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LichtundSchatten

Bewertungen

Insgesamt 313 Bewertungen
Bewertung vom 07.08.2018
König, Peter

Giambattisto Vico


ausgezeichnet

Irgendwann landet man bei Giambattista Vico und diesem Satz:
„A city divided by religion is either already in ruins or close to it.“

Selbst aus einer (armen) Buchhändlerfamilie stammend, musste er später Hab und Gut verkaufen, um den Druck seiner Werke bezahlen zu können. Giambattista Vico starb 1744 in Neapel so verkannt wie er sich zeitlebens fühlte, seine universitären Anhänger vermochten sich nicht auf ein Beerdigunsprocedere einigen, die Familie musste den Sarg wieder zurücknehmen und Vico auf eigene Kosten am nächsten Tag unter die Erde bringen. Trotz aller Widerstände (und gerade deshalb) vollbrachte er eine herausragende intellektuelle Leistung: die Begründung einer „Neuen Wissenschaft“, das Konzept der „Scienza Nuova“, wie das Werk auf Italienisch heißt. Es ist eine weit gefasste Geschichts- und Kulturtheorie vom Aufstieg und Fall von Kulturen.

Das ungewöhnliche Leben von Vico wird in diesem Buch spannend und nachvollziehbar aufgefächert, es ist eine perfekte Vorbereitung zum Lesen seines Hauptwerkes, an dem er unter großen persönlichen Opfern bis zum Schluss schrieb: Die Neue Wissenschaft.

Vico beschreibt den immer wiederkehrenden, gleichbleibenden Aufstieg und Fall (Zyklen der Barbaren) von Gesellschaften/Kulturen:
„Menschen spüren zuerst die Notwendigkeit, suchen dann den Nutzen, kümmern sich dann um die Bequemlichkeit, amüsieren sich später noch gerne, werden schließlich im Luxus aufgelöst und so verrückt, ihre eigene Existenz gedankenlos wegzuwerfen.“

Bewertung vom 07.11.2016
Fuhrmann, Horst

Überall ist Mittelalter


ausgezeichnet

„Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein.“ (Jacob Burckhardt),

Wir nehmen gerne das Wort „Zustände wie im Mittelalter“ in den Mund und suggerieren uns selbst damit, alles sei weit hinter uns, irgendwie überwunden. Für uns selbst, die wir schlechte Zustände anderer anprangern wollen. Ist es aber nicht. Keinesfalls. Mit diesem Buch tauchen wir tief ein in die Gewohnheiten und Sachlagen des Mittelalters, die Einstellungen und Lebensweisen, die Kriege und Schlachten, seien diese verbaler oder echter, tötender Natur. Wir lernen die Lesarten und Interpretationen kennen, die sich in dem Fach Geschichte äußern und oft auch zerreißen. Geschichte ist vor allem auch das Erzählen von fiktiven Geschichten, die Narration hat unzählige Spielarten, von denen die jeweilige Wirklichkeit abzugrenzen ist.

Die Annäherung an das Mittelalter, unsere direkte Vorzeit, gelingt mit diesem umfassenden Buch hervorragend und sehr ausführlich, es ist in 4 Kapitel gegliedert:

Gegenwärtigkeiten (Begrüßungsrituale, Haus und Garten, Fälschungen)

Rückerinnerungen (Deutsches Ärgernis, Barbarossa, Quedlinburg)

Abwendungen (Zinsverbot, Pfarrersfrau, Verdienste, Tod)

Verwertungen und Verwerfungen (Umberto Eco, Kammeier, Kantorowicz)

Philipp Melanchthon aus Bretten, die intellektuelle rechte Hand von Martin Luther, hatte in seinem Haus in Wittenberg jene Ökonomie aufgebaut, die so typisch ist für das Mittelalter. Der Garten hinter dem Haus war Grundlage zum Überleben für die Familie und auch Studenten, die damals selbstverständlich mit der Familie Melanchtons unter einem Dach lebten. Die Frau war nicht nur die treue Ehefrau und Kindererzieherin, sondern auch jene, die für das tägliche Essen zu sorgen hatte. Das ging am schnellsten und billigsten mit einem eigenen Garten. Noch immer bin ich beeindruckt von diesem Garten hinter dem Melanchthonhaus, heute ein wunderschönes Museum mit Kräterbeeten. Der Gelehrte des Mittelalters hing am Tropf einer einzigen Bedingung: der christlich religiösen. „Im Früh- und bis weit in das Hochmittelalter hinein war es meist ein Kirchenamt, das den Gelehrten ernährte, denn Bildung und Wissenschaft lagen in den Händen der Geistlichkeit.“

„Wer hat denn die Deutschen zu Richtern über die Völker bestellt?“ Mit dieser Anklage des Johann von Salisbury (1115-1180) wird vieles deutlich, das man möglicherweise in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen will. Sie gipfeln auch in einer Aussage von Bismarck im Reichstag: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.“ Es steht heute außer Frage, das Mittelalter liebte die Deutschen nicht, es baute sich mit dem näheren Kennenlernen eine Erbfeindschaft zwischen Franzosen und Deutschen auf, die Goethe im Faust in die Worte goss: „Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden.“ Die gegenseitigen Beschimpfungen machen ein ganzes Lexikon aus und umso höher ist die Leistung von de Gaulle und Adenauer zu werten, die diese Gegnerschaft in Freundschaft umpolten. Wirklich? Muss man allerdings fragen. Sind Vorurteile, Stereotype so schnell abbaubar und verschafft sich ein rechthaberischer, andere dominieren wollender Geist vielleicht doch immer wieder die Oberhand, in Verkleidung anderer Verhaltensweisen, die von einer tiefen Überzeugung für die eigene Wahrheit ausgeht?

Man muss dieses Buch nicht in einem durchlesen, es hat faszinierende Kapitel, durchaus wissenschaftlich geschrieben, aber immer erhellend und auf das Wesentliche verweisend, vom profanen Alltag hin zu höchsten metaphysischen, komplexen Sphären.