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YukBook
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Insgesamt 313 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2018
Christensen, Lars Saabye

Magnet


ausgezeichnet

Es ist schon eine ganz eigenwillige Figur, die Lars Saabye Christensen in diesem Roman geschaffen hat. Jokum Jokumsen fotografiert gern heimatlose Dinge, die seinen Weg kreuzen. In ihrer Gesellschaft fühlt er sich weitaus wohler als unter Menschen, die ihm ständig zu nah auf die Pelle rücken. Am liebsten möchte er gar nicht auffallen – was ihm schwerfällt bei seiner Größe von über zwei Metern.

Zu der Fotografie findet der Literaturstudent erst über Synne Sager, seine große Liebe, die Kunstgeschichte studiert. Die beiden werden privat, später auch beruflich ein Paar. Er fotografiert und sie organisiert als Kuratorin seine Ausstellungen.

Der Autor nimmt sich viel Zeit, um Jokums Entwicklung und Karriere, die ihn und seine Frau von Oslo nach San Francisco führen, auszurollen. Mit viel Empathie und nuancenreich schildert er die Gedankengänge eines Künstlers, der in der Öffentlichkeit unbeholfen wirkt, an sich zweifelt und trotz seines Erfolgs selten richtig glücklich ist. Manchmal kam er mir so heimatlos vor wie die Gegenstände, die er fotografiert. Nur in einer Sache ist er sich hundertprozentig sicher: der Liebe zu seiner Frau.

Christensen macht nicht nur die Kunst und Literatur zum Hauptthema seines Romans, sondern überrascht mit stilistischen Kunstgriffen, indem er den Autor als Figur einbaut. Dieser drängt sich dann mitten im Geschehen ganz plötzlich in den Vordergrund und kommentiert seine Geschichte und Erzählweise. Wie in seinen vergangenen Romanen lässt Christensen immer wieder seinen trockenen Humor aufblitzen und ist sprachlich so gewandt, dass die Lektüre von 960 Seiten erstaunlich kurzweilig ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2018
Köhlmeier, Michael; Dragnic, Natasa; Hohler, Franz; Helfer, Monika; Leeb, Root

Sehnsucht


ausgezeichnet

Stimmt es, dass wir uns immer das wünschen, was wir gerade nicht haben? Bestimmt die Sehnsucht unser Leben? Sechs Autorinnen und Autoren sind in diesem Band dieser Frage nachgegangen und haben sich zu mehreren Kurzgeschichten inspirieren lassen. Sie sind mal heiter, mal dramatisch, mal mystisch und düster. Dabei zeigt sich, in welch unterschiedlicher Art und Intensität die Sehnsucht uns befällt.

Das Verlangen nach einem Menschen hat sicher jeder schon erlebt. Doch was macht man, wenn es so destruktive Ausmaße annimmt wie in der Erzählung "Wie ultramarin" von Root Leeb? Ein Augenarzt verzehrt sich förmlich nach einer Patientin, die er nur flüchtig kennt. Für ihn ist die Anziehungskraft unerklärlich und dennoch bringt sie seinen Alltag völlig durcheinander. Die anfangs bittersüße Sehnsucht zwischen zwei Liebenden kann sich mit der Zeit auch in etwas Grausames und Boshaftes verwandeln, wie eine weitere Geschichte der Autorin zeigt. Ihr Vergleich mit zwei Marionetten, die von einer fremden Kraft mal zueinander angezogen, dann wieder voneinander abgestoßen werden, fand ich sehr treffend.

Die Sehnsucht wird in den Geschichten auf ganz unterschiedliche Weise ausgelöst – mal durch ein vorgetragenes Gedicht der Tochter, mal durch den plötzlichen Tod der Mutter. Die Figuren führen uns vor Augen, dass wir uns entweder vergangene Zeiten herbeisehnen und verpassten Chancen nachtrauern oder uns an eine fixe Idee klammern und den Plan kompromisslos durchziehen.

Doch welchen Preis zahlt man, um seine Sehnsucht zu befriedigen? Der Direktor einer Krankenkasse nimmt höchste körperliche Strapazen in Kauf, wenn das Spitzchen ruft. Er hat sich den Aufstieg des Walliser Weißhorns nun mal in den Kopf gesetzt, da führt kein Weg dran vorbei. Ganz zu schweigen von den seelischen Nöten, an denen so manche Figur zugrunde geht. Autor und Herausgeber Rafik Schami hat in diesem Büchlein lauter literarische Perlen versammelt, die die Sehnsucht wecken nach mehr.

Bewertung vom 21.03.2018
Wingate, Lisa

Libellenschwestern


ausgezeichnet

Familiengeheimnisse, die ans Tageslicht kommen, bieten immer wieder spannenden Stoff für einen Roman. Das ist auch in diesem Buch von Lisa Wingate nicht anders – mit dem Unterschied, dass diese Geschichte auf wahren und erschütternden Begebenheiten beruht.

Als die Ich-Erzählerin Avery Stafford eines Tages in einem Altenheim der über 90-jährigen May Crandall begegnet, ahnt sie noch nicht, dass sie ihr Leben verändern wird. May hat Averys Libellenarmband, ein Familienerbstück, wiedererkannt, doch noch kann Avery die fremde Dame nicht einordnen. So beginnt eine dramatische Spurensuche, die der Protagonistin nicht nur Klarheit über ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft verschaffen wird.

Parallel wird aus Sicht des zwölfjährigen Mädchens Rill Foss erzählt, wie sie und ihre Geschwister 1939 auf dramatische Weise ihrer Familie entrissen und in das Waisenhaus Tennessee Children’s Home Society entführt werden. Der grausame Alltag dort geht einem so nahe, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Besonders mit Rill, die zwischen Mutlosigkeit und Entschlossenheit schwankt, einerseits helfen, andererseits weglaufen möchte, leidet man fiebernd mit. Man kann sich kaum vorstellen, dass intakte Familien von Menschen wie der Kinderheimleiterin Georgia Tann aus Profitgier auseinander gerissen wurden.

Beide Zeitebenen bewegen sich immer rasanter aufeinander zu und erzeugen so eine ungeheure Spannung. Dabei gelingt es der Autorin, sowohl für die erwachsene Avery als auch die junge Rill einen authentischen Sprachstil zu finden. Zugleich bekommt man einen Einblick in die Thematik aus verschiedenen Perspektiven: aus Sicht der betroffenen Kinder, der Mitarbeiter eines Kinderheims, aber auch der neuen hoffnungsfrohen Eltern. Es geht um Familienzusammenhalt, starke Geschwisterliebe und den Umgang mit dem Älterwerden. All das hat Lisa Wingate in einen Schicksalsroman verpackt, der meine Erwartungen übertroffen hat.

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