätte gefunden werden können.

Die historischen Betrachtungen sind lesenswert. Die detaillierten Ausführungen zur Entwicklung der verschiedenen Teilchen wirken trocken und langatmig. Für ein populärwissenschaftliches Buch ist dieser Teil zu fachspezifisch. Es spricht für Weinberg, dass er auch Kritiker ernst nimmt (z.B. Halton Arp) und die Grenzen theoretischer Beschreibungen aufzeigt. Das Buch ist informativ, aber in Teilen auch schwer verständlich.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.12.2017
Anna Marie Birken

Schlüsselkind


sehr gut

Eine Kindheit in der Nachkriegszeit

Bereits im ersten Kapitel wird deutlich, um welche Zeit es sich handelt. Bunker aus der Kriegszeit dienen den Kindern als Abenteuerspielplatz. In diesen stockdunklen Höhlen sind sie unter sich und können sich und anderen Mut beweisen.

Susanne, im weiteren Verlauf einfach S. genannt, ist ein Schlüsselkind, da sie stets den Haustürschlüssel bei sich trägt und tagsüber alleine ist. Sie wächst, wie viele Kinder der Kriegsgeneration, ohne Vater auf. Mutter muss arbeiten und eine Kinderbetreuung gibt es nicht.

Auf der Straße trifft man, im Gegensatz zur heutigen Zeit, noch Kinder an. Der Alltag ist nicht verplant. Dennoch müssen die Kinder im Haushalt helfen, in dem es noch keine elektrischen Maschinen gibt. Die Arbeit in der Waschküche ist Schwerstarbeit.

Anne Marie Birken erzählt aus der Perspektive des Schlüsselkindes Susanne. Es handelt sich nicht um fiktive Geschichten, sondern Erinnerungen der Autorin fließen ein. Das Buch besteht aus kleinen Erzählungen, die themenbezogen den Alltag beschreiben.

In dem Buch werden keine Sachverhalte aufgelistet, sondern der Zeitgeist der 1950er Jahre wird in kleinen unterhaltsamen Geschichten transparent. Die Leser können in diese Zeit wie in eine Romanwelt eintauchen.

Die Beschreibungen machen deutlich, wie schnelllebig unsere Zeit geworden ist. Neben gesellschaftlichen Veränderungen ist es insbesondere der Wandel in der Technik, der das Leben verändert. Die Autorin öffnet ein Fenster in eine Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt.

Bewertung vom 24.11.2017
Kundera, Milan

Die Unwissenheit


gut

1969, wenige Monate nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion, emigrieren Irene und ihr Ehemann Martin sowie der Tierarzt Josef nach Frankreich bzw. Dänemark. Zwanzig Jahre später reisen beide (Martin ist zwischenzeitlich verstorben) – unabhängig voneinander – zurück in die Tschechoslowakei. Irene und Josef, die sich in ihrer Jugendzeit kennen gelernt haben, begegnen sich zufällig am Flughafen.

In den Lebensgeschichten der Protagonisten gibt es Bruchstellen. Das gilt sowohl für ihre Liebesbeziehungen als auch für ihre gesellschaftlichen und familiären Beziehungen in ihrer Heimat. Auf ihrer Reise müssen sie Enttäuschungen verarbeiten und lernen mit dem Desinteresse ihrer ehemaligen Freunde und Verwandten umzugehen. Kundera bringt es auf den Punkt: Sie existieren quasi nicht mehr.

Es geht in diesem Buch nicht nur um Unwissenheit. Melancholie und Ignoranz dominieren den Roman. Der Leser sucht vergeblich positive Aspekte. Das ganze wird garniert mit unerfüllten und Tabu brechenden Liebesbeziehungen. Damit ist die Entzauberung perfekt. Heimat kann man nur verlieren, nicht gewinnen. Zudem spiegelt sich Entfremdung durch totalitäre Systeme in den gesellschaftlichen Beziehungen wider.

Bewertung vom 19.11.2017
Vollmer, Gerhard

Evolutionäre Erkenntnistheorie


ausgezeichnet

Der Einfluss der Biologie auf die Erkenntnisfähigkeit

Der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer gilt als herausragender Vermittler zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Bekannt geworden ist er insbesondere durch seine Arbeiten zur Evolutionären Erkenntnistheorie, in der naturwissenschaftliche und philosophische Gedanken zusammengeführt werden. Warum erkennen wir die Welt so, wie wir sie erkennen? Wie sicher ist unsere Erkenntnis?

Das Buch „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ erschien 1975 und wurde danach mehrmals neu aufgelegt. Vollmer thematisiert ausführlich und verständlich die Grundlagen dieser interdisziplinären Theorie. Dazu gehören erkenntnistheoretische, biologisch-psychologische, wissenschaftstheoretische und sprachphilosophische Fragen. Ein historischer Überblick erfolgt im ersten Kapitel.

Kant konnte nicht die Frage beantworten, woher die apriorischen Anschauungsformen kommen und warum diese so gut zur realen Welt passen. Diese Frage hat Konrad Lorenz [1], der Vater der Evolutionären Erkenntnistheorie, beantwortet. Unsere Anschauungsformen passen auf die reale Welt, weil sie sich phylogenetisch in Anpassung an diese Welt gebildet haben.

Vollmer nimmt eine wissenschaftstheoretische Bewertung der Evolutionären Erkenntnistheorie vor und stellt fest, dass diese Theorie auf sich selbst anwendbar ist. Die Aussage, dass die Evolutionäre Erkenntnistheorie die „Möglichkeit objektiver Erkenntnis sicherstellt und begründet“ (120), ist gewagt. Eine aktualisierte Ausgabe des Buches könnte um Ausführungen zur Epigenetik ergänzt werden.

[1] Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels

Bewertung vom 12.11.2017
Swaab, Dick

Unser kreatives Gehirn


sehr gut

Das Gehirn erforscht sich selbst

Sind wir mehr als unser Gehirn? Hirnforscher Dick Swaab dämpft in seinem Buch die Erwartungen spirituell eingestellter Menschen und legt den Fokus auf die kreativen Leistungen des Gehirns, die zu hundert Prozent auf einer Interaktion zwischen Vererbung und Umgebung beruhen. (21) Das Gehirn ist zu komplex für eine zentrale Steuerung, es entwickelt sich wie ein selbstorganisierendes System. Selbstorganisation funktioniert in der Natur und auch in Unternehmen. (46/47)

Die Gehirne von Jungen und Mädchen unterscheiden sich bereits in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft. (62) Diese frühe geschlechtliche Differenzierung des Gehirns wird von vielen Feministinnen geleugnet, die das Geschlecht für ein soziales Konstrukt halten. Auch hat das soziale Umfeld keinerlei Einfluss auf die sexuelle Orientierung. Insofern sind sämtliche Behandlungen mit dem Ziel, hieran etwas zu ändern, zum Scheitern verurteilt. Es beeinflusst daher auch nicht die sexuelle Orientierung, wenn Kinder bei homosexuellen Eltern aufwachsen.

Kultur ist keine Erfindung des Menschen. Eine kulturelle Wissensvermittlung ist auch in der Tierwelt erkennbar, wenn z.B. Werkzeuge für die Nahrungssuche benutzt werden. Menschenaffen kennen moralische Regeln, Affen können sich altruistisch verhalten und Elefanten kennen Trauer. Swaab macht deutlich, dass moralische Regeln genetisch verankert sind, weil sie für das Funktionieren einer Gruppe bedeutend sind. Diese Regeln sind älter als die Bibel. (96/97)

Wird sich das Gehirn des Homo sapiens evolutionär weiterentwickeln? Hierzu schreibt der Autor: „Mutationen haben gegenwärtig nicht mehr die Chance, sich in einer isolierten Gruppe auszubreiten“. (137) Das klingt plausibel. Wenn er schreibt, dass Mutationen erst einmal die Möglichkeit bekommen müssen, sich zu vervielfältigen und dies nur in der Isolation passieren kann, kommen mir Zweifel. Fehlende Isolation bedeutet doch nur, dass sich keine neuen Arten entwickeln können; eine evolutionäre Weiterentwicklung der Art selbst ist dennoch möglich.

Swaab verfügt über ein breites Wissen, welches er auch anschaulich vermittelt. So macht er deutlich, wo der evolutionäre Vorteil der Kunst liegt (150) und was die abstrakte Kunst von z.B. Piet Mondrian im Gehirn bewirkt. (173) Er beschreibt die Auswirkungen von Gehirnerkrankungen auf die Kunst und analysiert die Voraussetzungen für Kreativität. Auf vielen Seiten beschreibt er die Wirkungen der Musik auf das Gehirn. Letztlich sind Kunst und Musik – ebenso wie die Sprache – Kommunikationssysteme und aus dem Blickwinkel der Evolution mit (Überlebens-)Vorteilen verknüpft.

Swaab argumentiert naturalistisch. In der Evolution ist kein Platz für Teleologie; einen Sinn können wir uns nur selbst geben. Nahtodeserfahrungen beruhen auf einer mangelhaften Blutversorgung der Augäpfel und können in einer Zentrifuge simuliert werden. (431) Der Autor vermutet, dass manche der religiösen Persönlichkeiten in der Menschheitsgeschichte unter einer besonderen Form der Epilepsie litten, die zu Halluzinationen führt. Der freie Wille ist eine Illusion, wie verschiedene Experimente belegen. Das Bewusstsein interpretiert nachträglich unbewusste Entscheidungen des Gehirns. (460)

Die Ausführungen von Swaab können auf religiöse Menschen provozierend wirken. Sie beruhen aber auf dem aktuellen Stand der Naturwissenschaften und sind empirisch überprüfbar. Naturalismus und Esoterik schließen sich gegenseitig aus. Der Autor präsentiert sich offen und lässt Ausschnitte seiner Biografie einfließen. Swaab glänzt mit interdisziplinärem Wissen und versteht es, Zusammenhänge plausibel darzustellen, die Bandbreite seiner Themen ist gewaltig.

Bewertung vom 10.11.2017
Hacke, Axel

Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen


gut

Anstand – ein Auslaufmodell?

Der Journalist und Schriftsteller Axel Hacke beschäftigt sich in diesem Buch mit dem Anstand. Was bedeutet es, wenn Rücksichtslosigkeit und Niedertracht zum Maßstab für den Umgang miteinander werden? Ist der Ehrliche der Dumme? Hat sich das Verhalten der Menschen im Laufe der Geschichte verändert? Wie lässt sich positiv gegensteuern?

Bereits auf den ersten Seiten, bei der Analyse von Aussagen aus dem Dritten Reich, wird deutlich, dass das, was Menschen unter Anstand verstehen, vom Zeitgeist abhängt. Der politische Rahmen beeinflusst, was Konsens ist und wie wertende Begriffe ausgelegt werden. Wenn selbst Massenmörder ihr Verhalten anständig nennen, ist der Begriff sinnlos geworden.

Menschen können diese Verbiegung von Bedeutungen aber auch als Instrumentalisierung erkennen und gegensteuern. Denn was alle glauben und tun, muss nicht richtig sein. Hier ist der Einzelne gefragt. Kulturabhängige Bedeutungen sind mächtig, aber nicht allmächtig.

Der Autor unternimmt keinen Ausflug in die Hirnforschung und in die Psychologie. Spiegelneuronen, Unbewusstes und Gewissen sind Phänomene, die den Menschen in der Empfindung und in der Beurteilung von Verhalten wesentlich beeinflussen. Liegen hier die Schlüssel für das Verständnis von Anstand?

Positiv sehe ich, wie der Autor mit schwierigen gesellschaftlichen Themen umgeht. Er lässt sich nicht in eine extreme linke und auch nicht in eine extreme rechte Ecke drängen, sondern er reflektiert Situationen aus verschiedenen Perspektiven. Damit sind Probleme nicht gelöst, aber es fördert das gegenseitige Verständnis.

Das Buch wirkt moralisierend und belehrend. Es ist ein Appell an den Menschen, besser zu werden. Das funktioniert nicht, da Veränderungen von innen angestoßen werden müssen. Störend wirkt der fließende Text ohne Strukturierung. Perspektivwechsel und damit Unterbrechungen erfolgen lediglich durch die eingeschobenen Dialoge mit einem Freund.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.11.2017

Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?


gut

Der Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI)

Die Idee, einer großen Anzahl von Wissenschaftlern verschiedener Fakultäten die gleiche Frage zu stellen und die Ergebnisse in einem Buch zusammenzufassen, ist genial. Mehrere Bücher dieser Art sind bereits entstanden. Die Frage des Jahres 2015 lautet: „Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?“

Entstanden ist ein 600 Seiten umfassendes Kompendium mit den Meinungen von fast 200 Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen (Physik, Biologie, Philosophie, Psychologie, Mathematik, Wirtschaft, Informatik, Geschichte, Sprache, Soziologie) zum Thema KI. Der Aufbau des Buches erlaubt es, an verschiedenen Stellen einzusteigen.

Die Meinungen zum Thema driften weit auseinander. Je nach dem, wie KI definiert wird, ist für die einen die KI-Entwicklung schon lange im Gange und für die anderen liegt sie weit in der Zukunft. Die einen sehen Verbesserungen, die anderen Gefahren. Jedenfalls dürfen wir uns nicht wundern, wie Paul Davis es zum Ausdruck bringt, wenn außerirdische Besucher nicht aus Fleisch und Blut bestehen. (62)

Die spannende Frage lautet, ob eine Maschine jemals ein Bewusstsein entwickeln kann. Da wir nicht wissen, was Bewusstsein ist und wie es entsteht (außer durch natürliche Reproduktion von Menschen), kann diese Frage nicht beantwortet werden. Tendenziell wird diese Frage negiert. Es gibt kein Ich im Computer (109) und Maschinen denken nicht über die Zukunft nach (120)

Ob man einfach den Stecker ziehen kann, wie Leo M. Chalupa es zum Ausdruck bringt (122), bezweifele ich, da die Abhängigkeit zu Maschinen viel zu groß ist (s.a. die Finanzkrise (131)). Auch muss man sich fragen, ob Denkmaschinen gefährlicher sind, als gedankenlose Menschen. (128) Oder ist sowieso alle Intelligenz maschinelle Intelligenz, die sich nur in der Herstellung unterscheidet, wie Francis Crick es sieht. (163)

Datenschutz bleibt in einer vernetzten Welt ein zentrales Thema (249) und man muss befürchten, dass dieser ausgehöhlt wird, dank der freiwillig abgegebenen Informationen ans Internet. Auch ist bereits heute nicht mehr klar, ob man es im Netz mit Menschen oder Maschinen zu tun hat. Im Hinblick auf bestehende und entstehende Machtkonzentrationen (346) muss die Frage gestellt werden, ob die Welt demokratisch bleibt.

Das Buch ist kein Ratgeber, kein Fachbuch, kein Lexikon und auch kein typisches populärwissenschaftliches Buch. Dennoch ist es sehr informativ. Durch die eng eingegrenzte Fragestellung halte ich es aber für weniger interessant, als die Vorgängerbücher dieser Reihe. Fazit: KI auf menschlichem Niveau ist noch nicht zum Greifen nah. (621)

Bewertung vom 04.11.2017
Owen, Adrian

Zwischenwelten


ausgezeichnet

Was fühlen Wachkomapatienten?

Neurowissenschaftler Adrian Owen vermittelt den Lesern eine Reise in eine unbekannte Welt. Auch wenn man von Wachkomapatienten schon gehört hat, haben die wenigsten Menschen realisiert, in welchem Bewusstseinszustand sie sich – manchmal über Jahre hinweg – befinden. Owen öffnet ein Tor in eine unbekannte (Insel-)Welt.

Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch, in dem der Autor die Entwicklung seiner Karriere als Forscher beschreibt in Verbindung mit Fallbeispielen seiner neurowissenschaftlichen Arbeit. Im Fokus stehen die Menschen, die Owen untersucht einschließlich ihrer Angehörigen.

Die zentrale Frage, um die es in diesem Buch geht, ist die, in welchem Bewusstseinszustand sich Wachkomapatienten befinden. Owen hat mit seinem Team Methoden entwickelt, mit den Patienten, die reaktionslos im Bett liegen, in Kontakt zu treten. Die Ergebnisse beeinflussen wesentlich den Umgang mit den Patienten.

„Wir mussten einen Wachkomapatienten dazu bringen, auf eine Anweisung zu reagieren, die einen bewussten Vorsatz zu entsprechendem Handeln erforderte. Es durfte keine automatische Reaktion sein; es musste eine Handlung sein, zu der er sich entschließen konnte oder nicht.“ (120) Das ist Owens Team mit Hirnscans gelungen, die zwecks Interpretation mit Referenzvermessungen gesunder Patienten verglichen werden.

Es verursacht selbst beim Leser einen kalten Schauer, wenn nach zehn Jahren Isolation mit einem Patienten Kontakt aufgenommen wird. Erstaunlich auch, dass die Patienten (zumindest in den beschriebenen Fällen) mit ihrer Situation zufrieden scheinen und sich nicht beklagen. Dass Owen viele seiner Untersuchungen vorab von einer Ethikkommission genehmigen lassen muss, wundert nicht.

Owen überfordert die Leser nicht mit medizinischen Fachbegriffen. Dennoch hätte ein Einschub über zentrale Begrifflichkeiten nicht geschadet. Das Buch liest sich wie ein Roman, da Emotionen geweckt werden und die Leser neugierig auf die Entwicklung der Geschichte sind. Die Ergebnisse der Forschungen dürften den Beginn markieren für Verbesserungen der Situation von Patienten mit schweren Hirnschädigungen.