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Benutzername: 
Ingrid von buchsichten.de
Wohnort: 
Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 347 Bewertungen
Bewertung vom 18.03.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

Die inzwischen über 80 Jahre alte Michèle Seld, kurz Mischka gerufen ist die Protagonistin im Roman „Dankbarkeiten“ der Französin Delphine de Vigan. Mischka, die viele Jahre als Korrektorin von Texten gearbeitet hat, leidet zunehmend unter einer Aphasie. Bald schon kann sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung bleiben. Zwar hat sie selbst keine Kinder, aber sie hat sich häufig um die Nachbarstocher Marie gekümmert, die ihr nun beim Umzug ins Seniorenheim zur Seite steht.

Zu den wenigen regelmäßigen Besuchern im Heim gehört der Logopäde Jérome, der ebenso wie Marie die Geschichte aus seiner Sicht erzählt. Daneben gibt es weitere Abschnitte, die einige Träume Mischkas mit Situationen wiedergeben, in denen ihre Ängste deutlich werden.

Delphine de Vigan verdeutlicht, dass es für Mischka, die ein selbständiges Leben geführt hat, nicht leicht ist, sich den Regeln des Heims unterzuordnen und sich in die Gemeinschaft einzufügen. Von den Angestellten, die ihren Dienst nach Plan vollziehen, fühlt sie sich in ihrer Privatsphäre gestört. Das Telefonieren fällt ihr durch ihre Krankheit immer schwerer, nicht nur dadurch werden ihre Kontaktmöglichkeiten immer weniger. Leere breitet sich aus. Delphine de Vigan hat mit ihrem Schreibstil eine Möglichkeit gefunden mir als Leserin Mischkas Verlust der Hoffnung auf eine Besserung ihres Zustands und ihre steigende Resignation zu vermitteln, denn manche Sätze bleiben spürbar unvollendet im Raum stehen. Ein Dank in dieser Hinsicht gilt auch der sehr guten Übersetzung von Doris Heinemann, die die Nachvollziehbarkeit des Schwindens der Wörter ermöglicht hat.

Mischkas Gedanken kehren immer wieder in ihre Kindheit zurück, vor allem zu einer schwierigen Zeit im Krieg. Die Erlebnisse haben sich tief in ihr eingegraben und sie geprägt, damit hat sie noch nicht abgeschlossen, denn es gibt Menschen, denen sie gerne für ihre damalige Hilfe Danken möchte. Ihre Unruhe darüber, diesen Wunsch nicht mehr umsetzen zu können, ist spürbar. Sie ist aber nicht die einzige Figur im Roman, die dankbar ist für das Gute, dass sie im Leben erfahren hat.

Die Autorin weist auf all die Kleinigkeiten im Alltag hin, für die man Danke sagt, ohne lange nachzudenken, einfach aus Routine. Ihr Roman „Dankbarkeiten“ ist eine Aufforderung dazu, darüber nachzudenken, welche Gefälligkeiten demgegenüber einfach hingenommen werden und die doch eigentlich mehr Aufmerksamkeit von uns verlangen und ein wenig mehr Anerkennung, die man auch äußern sollte. Gerne empfehle ich den Roman uneingeschränkt weiter.

Bewertung vom 13.03.2020
Da sind wir
Swift, Graham

Da sind wir


ausgezeichnet

Im Roman „Da sind wir“ des Engländers Graham Swift wird die 25-jährige Revuetänzerin und Protagonistin Evie White von zwei Männern geliebt. Einer von ihnen ist Jack Robinson, 28 Jahre alt und bereits eine Saison lang als Conférencier im Theater auf dem Brighton Palace Pier erfolgreich. Sein gleichaltriger Freund Ronnie Deane, den er beim Militärdienst kennengelernt hat, interessiert sich schon seit seiner Kindheit für die Zauberei, ist bei der Ausübung seiner Künste aber weniger erfolgsverwöhnt. Bei seinen Auftritten nennt er sich „Pablo“ wie der Papagei, der ihm einmal sehr nahe war und den er vermisst.

Jack bietet ihm eine Shownummer im aktuellen Programm unter der Bedingung an, dass er mit einer Assistentin auftritt. Ronnie und Evie lernen sich beim Vorstellungsgespräch kennen. Die gemeinsamen Proben bringen sie einander näher. Während das Publikum immer begeisterter von den Auftritten des Paars ist, beginnen Evie und Jack während einer Abwesenheit von Ronnie eine Liebesbeziehung.

Die Haupthandlung spielt Ende der 1950er. Die langen Schatten des Krieges sind verblasst, Kleinkunst und Kino erfreuen sich großer Beliebtheit. Im Seebad Brighton vergnügen sich die Menschen und genießen die entspannte Atmosphäre. Einen besonderen Anziehungspunkt bildet das auf einem der Piers gelegene Theater. Während man auf der Bühne von Gesang, Zauberei, Tanz und Akrobatik mit viel Glitzer und Glanz verwöhnt wird, atmet der Gast vor und nach seinem Besuch die Seeluft ein und hört das Rauschen des Meeres. Gleiches konnte ich bei meinem Aufenthalt vor einiger Zeit auch erfahren. Leider gibt es das Theater heute nicht mehr, aber ebendort bieten sich einige andere Vergnügungen an.

Während ich als Leser wenig über die Kindheit von Jack und Evie erfahren konnte, folgte ich Ronnie zu einer für ihn entscheidenden Zeit Anfang der 1940er Jahre. Damals erlebte er eine ganz andere Seite von Familie und Erziehung als die, in der er heranwuchs. Diese Zeit hat sein Denken und Handeln nachhaltig geprägt. Der Ausspruch „Da bin ich“ oder auch „Da sind wir“, den er damals oft gehört hat, vermittelte ihm, dass Glück möglich, aber auch flüchtig ist. Das hat ihn geerdet und nicht nur durch seine Zauberkunst weiß er, dass nicht immer alles, was man zu sehen glaubt, der Realität entspricht. Gleichzeitig hat er es geschafft, einen seiner Träume zu leben und Evie ergänzt nicht nur seine Auftritte, sondern er wünscht sie sich an seiner Seite zur Verwirklichung eines weiteren. Bis er erkennt, was wirklich wichtig ist im Leben.

Im Buch „Da sind wir“ erzählt Graham Swift von Schein und Sein und der Flüchtigkeit der Dinge, von glanzvollen Bühnenauftritten und der Zeit jenseits der öffentlichen Bewunderung, in dem die Maskerade abgelegt wird und die Alltagsrollen eingenommen werden. Sein einfühlsam geschriebener Roman verknüpft heitere und tragische Momente, die zeigen, wie schmerzlich und freudig Leben ist. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2020
Der Empfänger
Lenze, Ulla

Der Empfänger


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Der Empfänger“ schreibt Ulla Lenze über ihren Großonkel Josef Klein, dessen Leben sie fiktionalisiert hat. Er wanderte im Jahr 1924 in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Durch seine Tätigkeit in einer Druckerei wurde er vor dem Zweiten Weltkrieg mit einer Gruppe bekannt, die Deutschland und seiner damaligen Politik stark verbunden war. Josef, der in Amerika nur noch Joe gerufen wurde, besaß ein Funkgerät, einen Detektorempfänger, damit soll er die Gruppe zu festgelegten Zeiten mit seinen Kenntnissen als Funker im Austausch mit Deutschland unterstützen.
Das erste Kapitel des Romans spielt in Costa Rica im Jahr 1953. Josef hilft zu dem Zeitpunkt beim Verzeichnen des Landes. In Rückblicken schaut er auf sein bewegtes Leben zurück. Vier Jahre vorher war er aus dem Internierungslager für feindliche Ausländer auf Ellis Island entlassen und des Landes verwiesen worden. Sein Weg führte ihn direkt in seine Heimat nach Neuss, wo die Familie seines jüngeren Bruders Carl noch immer wohnt. Von der Familie seines Bruders erfährt er ein gewisses Unverständnis für seine aktuelle Lage, auch aufgrund der Unkenntnis seiner vorigen Erlebnisse. Sein Ehrgeiz, wieder von anderen unabhängig leben zu können, veranlasst Josef dazu, seine früheren Kontakte zu nutzen, um einerseits wieder Arbeit zu finden und andererseits vielleicht sogar wieder in die Vereinigten Staaten zurück zu finden.
Durch die ersten Seiten des Romans wusste ich, wohin der Weg von Josef ihn führen wird. Meiner Meinung nach nimmt diese Gestaltung der Geschichte eine möglich gewesene gewisse Spannung, die sich aufgrund der Ungewissheit über Josefs weiteres Leben ergeben hätte. Danach lernte ich Josefs Familie in Neuss kennen. 1949 herrscht immer noch Mangel an vielen Dingen des Alltags. Sein jüngerer Bruder hat sich zum Familienoberhaupt entwickelt, Josef wird zum geduldeten Gast. Er sehnt sich aufgrund seiner früheren Erfahrungen nach Liebe und Aufmerksamkeit und sucht sie vor allem bei seiner Schwägerin, wodurch sich das Verhältnis zu ihr schwierig gestaltet.
Die Autorin wertet nicht über das Leben ihres Großonkels. Zaghaft beschreibt sie Josefs Aktivitäten als Funker und schafft ein realistisches Szenario. Dabei öffnete sie mir als Leser den Zugang zu dem interessanten Thema der geschickten Spionagetätigkeiten der Nationalsozialisten in den Vereinigten Staaten.
Josef ist inzwischen 36 Jahre alt. Eine beschriebene Liebesgeschichte blieb recht blass, denn ich konnte die Empfindungen von Josef nicht nachvollziehen. Vielleicht waren seine Gefühle nervlich zu sehr angespannt aufgrund seiner konträren Ansichten über seine Tätigkeit als Funker. Leider erfuhr ich so gut wie nichts über die ersten Jahre seines Aufenthalts in den USA. Ulla Lenze lässt die damalige brodelnde Atmosphäre in den Straßen New Yorks und das Miteinander der verschiedenen Kulturen durch ihre Beschreibungen wieder Gestalt annehmen.
In ihrem Roman „Der Empfänger“ zeigt Ulla Lenze, dass man auch nach Jahren an einem Ort fernab der Heimat innerlich noch immer nicht angekommen sein kann. Die Suche nach Liebe, Vertrauen und Geborgenheit birgt dabei ungeahnte Risiken, die ihr Großonkel in den Tagen vor und während des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten erfahren hat. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 11.03.2020
Qube / Aus der Welt der Hologrammatica Bd.2
Hillenbrand, Tom

Qube / Aus der Welt der Hologrammatica Bd.2


sehr gut

Der Science-Fiction-Thrillers mit utopischen Charakter „Qube“ von Tom Hillenbrand spielt drei Jahre nach den Ereignissen des zweiten Turing-Zwischenfalls im Jahr 2088, die Thema des Vorgängerbands „Hologrammatica“ waren. Damals erwachte ein längst zerstört geglaubter Klimacomputer erneut und versuchte die Weltherrschaft zu übernehmen. Natürlich stellte sich für mich vor Beginn des Lesens die Frage, ob die Welt die Künstlichen Intelligenzen inzwischen im Griff hat. Das es auch in „Qube“ wieder um eine ähnliche Problematik gehen wird, sagt bereits der Titel aus, der sich aus den Begriffen für Quantum und Cube zusammensetzt und so einen auf quantenmechanischen Prinzipien basierenden Hochleistungsrechner bezeichnet.

Der Londoner Journalist Calvary Doyle wird durch einen gezielt gesetzten Kopfschuss schwer verwundet. Der UNANPAI, einer Behörde, deren Aufgabe darin besteht, Künstliche Intelligenzen (KI) aufzuspüren, bleibt das nicht verborgen. Eventuell könnte das Verbrechen damit zusammenhängen, dass Doyle vor der Tat auf dem Gebiet der KI recherchiert hat. Zum Glück hat er Vorkehrungen getroffen und sein Wissen in einen Qube laden lassen, der ihm nun eingesetzt werden kann. Allerdings fehlt ihm die Erinnerung zwischen Gehirnscan und Kopfschuss. Fran Bittner, eine UNANPAI-Agentin, der bereits in „Hologrammatica“ eine wichtige Rolle zukam, wird mit den Ermittlungen beauftragt.

In weiteren Handlungssträngen lernte ich Clifford Torus kennen, einen reichen Unternehmer. Er ist ständig daran interessiert, die neuesten technischen Entwicklungen zu erwerben, vor allem diejenigen, die sein Leben erhalten und verlängern könnten. Außerdem zeigt Persia, eine Profi-Gamerin, ihr Können und mit dem Auserwählten Franek reiste ich in eine magisch anmutende Welt.

Das Lesen von „Qube“ fiel mir leichter im Vergleich zum Vorgängerband, was einerseits daran lag, dass mir die Science-Fiction-Welt von Tom Hillenbrand schon bekannt war und andererseits, dass es diesmal keinen Perspektivenwechsel zu einem Ich-Erzähler gibt. Hilfreich war auch ein Glossar am Ende des Buches, dass einige spezielle Begrifflichkeiten erklärt.

Es ist beeindruckend, mit welcher Detailverliebtheit der Autor seine Szenen ausformuliert, so dass sie bildlich vorstellbar werden. Sicher sind viele Ideen seiner Zukunftsvorstellungen nicht unbedingt neu, aber so geschickt kombiniert, dass sie denkbar sind. Die Storyline begeisterte mich zu Beginn des Thrillers, doch leider kam es in der zweiten Hälfte zu Längen, auch durch die Beschreibungen von Spielrunden.

Das Problem der Datensammlungen und Auswertungen durch Künstliche Intelligenzen ist heute schon spürbar. Der Thriller verdeutlicht, welche Risiken bestehen, wenn KI aufgrund ihrer vorgenommenen permanenten Selbstoptimierung sich irgendwann unserer Steuerung entziehen könnten. Dabei verarbeiten sie nicht nur die von uns eingegebenen Daten, sondern nehmen auch aus ihrer Umgebung beispielsweise über Sprache Angaben auf und wandeln sie in verwendbaren Code um. Für uns wird der kritische Umgang mit Daten umso wichtiger.

„Qube“ von Tom Hillenbrand ist ein komplexer Thriller, der durch seine vielen, detailliert beschriebenen und verbundenen Ideen über unsere Zukunft beeindruckt. Dabei wirft der Autor problematische Fragen auf zur Datennutzung und der Begrifflichkeit unseres Menschseins. Das Buch ist vor allem für Leser des Genres Science Fiction interessant, denen ich es gerne weiterempfehle. Die Geschichte ruft nach einer Fortsetzung.

Bewertung vom 29.02.2020
Hör mir zu, auch wenn ich schweige
Greaves, Abbie

Hör mir zu, auch wenn ich schweige


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Hör mir zu, auch wenn ich schweige“ schreibt Abbie Greaves über das anhaltende Schweigen in der Ehe eines älteren Paars, das so viel Leere hervorruft und das schließlich viel Platz einnimmt bis es zu einer solchen Last wird, dass die Ehefrau darunter zerbricht. Dennoch wenden sich die Gesichter einer Frau und eines Manns auf dem Cover liebevoll einander zu. Sie scheinen dadurch im Gegensatz zur abweisenden Stille zu stehen und doch ist in der Geschichte so, dass Frank, dem Ehemann, die Worte fehlen, obwohl er seine Ehefrau wie an ihrem ersten Tag der Beziehung liebt. Mit Ausnahme des Prologs und des Epilogs erzählt Frank als Ich-Erzähler die Ereignisse der Gegenwart und im Rückblick, die später von Maggies Auszeichnungen unterbrochen werden.

Frank und Maggie sind seit 40 Jahren verheiratet und haben gemeinsam schon manchem Sturm getrotzt. Frank ist Professor für Entwicklungsbiologie, ruhig und zurückhaltend, aber er lacht gern und liebt Ausflüge in die nahe und weitere Umgebung. Maggie ist Krankenschwester, aufgeschlossen und kontaktfreudig. Von heute auf morgen verstummt Frank. Vielleicht ahnt Maggi ansatzweise den Grund dafür, aber das Unausgesprochene steht im Raum und ihre Gedanken kreisen über die gemeinsame Bürde der letzten Jahre. Die Mauer des Schweigens wirkt auf sie belastend, ihr eigenes Handeln in der Zeit davor sieht sie als bedeutungsvoll und Schicksal gebend, so dass sie verzweifelt und keine Zukunft für sich sieht. Frank findet sie bewusstlos in der Küche und setzt alles daran, Maggie und seine Ehe zu retten.

Der Roman schildert die Geschichte einer langen Ehe, die geprägt ist von der miteinander geteilten Zeit und mit gemeinsamen Erlebnissen. Sie erzählt von den vielen Dingen, die man einander in all den Jahren aneinander zu schätzen gelernt hat und von den Eigenheiten des Partners, mit denen man sich arrangiert. Es sind die Ängste, die man miteinander geteilt hat, das gemeinsame Glück und die empfangene Freude, die mit der Zeit eine gewisse Annahme entstehen lässt, dass man stets glaubt zu wissen, wie der andere denkt und fühlt. Es bleibt aber auch der Hauch einer Ahnung, dass es Dinge gibt, die unerwähnt bleiben und dadurch ein unterschwelliges Störgefühl immer vorhanden bleibt, bei feinfühligen Personen mehr, bei anderen vielleicht weniger.

Im Roman „Hör mir zu, auch wenn ich schweige“ zeigt Abbie Greaves, dass Liebe allein manchmal nicht ausreicht und eine aufrichtige Kommunikation im Vertrauen zueinander, gegenseitiger Respekt und akzeptierter Freiraum in der Ehe wichtig sind. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 29.02.2020
Nach Mattias
Zantingh, Peter

Nach Mattias


ausgezeichnet

Zu Beginn des Romans „Nach Mattias“ des Niederländers Peter Zantingh steht ein klarer Schnitt: Mattias ist tot. Daran bemisst sich die Zeiteinteilung seiner Freundin, seiner Freunde und Verwandten, für die es ein „mit“ und ein „ohne“ Mattias gibt. Der Autor erzählt aus acht Perspektiven mit neun Figuren, die im Mittelpunkt der jeweiligen Geschichte stehen. Der Blick auf seine Freundin und Lebenspartnerin Amber eröffnet und beschließt die Kurzgeschichten im Buch.

Lange bleibt verborgen, wie und wo Matthias gestorben ist, erst allmählich erhielt ich als Leser hierzu weitere Informationen. Der Raum um sein Sterben bleibt jedoch weit und unausgefüllt, genauso wie die Rollen, die er eingenommen hat und die jetzt nicht mehr zu füllen sind.

Die Charaktere, die Peter Zantingh selbst zu Wort kommen lässt oder auf denen sein Blick ruht, kennen den für eine Eventagentur arbeitenden Matthias nicht immer persönlich. Dennoch sind sie auf gewisse Weise mit ihm verbunden, eventuell auch nur durch Auswirkungen seiner Handlungen. Deutlich zu spüren ist der persönliche Bezug zu dem Verstorbenen durch die Tiefe der Trauer der jeweiligen Person. Obwohl der Schreibstil des Autors recht schnörkellos ist, beschreibt er die Emotionen mit treffenden und berührenden Worten.

Weil einige Figuren miteinander verwandt oder befreundet sind oder der gleichen Freizeitgestaltung nachgehen, kreuzen sich gelegentlich einige Wege. Daher findet die Entwicklung des Protagonisten einer der Kurzgeschichten eventuell später nochmal eine Fortsetzung, was ich sehr gut fand.

Auf der Trauerfeier von Matthias zeigt sich, dass die anwesenden Personen den Verstorbenen auf ganz unterschiedliche Weise gekannt haben. Die Erzählungen vermittelten mir ein Bild von ihm als Neuem gegenüber aufgeschlossen und zu spontanen Aktionen bereit. Er konnte gut zuhören, bot gerne seine Hilfe an, suchte den Konsens, doch er war auch ein Mensch mit Ecken und Kanten.

Die Geschichten spielen in einer unbenannten Stadt, nicht allzu weit vom Meer entfernt, wie beispielsweise in Utrecht, der Heimat des Autors. Beim Schreiben hört der Autor gerne Musik, die ihm auch zur Inspiration dient, und die er für dieses Buch in einer Playlist zusammengestellt hat.

Die Erzählungen sind realistisch und nachvollziehbar. Peter Zantingh lässt seinen Figuren ein Stück Hoffnung, in dem er einigen eine Aufgabe gibt, die für sie sinnerfüllend ist. Allerdings blieb mir der Charakter des Sohns einer der Protagonistinnen nicht ausformuliert genug, so dass mir dessen Handlungsmotiv unklar bilieb.

Peter Zantingh hat einen bewegenden Roman geschrieben über Trauer und verschiedene Arten, diese zu bewältigen. Die Geschichten im Buch „Nach Mattias“ zeigen auf, dass auch kleine Handlungen in unserem Leben von Bedeutung für andere Personen sind und eine verändernde Wirkung haben können, die nicht durch den Tod beendet wird. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 28.02.2020
Marianengraben
Schreiber, Jasmin

Marianengraben


ausgezeichnet

Der Marianengraben im Pazifischen Ozean liegt 11.000 m tief und ist damit die tiefste Stelle des Weltmeers. Der „Marianengraben“ der Protagonistin Paula in Jasmin Schreibers gleichnamigen Roman ist nicht greif- oder sichtbar, aber mit der gleichen Tiefe wie sein Namensvetter hat er sich in ihrem Innersten eingegraben. Er ist dort, wo es ihr an Licht und Farbe fehlt, wo sie nicht genug Luft zum Atmen findet und wo ihr die Energie zum Leben entzogen wird, weil ihre unendliche Liebe zu ihrem Bruder über dessen Tod hinaus ihr die Kraft raubt. Die Tiefe des Marianengrabens betitelt die Kapitel des Buchs und ließ dadurch für mich als Leserin das langsame Auftauchen und Abstreifen der Dunkelheit von Paula auch nach außen hin sichtbar werden.

Der Unfalltod ihres über zehn Jahre jüngeren Bruders Tim hat bei Paula eine große emotionale Leere hinterlassen. Wieder und wieder fragt sie sich, ob ihre Anwesenheit am Unfallort den Tod von Tim hätte verhindern können. Als sie sich nach der Beerdigung endlich traut, das Grab zu dem für sie perfekten Zeitpunkt aufzusuchen, stellt sie fest, dass sie nicht wie gewünscht allein auf dem Friedhof ist. Bei dieser Gelegenheit lernt sie Helmut kennen, viermal so alt wie sie und mit einem klaren Auftrag, den er zu erfüllen gedenkt und der ihn schließlich mit seinem neuerworbenen alten Wohnmobil Richtung Berge in den Süden treibt. Paula begleitet ihn und schnell wird die Geschichte zu einem skurrilen Roadmovie.

Paula und Tim sind ganz unterschiedliche Charaktere. Während Paula kontaktscheu und ruhig ist, gerne liest und lernt, ist Tim ebenfalls neugierig auf das Leben, aber er schließt schnell Freundschaften und ist abenteuerlustig. Paula versucht an dem Status Quo vor dem Unfall festzuhalten. Das, was sie aktuell erlebt erzählt sie in Gedanken ihrem Bruder und stellt sich seine Reaktionen in entsprechenden Situationen vor und seine Rückfragen auf ihre Schilderungen. Entsprechend angepasst und einfach, aber brillant ist in diesen Abschnitten die Sprache im Zwiegespräch mit Tim. Sie kann ihn nicht aus ihren Gedanken lassen, denn sie stellt sich vor, dass die Größe des dann entstehenden Raums nicht zu füllen ist. Und immer wieder stellt sie sich die Frage ihrer Schuld. In der Geschichte ist spürbar, dass die Autorin sich mit dem Sterben als Ende unseres Lebens aktiv auseinandersetzt.

Helmut erscheint zunächst als schrulliger älterer Herr. Zunehmend entdeckt Paula jedoch Gemeinsamkeiten. Einige seiner eigenen Erlebnisse, die er im Laufe der vielen Jahre seines Lebens gesammelt hat, sind ähnlich denen seiner viel jüngeren Reisebegleiterin. Beide bleiben sich auf ihrer Fahrt selbst treu und dennoch ist deutlich spürbar, dass sie im Austausch ihrer Erfahrungen und Gefühle ein besseres Verständnis nicht nur voneinander, sondern über viele Dinge des Lebens finden.

„Marianengraben“ von Jasmin Schreiber ist ein Roman über das Leben zu dem das Sterben dazugehört, ob absehbar oder unerwartet. Die Autorin schreibt über Trauer und über Glücksmomente. Sie findet eine eigene Art, der ergreifenden Erzählung an manchen Stellen einen heiteren Ton zu geben, der dem Roman eine gewisse Leichtigkeit verleiht und immer wieder über die berührenden und schmerzlichen Geschehnisse hinweg Fröhlichkeit einkehren lässt. Sehr gerne vergebe ich eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung vom 27.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


ausgezeichnet

Der Roman „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko spielt am Ende des Jahres 2000. Alexander ist einer der beiden Protagonisten, 30 Jahre alt und hat eine wenige Monate alte Tochter. Er ist von Beruf Fußballschiedsrichter und hat gerade eine Wohnung in Minsk neu angemietet. Auf seiner Wohnungstür ist ein gut sichtbares rotes Kreuz aufgemalt. Beim Versuch, die beiden Striche zu entfernen, begegnet er seiner Nachbarin Tatjana, die sich dazu bekennt, das Kreuz angebracht zu haben, damit es sie nach Hause führt. Sie ist die zweite Hauptfigur des Romans, schon 90 Jahre alt und an Alzheimer erkrankt.

Tatjana besteht darauf, dem jungen Nachbarn ihre Wohnung zu zeigen, von der Alexander überrascht ist und deren Ausstattung Fragen aufwirft. Die beiden kommen ins Gespräch und beginnen damit, über ihr Leben zu erzählen, wobei Alexander dabei zunächst zögerlich ist. Tatjana schildert ihr bewegtes Leben und ihren persönlichen Kampf für ihre kleine Familie in den Jahren der Stalin-Ära und den Jahren nach dem Tod des Diktators. Auch Alexander hat in den letzten Wochen und Monaten für seine kleine Familie gekämpft. Obwohl sich die Geschichten grundlegend unterscheiden, haben beide auch einiges gemeinsam.

Rote Kreuze ziehen sich durch den gesamten Roman, nicht nur in Form des Symbols zur Erinnerung an Alexanders Haustür. Der Titel bezieht sich ebenso auf das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, das im und nach dem Zweiten Weltkrieg Informationen über Verletzte und Kriegsgefangene gesammelt und zur Verfügung gestellt hat. Die Korrespondenz mit dem Komitee spielt eine wichtige Rolle im Buch, Sasha Filipenko hat den Wortlaut von Originaldokumenten in seinen Roman eingebunden, mit ihnen stützt er seine Forderung, die Erinnerung an die Gräuel des vorigen Jahrhunderts in den sozialistischen Sowjetrepubliken aufrecht zu erhalten.

Außerdem erinnern die Kreuze in ihrer übertragenen Form an das Leid, dass beide Protagonisten in ihrem Leben erfahren haben und nun mit sich tragen. In ihren Schicksalen trifft der Respekt gegenüber einer einzelnen Person des modernen Weißrusslands auf die Grausamkeiten des Sowjetregimes in der Mitte des letzten Jahrhunderts, die ein Leben auf gänzlich andere Art gemessen, beurteilt und bewertet hat.

Beiden Protagonisten gemeinsam ist auch, dass sie schwierige Entscheidungen zu treffen hatten. Tatjana hat entsprechend der gegebenen Lage im Geheimen entschieden, weil sie niemandem vertrauen konnte. Alexander, der einen Sinn für Gerechtigkeit hat, die auch in seinem Beruf zum Tragen kommt, hatte zwar die Möglichkeit Informationen und Rat öffentlich einzuholen, doch sein Beschluss wird nicht von jedem gutgeheißen, sondern findet auch kritische Stimmen.

„Rote Kreuze“ ist ein Roman gegen das Vergessen, nicht nur aufgrund der Alzheimererkrankung der Protagonistin Tatjana, sondern es ist ebenfalls ein Aufschrei gegen das kollektive gesellschaftliche Vergessen an die gefühllos veranlassten Repressionen in den sowjetischen Republiken vor einigen Jahrzehnten. Sasha Filipenko schreibt bedrückend und berührend, seine Geschichte bleibt in Erinnerung. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 26.02.2020
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Das Haus der Frauen“ von Laetitia Colombani spielt der „Palais de la Femme“ in Paris eine große Rolle. Die Autorin verbindet aktuelle fiktive Ereignisse mit und der Gründungsgeschichte des Hauses, das real existiert. Das Gebäude wurde in den ersten Jahren nach dem Bau auf unterschiedliche Weise genutzt, doch seit 1926 bietet die Heilsarmee hier in Not geratenen Frauen in heute 630 Zimmern eine Wohnmöglichkeit. Die christliche Freikirche konnte die Kosten für den Erwerb des Hauses und dessen nötiger Renovierung nur mit dem großen Engagement ihres Mitglieds Blanche Peyron aufbringen, die von ihrem Ehegatten mit allen Kräften unterstützt wurde.

Soléne ist 40 Jahre alt und eine erfolgreiche Rechtsanwältin. Sie ist in einer Kanzlei angestellt und dort als pflichtbewusst und ehrgeizig bekannt. Nach einem verstörenden beruflichen Ereignis wird bei ihr Burn-Out diagnostiziert. Als Teil einer Therapie wird ihr ein soziales Engagement empfohlen. So wird sie zur Briefeschreiberin im „Haus der Frauen“. Nach einem holprigen Start gewinnt sie zunehmend das Vertrauen der Bewohnerinnen und ihre Zweifel an der Tätigkeit werden zunehmend mit Anerkennung kompensiert.

Der Roman beginnt mit einem wahren Paukenschlag für Soléne. Ihr Leben ist geprägt von ihrer Arbeit in der Kanzlei, ihre Freizeit ist dadurch stark eingeschränkt. Sie ist überrascht, wie sehr die berufliche Krise sie mitnimmt. Nur zögerlich entscheidet sie sich für ein soziales Engagement. Ihr Auftreten in der ungewohnten Umgebung ist von Unsicherheit geprägt, ein Gefühl, dass sie kaum kennt. Je tiefer sie in die Hintergründe des Aufenthalts der Frauen im „Palast“ eintaucht, die aus ganz unterschiedlichen Gründen hier Unterkunft gefunden haben, desto mehr wird sie genauso wie ich als Leserin davon emotional berührt.

Auch wenn die Geschichten nur fiktiv sind, hat Laetitia Colombani es geschafft, bewegende Lebensläufe zu schildern, die nachdenklich stimmen. Soléne wird dadurch immer mehr deutlich, was wichtig ist im Leben und dass vor allem ein sicherer Aufenthaltsort dazu gehört.

Neben den ergreifenden erdachten Lebensberichten bindet die Autorin die Geschichte der Blanche Peyron in ihren Roman ein, der mich etwa hundert Jahre in die Vergangenheit führte. Blanche ist die tatsächliche Gründerin des Hauses, so wie es bis heute existiert. Als Person war sie mir bisher unbekannt. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die zu ihren Lebenseinstellungen steht, sich über Konventionen hinwegsetzt und ihre Ziele unermüdlich mit immer neuem Eifer nachgeht. Mich hat sie als Person stark beeindruckt.

„Das Haus der Frauen“ von Laetita Colombani ist ein großartiger herzerwärmender Roman über die erfolgsgewohnte Anwältin Soléne, die nach einem persönlichen Krise eine ehrenamtliche Tätigkeit im titelgebenden Gebäude in Paris aufnimmt und dort Frauen in problematischen sozialen Situationen kennenlernt, deren Lebensgeschichten emotional tief zu Herzen gehen. Gleichzeitig ist er aber auch eine Würdigung der Lebensleistung der wenig bekannten Blanche Peyron, die eben jenen „Palast der Frauen“ in Paris gegründet hat. Gerne vergebe ich hierzu eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung vom 21.02.2020
Power
Güntner, Verena

Power


ausgezeichnet

Der Roman „Power“ von Verena Güntner handelt von einem Hund, der verschwunden ist. In dem Dorf, in dem das geschehen ist und das an einem Waldrand liegt, ist darüber zunächst nur seine Besitzerin betrübt. Doch das Buch macht seinem Namen alle Ehre, denn „Power“ bildet die treibende Kraft, die die Kinder des Orts schließlich geschlossen dazu bringt, ihn auf eine ungewöhnliche Weise zu suchen.
Kerze, die Protagonistin des Romans, ist elf Jahre alt und damit genauso alt wie Power. Sie lebt allein mit ihrer Mutter, die tagsüber zur Arbeit ist. Ihren gegebenen Versprechen kommt sie immer nach. Sie hat sich ihren Spitznamen gegeben, weil sie Verzweifelten, Enttäuschten und Bedrückten wieder Licht und damit Freude zurück in den Alltag bringen will. Dem Auftrag der älteren Dorfbewohnerin Frau Hitschke, nach ihrem Hund Power zu suchen, kommt sie daher gerne nach. Sie ist selbstbewusst, vorlaut und lebt ihre Rolle als Detektivin streng und übertrieben aus.
Das Ende der Geschichte ist nicht verwunderlich, denn das Ergebnis der Suche wird auf den ersten Seiten vorweggenommen. Dennoch ist die Erzählung bis dahin überraschend. In einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt mit all seinen Eigenarten, Allüren, Freundschaftsbeziehungen und Abneigungen stehen die Sommerferien an. Für Kerze und die übrigen Kinder ist das eine eher langweilige Zeit. Keiner hat eine Urlaubsreise, der Tag liegt wie ein dunkles Loch vor einem, denn Aktionen in Form von Ferienspielen oder ähnlichen bieten sich hier keine an. Ich kenne das aus meiner eigenen Kindheit auf dem Dorf. Kerze aber bietet mit ihrer Suche eine prima Ablenkung vom Ferienalltagseinerlei. Ganz nebenher tut man auch noch Gutes, wenn man sich der Sache anschließt und einer Ortsbewohnerin vielleicht sogar ihren kleinen Liebling wiederbringen kann. So beginnt es.
Zunehmend übernimmt Kerze die Organisation der Gruppe der Kinder, von denen sich immer mehr der Suche anschließen, und gewinnt dadurch deren Vertrauen. Die Gruppe folgt ihren Anweisungen, aber mit steigender Verantwortung für die Entscheidung über Gerechtigkeit und die Übernahme von Schiedssprüchen ändert sich allmählich ihr Ton. Die Suche wird immer verbissener. Die Ideen von Kerze zum Auffinden des Hunds werden immer abstruser, aber keines der Kinder wagt gegen die Methoden aufzubegehren, der Druck der Gruppe auf Uniformität wächst.
Die Eltern sehen dem Treiben unterdessen tatenlos zu. In der von der Autorin aufgezeigten Welt, in der Erwachsene ihrer Rolle als Vermittler von Werten und Normen kaum nachkommen, testen die Kinder ihre Grenzen bis zum Äußersten aus und die Mütter und Väter rühmen sich ihrer erzieherischen Fähigkeiten und lehnen jede Hilfe ab, die nicht aus diesem Kosmos kommt.
Auf überspitzte Weise zeichnet Verena Güntner in ihrem Roman „Power“ die ungewöhnliche Art eines Zusammenschlusses von Kindern, zunächst mit einem erkennbar guten Sinn, später aber immer mehr aus dem Ruder laufend. Ihre Sprache ist beredt, klar und mit viel feinem Gespür fürs Detail. Die Geschichte regt zum Nachdenken an. Gerne vergebe ich hierzu eine Leseempfehlung.