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LichtundSchatten

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Insgesamt 299 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2018
Feindliche Übernahme
Sarrazin, Thilo

Feindliche Übernahme


ausgezeichnet

„A city divided by religion is either already in ruins or close to it.“ (Giambattista Vico)


Kein Buch in der Geschichte Deutschlands hat vor dem Erscheinen jemals so viele Statements und Diffamierungen erzeugt, ohne dass einige Kritiker die Inhalte überhaupt gelesen hatten. Die SPD denkt inzwischen wieder über ein Parteiausschlussverfahren von Thilo Sarrazin (TS) nach und verkennt, wie notwendig heute wie damals eine harte, sachliche Religionskritik ist.

Abbé Meslier hat mit seinem, erst nach dem Tod erschienenen Werk die christlichen Amts-Kirchen scharf kritisiert und mit dazu beigetragen, dass die europäische Aufklärung ihren Siegeszug antrat und wir heute die Segnungen von Skepsis, Nachdenken, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Wissenschaft, Kritik und Fortschritt ernten können. Das Testament des Abbé Meslier: Die Grundschrift der modernen Religionskritik

Das Christentum hat nach dieser harschen Kritik nicht verloren, sondern die echten Aussagen von Jesus wiederentdeckt. Dabei wurden seine Worte im Grunde "neu belichtet" und als Basis für den Humanismus weiterentwickelt.

Die Aussage von Jesus „„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21), war eine Vorwegnahme bzw. Ermöglichung der Säkularisierung, mithin eine Machtbeschneidung der Kirchen und heute ist diese Religion im privaten Bereich gut aufgehoben bzw. hat eine breite, humanistisch geprägte Interpretationsfläche der Liebe zu sich selbst und den Nächsten, in Toleranz, so wie das Jesus gemeint hatte. Die Ausbreitung der christlichen Religion basierte im Wesentlichen auch auf der Gleichstellung von Frau und Mann, die von Jesus bzw. seinen Nachfolgern zum Kernbestandteil des Glaubens erhoben wurde.

Was sagt nun Thilo Sarrazin? Erst wenn es dem Islam gelingt, einen toleranten, multikulturellen Weg zu gehen, und den Frauen Gleichberechtigung zubilligt, könnte er in der heutigen Zeit ankommen und sich im jüdisch-christlichen Umfeld integrieren, wo er bislang aber wenig Entgegenkommen zeigte. Kulturelle Inkompatibilitäten in allen Bereichen, durch die Scharia eingeschränkte Menschenrechte, Pflicht zum Jihad usw.: Thilo Sarrazin beschreibt die festgefügten Hinderungsgründe dieser Religion, eine kollektive Bewegung zur Begrenzung von Modernität und Fortschritt, vor allem aber ein Instrument zur Herrschaft der Männer über die Frauen, das Gegenteil von jener Gleichberechtigung, die Jesus als Zeichen der Göttlichkeit erkannt hatte. Der Islam muss heute vor allem aus säkularen Perspektiven kritisiert werden, so die Quintessenz von TS, die Kirchen trügen dazu leider aus falsch verstandener Nächstenliebe nicht in ausreichendem Maße bei.

Wer heute schon erkennen will, was geschieht, wenn der Islam zur Mehrheit kommt, erfährt bei TS sprachlos Machendes, jeder blicke einfach in die Länder, wo dies jetzt schon der Fall ist. Gibt es dort Religionsfreiheit, Fortschritt, Gleichberechtigung und multikulturelle Pluralität? Wieviele Kirchen dürfen in der Türkei oder Saudi-Arabien gebaut werden? Diese Fragen kann jeder relativ leicht durch einfache Suchen im Internet für sich selbst beantworten oder die detaillierten Analysen von TS lesen.

Ob der Islam im Heute des modernen Europa ankommen kann, abseits seiner Herrscher und Könige, die in Saus und Braus leben, das ist die Frage, die Thilo Sarrazin beantwortet. Welche nahezu genhafte, abgeschlossene kulturelle Mentalität treibt Muslime um, wie intensiv sind sie fixiert auf die Inhalte ihrer Grundlagenwerke, welche Aktivitäten sind ihnen heilig? Darum und um die langfristige Konzeption des Islam geht es. TS’s Argumente sind stichhaltig und perfekt analysiert, verständlich lesbar und in den geforderten Aktionen logisch umrissen, ein Programm, das durch nichts weniger als mit verantwortungsethischer Vernunft begründet ist.

47 von 51 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2018
Ihr Scheinheiligen!
Sarica, Tuba

Ihr Scheinheiligen!


ausgezeichnet

Ein schockierendes, wichtiges Buch.

Man ist schockiert nach dem Lesen dieses Buches einer jungen Türkin, die der Mehrheit ihrer türkischstämmigen Mitbürger gelebte Doppelmoral und Schein-Integration vorwirft.

Tatsächlich würde eine Mehrheit ihrer türkischstämmigen Landsleute die deutsche Kultur ablehnen und sich nicht integrieren wollen.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2018
Die erstaunliche Wahrheit über Tiere
Cooke, Lucy

Die erstaunliche Wahrheit über Tiere


ausgezeichnet

➔ Spannend von der ersten bis zur letzten Seite. ⬅︎

Wussten Sie wie die meist diagnostizierte Krankheit bei Frauen im 19. Jahrhundert hieß? Und was häufig dagegen verschrieben wurde? Nun, die Krankheit nannte sich Hysterie und ein Riech-Sekret aus dem Hoden und den Ausscheidungen des Bibers versprach Heilung. Einfach unglaublich, wenn man die Geschichte des Bibers nachliest und jener wissenschaftlichen Vollpfosten, die sich an seiner Entdeckung abarbeiteten. Ganze Bücher wurden gefüllt mit Nonsens und Vermutungen, die zudem noch kirchlich verbrämt waren.

Ich dachte eigentlich nicht, dass mich ein derartiges Buch fesseln könnte. Tat es aber, und wie! Wir nähern uns den religiös weltanschaulich verdummten Zuständen des Mittelalters und seinen Vermutungen über Tiere. Dabei werden die Ergebnisse bis heute erklärt und lassen die anderen Geschöpfe Gottes als etwas auferstehen, das uns viel zu lange völlig fremd blieb bzw. „menschelnd“ erklärt wurde. An einigen Passagen muss man mehrmals zurücklesen, um das soeben Geschilderte zu begreifen und jene Autoren, die nichts anderes taten als einmal gefundene Dummheiten fürderhin als Wahrheit zu verkaufen. Man schrieb fleißig ab und zu.

Wo steht eigentlich das Denkmal der Schande, das wir für Tiere errichten müssten, um alle Schuld ihnen gegenüber einzugestehen? Dies ist möglicherweise auch einer Bibel geschuldet, die verlangte, das wir Tiere untertan machen und über sie herrschen. Natürlich auch auf die menschliche Jagdnotwendigkeit zurückzuführen, die z.B. in Amerika dazu führte, dass dort Faultiere ausstarben. Tatsächlich waren Menschen im Mittelalter Faultiere des Geistes, denn sie haben eines der intelligentesten Tiere, die Faultiere, auf eine Ebene nach unten durchgereicht, für die es keine Worte mehr gibt. Diese Tiere wurde so bewertet, als ob man uns Menschen unter Wasser beurteilt hätte.

Immerhin haben Faultiere seit ca. 64 Mio Jahren den Säbelzahntiger und auch das Wollhaarmammut überlebt, in ihrem Habitat sind sie das zahlenmäßig häufigste, große Säugetier, eine Art echter Überlebenskünstler. Faultiere sind das Gegenteil von faul oder dumm, sie haben Viele-Kammern-Mägen, verdauen langsamst und haben gelernt, mit wenig Kalorien gut über die Hänge-Runden zu kommen. Sie sind sehr sparsame Tiere und machen das Beste aus allem, was ihnen zur Verfügung steht, Minimalisten mithin und möglicherweise eine echtes Vorbild für zurück-wachsende Wirtschaftskreisläufe. Dies betrifft insbesondere auch die Heilung von Krankheiten, die bei Faultieren besonders ausgeprägt bzw. wirksam ist, eine Tatsache, die bis heute noch nicht wirklich wissenschaftlich auf die Ursachen nachgewiesen ist.

Spannend von der ersten bis zur letzten Seite, eines meiner Bücher des Jahres.

Bewertung vom 07.08.2018
Der tägliche Stoiker - Das Tagebuch
Holiday, Ryan;Hanselman, Stephen

Der tägliche Stoiker - Das Tagebuch


ausgezeichnet

Ein Turbo zur Stärkung des stoischen Willens.

Seneca, Epiktet und Mark Aurel sind die Hauptvertreter der Stoiker, ein Name, der auf eine Säulenhalle des Marktplatzes von Athen zurückgeht, in der Zenon von Kition um 300 v. Chr. gelehrt hat. Ganzheitliche Welterfassung auf ein in allen natürlichen Zusammenhängen waltendes universelles Prinzip, danach wird gesucht und emotionale Selbstbeherrschung, Ruhe, Gelassenheit, Weisheit, Ausgleich sind bestimmende Faktoren. Um das zu erlernen, benötigt man die Disziplinen der Wahrnehmung, des Handelns und vor allem des Willens.

Dieses Buch mit Frei-Linien für eigene Gedanken hat in der 31. Woche die Überschrift: Eine Woche ohne Klagen. Inhalt: Auf Schuldzuweisungen sollte man verzichten wie darauf sich zu beschweren. Es ist verschwendete Lebenszeit mit Fingern auf andere zu zeigen, man übernimmt stattdessen Verantwortung, klaglos, gibt sich selbst oder niemandem die Schuld. Pro Woche einige Zitate zur Einleitung auf einer Seite: sie schenken dem eigenen Willen jenen Turbo, der immer notwendig ist, um stoisch auf Dinge von außen zu reagieren. Jeder Tag hat Freiraum für Gedanken am Morgen und Gedanken am Abend, eingeleitet wird jeder Tag mit einer relevanten Lebens-Frage, z.B. „Vernachlässige ich für meinen Beruf das Privatleben?“

Was steht in meiner Macht und was nicht, so die wesentliche Grundlage allen Denkens der Stoiker. Ein Ausgangspunkt, den man leicht in den Alltag übertragen kann. Es bringt z.B. gar nichts, Flughafenmitarbeiter für Verspätungen zu beschimpfen, im notwendigen Warten aber jene Ruhe und Zeit zu erkennen, die man gerade jetzt benötigt, um neue Ideen zu entwickeln oder einfach ruhig zu werden, das ist Stoizismus. Hesse sagt es so: Wir sind um so stärker, je mehr wir das Leben anerkennen, dem mehr wir im Innersten mit dem einig sind, was uns von außen geschieht. Früher hätte ich mich z.B. über ein langsam fahrendes Auto vor mir geärgert, heute fahre ich in solchen Fällen noch langsamer, bleibe sogar oft kurz stehen. Probieren Sie es aus, die Wirkung, nicht nur auf sie, sie ist verblüffend. Stoische Ruhe, welche Erholung!

Ein außergewöhnlich durchdachtes, willens-stärkendes, nachdenkliches, kreatives Buch, meine tägliche Denk- und Schreibunterlage!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2018
Chinas neue Seidenstraße: Kooperation statt Isolation - Der Rollentausch im Welthandel (eBook, ePUB)
Hartmann, Wolf D.; Maennig, Wolfgang; Wang, Run

Chinas neue Seidenstraße: Kooperation statt Isolation - Der Rollentausch im Welthandel (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt." (Egon Bahr) Auch wenn diese Aussage heute weitgehend im deutschen Blätterwald verloren ging, und Deutschland die Welt zu retten hat, trifft sie nach wie vor zu. Und vor allem kennzeichnet sie das Bestreben von China. Die Kopierphase scheint vorbei und tatsächlich investiert man in diesen Jahren umfassend in Grundlagenforschung, Bildung und Technologie. Dass Amerika inzwischen sich selbst an erste Stelle setzt, war u.a. ein Ergebnis billiger chinesischer Produkte, die inzwischen auch kleinste Nischenideen liefern und geradezu Angst machen vor der Kleinteilisierung des Alltags.

Dieses Buch vermittelt die Anstrengungen Chinas der letzten Jahre in einem detailreichen, umfassenden Ansatz, ohne meinungsmachende Inhalte. Denken muss jeder selbst nach dieser Fülle an Einsichten, die gut recherchiert den Status quo spiegeln. Die Seidenstraße ist natürlich nur ein symbolischer Vergleich zu der Vorgängerin für die Wege zwischen Ost und West. Heute setzt China auf alle Transportwege, zu Wasser, der Luft, Schiene und der Straße. Vor kurzem wurden z.B. 51% Anteile am Hafen Piräus in Griechenland erworben. Die EU hatte bei der Rettung Griechenlands zur Bedingung gemacht, dass Staatsbetriebe zu privatisieren seien. Ein merkwürdiger Lauf der Geschichte, dass dann die kommunistische Partei Chinas hier eine Lücke füllt und das Containergeschäft Richtung West hauptsächlich über diesen Hafen abwickelt.

91% der Chinesen denken über das Unternehmertum positiv (71% weltweit) und vor allem das mobile Internet wird mit unzähligen Startups massiv unterstützt. In Shenzhen hat sich jeder Sechste an einem Startup beteiligt. Wenn allerdings viel zu viel Geschäfte über eigene, chinesische Plattformen abgewickelt wird, so muss man Trump Recht geben. China hat bislang nach Westen hin plagiiert und profitiert. Will es eine glaubwürdige, echte, partnerschaftliche Rolle spielen, dann muss man sich den freien Märkten im Wesen viel weiter öffnen und auch stärker Menschenrechte berücksichtigen. Ob das alles eintritt, man darf gespannt sein.

Wer noch nicht viel über China gelesen hat oder nur an der Oberfläche aktiv war, wird mit diesem Buch schockiert sein. Die Maßnahmen des Kommunismus sind längst keine mehr, sondern knallharte kapitalistische Strategien. Gib dem Chinesen eine Stück Land und er beerdigt als erstes die Ideen des Kommunismus, so könnte man heute feststellen - und er entdeckt die Lust an Innovation, Technik und Profit. Dabei werden auch Umweltgesichtspunkte immer wichtiger, alleine die dramatische Geschwindigkeit des Wachstums hat in Städten zu Atemnot geführt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Privates Unternehmertum ist der Motor des chinesischen Booms. 2013 gab es in China 2,8 Mio US Dollar-Millionäre und 200 US Dollar-Milliardäre, der Grund dafür, dass in China einer der größten Luxusmärkte entstanden ist. Mit Reichtum umzugehen ist noch nicht wirklich verstanden in China, diese Zielgruppe handelt reichlich ungeduldig und bizarr. Man darf dabei nicht übersehen, dass 70 bis 80 Mio Menschen immer noch unterhalb der Armutsgrenze leben, ein Zustand, der aber konsequent von der Regierung angegangen und aufgelöst werden soll.

Bewertung vom 07.08.2018
Die Marken-Macher: Wie die deutsche Werbebranche erwachsen wurde (eBook, ePUB)
Nöcker, Ralf

Die Marken-Macher: Wie die deutsche Werbebranche erwachsen wurde (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ich war Teil dieser Industrie und habe sie umfassend über alle Ebenen kennengelernt. BWL umschreibt man heute oft als die Lehre vom banalen Alltag und ebenso war und ist die darin steckende Branche der Werber gestrickt. Man findet wenig Intellektualität, stattdessen aber jene banalen Gags, die Werber in Cannes aufregen, den Menschen aber weitgehend kalt lassen.

Wer erfahren will, wie hemdsärmelig und amerikanisch die deutsche Werbung gestrickt wurde, ist mit diesem wirklich lesenswerten Buch bestens bedient. Vor allem das Konzept, wichtige Stimmen in einer Art Interview sprechen zu lassen, hat mir sehr gefallen, wir wandern so von den Fünfzigern durch alle Jahrzehnte bis ins Heute.

Kein Ruhmesblatt für deutsche Werber ist die Zeit von 33-45. Alle Agenturen mussten Mitglied der „Nationalsozialistischen Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute“ sein, die Kommunikation für Produkte kam aber im Krieg praktisch zum Erliegen, bis die Werbewirtschaft im September 1944 per Erlass komplett stillgelegt wurde.

Auch heute sind Werber Erfüllungsgehilfen für andere, sie arbeiten für Hersteller / Händler von Produkten oder Dienstleistungen. Sie liefern besonders kreative Tricks in der „Anzapfung“ menschlicher Emotionen, mit dem Ziel Käufe auszulösen. Wie es funktioniert? Nun, keine wissenschaftliche Theorie hat jemals schlüssige Erkenntnisse offen gelegt, ein weites Feld für kreative Geister des banalen Alltags, die meinen den Menschen zu verstehen, um ihm angst- oder neidvoll Kaufnotwendigkeiten zu suggerieren.

Im Buch kommt eine wesentliche Nahtstelle einer Werbeagentur nur am Rande zu Wort: es sind die Berater oder wie man ihn schlicht nannte, der Kontakt. Seine Aufgabe war es, auch idiotische Ideen von Kreativen wissenschaftlich verpackt, also nach neuesten Erkenntnissen der BWL-Einsichten, vor Ort, beim Kunden zu verkaufen. Er/sie standen zwischen diesen beiden Fronten und erhielten Sperrfeuer oft von beiden: dem Kunden und den eigenen Kreativen. Zwischen beiden Abteilungen gab es oft eine eher hassbesetzte, tiefe Abneigung. Berater waren meist studierte BWLer und Texter kamen z.B. von den St. Pauli Nachrichten, Gespräche zwischen beiden waren oft mehr als Comedy.

Wenn Michael Conrad von den versteckten Einsichten in menschliches Verhalten spricht, so zeigt er das ganze Dilemma auf. Er meint damit seine eigenen großartigen Ideen (die er zweifelsfrei hatte), die Menschen packen und überzeugen sollten. Sie waren meist individuelle Eingebungen und eben nicht durch irgendwelche wissenschaftlichen Eingebungen vorgezeichnet. Wie auch? Trotzdem wollten Kunden immer Absicherungen hören, natürlich wissenschaftlich. Ich erinnere mich z.B. an Hersteller bedeutender Weltmarken, die damals einem heute weitgehend vernachlässigbaren Professor folgten: Werner Kroeber-Riel. Jede Idee konnte man problemlos diesem Denker zuordnen und der Kunde war zufrieden. Noch einen Pre-Test vorschießen, richtiges Framing oder Wording und gut war’s.

Zum Schluss etwas zum Genießen, ein Bekenntnis, bei dem der Laie staunt und der Profi sich wundert: „Alle reden über Marken, keiner weiß, wie sie funktioniert. Und selbst wenn sie es wissen, können sie es nicht umsetzen. Ich habe eine Markenführungssystem entwickelt, bin aber leider zu faul, das ordentlich zu vermarkten. Markenführung hat vor allem mit Bauchgefühl und Bildern in den Köpfen zu tun.“ (Reinhard Springer, Seite 138)

Nun, bleibt zu hoffen, dass ein digitales Startup Reinhard Springer besucht und seinen Bauch verbal erhellt und diese Regeln endlich allen zugänglich macht. Alles, was man in der Werbung lernen kann, ist, dass es diese nicht gibt. Sie sind nur Krücken für kreativ Lahme. Und genau das macht das Arbeiten in Agenturen so spannend und interessant, für nahezu jeden! Wichtig ist vor allem, ein maximales Ego zu haben, überraschenden Witz und sich durch die unvermeidlichen Niederlagen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Bewertung vom 07.08.2018
Giambattisto Vico
König, Peter

Giambattisto Vico


ausgezeichnet

Irgendwann landet man bei Giambattista Vico und diesem Satz:
„A city divided by religion is either already in ruins or close to it.“

Selbst aus einer (armen) Buchhändlerfamilie stammend, musste er später Hab und Gut verkaufen, um den Druck seiner Werke bezahlen zu können. Giambattista Vico starb 1744 in Neapel so verkannt wie er sich zeitlebens fühlte, seine universitären Anhänger vermochten sich nicht auf ein Beerdigunsprocedere einigen, die Familie musste den Sarg wieder zurücknehmen und Vico auf eigene Kosten am nächsten Tag unter die Erde bringen. Trotz aller Widerstände (und gerade deshalb) vollbrachte er eine herausragende intellektuelle Leistung: die Begründung einer „Neuen Wissenschaft“, das Konzept der „Scienza Nuova“, wie das Werk auf Italienisch heißt. Es ist eine weit gefasste Geschichts- und Kulturtheorie vom Aufstieg und Fall von Kulturen.

Das ungewöhnliche Leben von Vico wird in diesem Buch spannend und nachvollziehbar aufgefächert, es ist eine perfekte Vorbereitung zum Lesen seines Hauptwerkes, an dem er unter großen persönlichen Opfern bis zum Schluss schrieb: Die Neue Wissenschaft.

Vico beschreibt den immer wiederkehrenden, gleichbleibenden Aufstieg und Fall (Zyklen der Barbaren) von Gesellschaften/Kulturen:
„Menschen spüren zuerst die Notwendigkeit, suchen dann den Nutzen, kümmern sich dann um die Bequemlichkeit, amüsieren sich später noch gerne, werden schließlich im Luxus aufgelöst und so verrückt, ihre eigene Existenz gedankenlos wegzuwerfen.“

Bewertung vom 07.11.2016
Überall ist Mittelalter
Fuhrmann, Horst

Überall ist Mittelalter


ausgezeichnet

„Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein.“ (Jacob Burckhardt),

Wir nehmen gerne das Wort „Zustände wie im Mittelalter“ in den Mund und suggerieren uns selbst damit, alles sei weit hinter uns, irgendwie überwunden. Für uns selbst, die wir schlechte Zustände anderer anprangern wollen. Ist es aber nicht. Keinesfalls. Mit diesem Buch tauchen wir tief ein in die Gewohnheiten und Sachlagen des Mittelalters, die Einstellungen und Lebensweisen, die Kriege und Schlachten, seien diese verbaler oder echter, tötender Natur. Wir lernen die Lesarten und Interpretationen kennen, die sich in dem Fach Geschichte äußern und oft auch zerreißen. Geschichte ist vor allem auch das Erzählen von fiktiven Geschichten, die Narration hat unzählige Spielarten, von denen die jeweilige Wirklichkeit abzugrenzen ist.

Die Annäherung an das Mittelalter, unsere direkte Vorzeit, gelingt mit diesem umfassenden Buch hervorragend und sehr ausführlich, es ist in 4 Kapitel gegliedert:

Gegenwärtigkeiten (Begrüßungsrituale, Haus und Garten, Fälschungen)

Rückerinnerungen (Deutsches Ärgernis, Barbarossa, Quedlinburg)

Abwendungen (Zinsverbot, Pfarrersfrau, Verdienste, Tod)

Verwertungen und Verwerfungen (Umberto Eco, Kammeier, Kantorowicz)

Philipp Melanchthon aus Bretten, die intellektuelle rechte Hand von Martin Luther, hatte in seinem Haus in Wittenberg jene Ökonomie aufgebaut, die so typisch ist für das Mittelalter. Der Garten hinter dem Haus war Grundlage zum Überleben für die Familie und auch Studenten, die damals selbstverständlich mit der Familie Melanchtons unter einem Dach lebten. Die Frau war nicht nur die treue Ehefrau und Kindererzieherin, sondern auch jene, die für das tägliche Essen zu sorgen hatte. Das ging am schnellsten und billigsten mit einem eigenen Garten. Noch immer bin ich beeindruckt von diesem Garten hinter dem Melanchthonhaus, heute ein wunderschönes Museum mit Kräterbeeten. Der Gelehrte des Mittelalters hing am Tropf einer einzigen Bedingung: der christlich religiösen. „Im Früh- und bis weit in das Hochmittelalter hinein war es meist ein Kirchenamt, das den Gelehrten ernährte, denn Bildung und Wissenschaft lagen in den Händen der Geistlichkeit.“

„Wer hat denn die Deutschen zu Richtern über die Völker bestellt?“ Mit dieser Anklage des Johann von Salisbury (1115-1180) wird vieles deutlich, das man möglicherweise in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen will. Sie gipfeln auch in einer Aussage von Bismarck im Reichstag: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.“ Es steht heute außer Frage, das Mittelalter liebte die Deutschen nicht, es baute sich mit dem näheren Kennenlernen eine Erbfeindschaft zwischen Franzosen und Deutschen auf, die Goethe im Faust in die Worte goss: „Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden.“ Die gegenseitigen Beschimpfungen machen ein ganzes Lexikon aus und umso höher ist die Leistung von de Gaulle und Adenauer zu werten, die diese Gegnerschaft in Freundschaft umpolten. Wirklich? Muss man allerdings fragen. Sind Vorurteile, Stereotype so schnell abbaubar und verschafft sich ein rechthaberischer, andere dominieren wollender Geist vielleicht doch immer wieder die Oberhand, in Verkleidung anderer Verhaltensweisen, die von einer tiefen Überzeugung für die eigene Wahrheit ausgeht?

Man muss dieses Buch nicht in einem durchlesen, es hat faszinierende Kapitel, durchaus wissenschaftlich geschrieben, aber immer erhellend und auf das Wesentliche verweisend, vom profanen Alltag hin zu höchsten metaphysischen, komplexen Sphären.