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Havers
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Top100-Rezensent und Buchflüsterer

Bewertungen

Insgesamt 84 Bewertungen
Bewertung vom 27.02.2024
Skalpjagd
Buchholz, Frauke

Skalpjagd


sehr gut

In Frauke Buchholz‘ „Skalpjagd“ schauen wir einmal mehr Ted Garner, Profiler bei der Royal Canadian Mountain Police, über die Schulter, der sich diesmal (nach Quebec und Alberta) anlässlich eines Kongresses in der Gegend rund um Vancouver aufhält. Geplagt von Zweifeln, ob jetzt nicht die Zeit gekommen ist, den Polizeidienst an den Nagel zu hängen und sich mit einer Praxis als Psychotherapeut selbständig zu machen, zeigt er sich für den Vorschlag einer Teilnehmerin offen, sie zu einer mehr als gewagten Zeremonie der Ureinwohner zu begleiten, bei der er durch den Einsatz des halluzinogenen Peyote-Kaktus neue Erkenntnisse über sich und die Welt gewinnen soll.

Natürlich geht dieser Trip gründlich in die Hose, denn als er mit einem blutbeschmierten Messer neben seiner toten Bekannten aufwacht, ist er schockiert und verstört. Hat er sie etwa getötet? Das gilt es herauszufinden. Vielleicht kann ihm dabei derjenige helfen, der die Zeremonie durchgeführt hat. Und so macht er sich auf die Suche nach Sun Dog, immer bemüht, unter dem Radar zu bleiben und unter keinen Umständen ins Visier der beiden ermittelnden Polizisten Frank Lombardi und Nora Jackson zu geraten.

Wie bereits in den beiden Vorgängern („Frostmond“ und „Blutrodeo“) taucht die Autorin tief in die Kulturhistorie ein und richtet hier unter anderem ihren Blick auf die Ursprünge/Herkunft des Skalpierens, die zwar den Indigenen zugeschrieben wird, was aber bei Wissenschaftlern nicht unumstritten ist.

Neben diesem Ausflug in die Historie vergisst sie aber nicht, einen kritisch entlarvenden Blick auf die gegenwärtigen Lebensumstände dieser an den Rand gedrängten und in Reservate verfrachteten kanadischen Bevölkerungsgruppe zu werfen und sensibilisiert ihre Leser/Leserinnen einmal mehr für diese Thematik.

Die Auflösung des Kriminalfalls, in dem auch ein Kriegsveteran und dessen Flashbacks eine wesentliche Rolle spielen, konnte mich leider nicht überzeugen, da sie für mein Dafürhalten zu banal und vorhersehbar war. Außerdem hätte ich mir auch ein Nachwort gewünscht, das noch einmal explizit auf die im Text verarbeiteten historischen Fakten eingeht, eventuell auch mit Literaturliste.

Dennoch empfehle ich nicht nur „Skalpjagd“ sondern auch die beiden Vorgänger all denen, die an den Lebensbedingungen der First Nation/Indigenen in Kanada interessiert sind und sich einen ersten Einblick verschaffen wollen. Ein Thema, das leider in den Medien viel zu wenig präsent ist und mehr Aufmerksamkeit verdient.

Bewertung vom 25.02.2024
Der Stich der Biene
Murray, Paul

Der Stich der Biene


sehr gut

Der irische Autor Paul Murray wird gerne mit Jonathan Franzen, dem Meister des amerikanischen Familienromans, verglichen. Im Großen und Ganzen kann man dieser Aussage zustimmen, aber Murrays Tonfall ist wesentlich sarkastischer und die Probleme, die er seinen Protagonisten mit auf den Weg gibt, sind um ein Vielfaches herausfordernder als bei Franzen. Und ja, dabei überspannt er manchmal auch den Bogen, vor allem dann, wenn er in den individuellen Biografien wühlt und Verborgenes an die Oberfläche zerrt.

2008, die Zähne des keltischen Tigers sind stumpf, die Finanzkrise hat Irland im Griff und zerstört Existenzen. Auch die Familie des Autohändlers Dickie Barnes ist betroffen, aber anstatt sich an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, entwickelt jede/r einzelne von ihnen eine individuelle Art, um mit dieser geänderten Situation umzugehen. Dickie steckt den Kopf in den Sand und bereitet sich lieber auf den Weltuntergang vor als sich den Problemen zu stellen, seine Frau Imelda ist da zumindest schon etwas pragmatischer und versucht durch den Verkauf ihres Schmucks Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Cassie, die Tochter, trinkt sich die Lage schön, Sohn PJ verkriecht sich in Videospielen und will nur noch abhauen. Jede/r kämpft mit seinen eigenen Dämonen, angelegt in der Vergangenheit und in inneren Monologen und alternierenden Kapiteln etwas zu ausführlich dargestellt. Aber auch wenn das gegenwärtige Leben noch so deprimierend erscheint, gibt es doch immer wieder ein kurzes Aufblitzen von Hoffnung, von dem, was möglich scheint, um der scheinbar aussichtslosen Situation eine Wendung zu geben.

Ist „Der Stich der Biene“ mit seinen 700 Seiten ein typischer Familienroman? Nein, das ist kein Schmöker und keine Feelgood-Lektüre, denn dafür ist der Stil zu herausfordernd und die Bandbreite der behandelten Themen viel zu groß: familiäre Beziehungen, Lebenslügen und Geheimnisse, gesellschaftlicher Aufstieg und die damit einhergehenden Probleme, die gesellschaftliche Realität auf der grünen Insel nach dem wirtschaftlichen Abschwung, aber auch der verantwortungslose Umgang mit Ressourcen und Umweltschutz.

Murray hat Spaß am Fabulieren, aber auch wenn das stellenweise ausufert und geschwätzig erscheint, mischt er doch perfekt und entlarvend Tragik und Ironie. Er kriecht in die Köpfe seiner Protagonisten, erzählt deren Geschichten, das Ganze eher assoziativ als linear und verbeugt sich damit vor James Joyce und dessen Erzähltechnik (Stream of Consciousness), indem er sich auf Gedanken des Moments konzentriert. Anstrengend zu lesen, erfordert es Durchhaltevermögen und Konzentration plus die Bereitschaft, sich darauf einzulassen.

Sprachlich auf hohem Niveau und brillant übersetzt von Wolfgang Müller. Chapeau!

Bewertung vom 22.02.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Bei Retellings bin ich grundsätzlich skeptisch, da diese oft nur alter Wein in neuen Schläuchen sind. Aber nachdem Percy Everett spätestens 2022 mit seinem auf der Shortlist des Booker Prize stehenden „Die Bäume“ überzeugen konnte, sollte sein neuer Roman „James“ durchaus einen Blick wert sein. Auch, oder gerade deshalb, weil er hier eine Figur aus Mark Twains Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ins Zentrum stellt, die uns allen bekannt sein dürfte.

Zwei auf der Flucht, eine Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg in ein neues Leben. Der titelgebende James, der entlaufene Sklave, der verkauft und von seiner Familie getrennt werden soll und Huck, der vor den Misshandlungen durch seinen Vater flüchtet. Zusammen auf dem Mississippi gen Norden in Richtung Freiheit unterwegs. Wie im Original eine Reise voller Gefahren. Was allerdings diesen Roman besonders macht, ist die Perspektive, die sich aus dem geänderten Blick ergibt und so die Twain’sche Erzählung auf den Kopf stellt.

Es ist ein Roman über Rassismus und Ungleichheit. Über Vorurteile und die Befreiung davon. Über maskierte schwarze Identität, die es zu verbergen gilt – selbst in einer Gruppe von Black Face Sängern. Über Sprache, die eine Überlebenstaktik darstellt, um den Weißen ihre Überheblichkeit zu bestätigen. Eine dunkle, erschütternde und entlarvende Odyssee, die den Spiegel vorhält. Es ist ein Roman über Rassismus und Ungleichheit. Über Vorurteile und die Befreiung davon. Über maskierte schwarze Identität, die es zu verbergen gilt – selbst in einer Gruppe von Black Face Sängern. Über Sprache, die eine Überlebenstaktik darstellt, um den Weißen ihre Überheblichkeit zu bestätigen. Eine dunkle, erschütternde und entlarvende Odyssee, die den Spiegel vorhält. Eine bitterböse Satire voll mit komischen Momenten, die allerdings dafür sorgen, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Großartig!

Bewertung vom 17.02.2024
Verborgen / Mörderisches Island Bd.3
Ægisdóttir, Eva Björg

Verborgen / Mörderisches Island Bd.3


gut

„Verborgen“, Band 3 der Island-Krimis von Eva Björg Ægisdóttir, konnte im Vergleich mit den beiden Vorgängern meine Erwartungen leider nicht erfüllen. Stellt sich die Frage nach dem Warum.

In den Trümmern eines ausgebrannten Hauses in Akranes, einer Kleinstadt im Westen Islands, wird die verkohlte Leiche eines jungen Mannes gefunden. Ein tragischer Unglücksfall? Zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder steckt mehr dahinter?

Bei der Untersuchung des Brandortes wird schnell klar, dass der Brand vorsätzlich gelegt wurde und Marino, der Tote, kein Zufallsopfer ist. Aber wer könnte ein Interesse an seinem Tod haben?

Es gibt viele Fragen, wenige Anhaltspunkte, keine Antworten, weshalb Kommissarin Elma und ihr Team zur Unterstützung der west-isländischen Kollegen hinzugezogen werden. Je tiefer sie in den Fall eintauchen, desto verworrener stellt sich dieser dar und desto mehr Verdächtige gibt es. Aber eine besondere Spur kristallisiert sich bald heraus, denn es scheint, als gäbe es eine Verbindung zu der überstürzten Abreise des holländischen Au-pair-Mädchens.

Wen wundert es, dass dieses gerne genommene Ausgangsszenario dafür sorgt, dass bei der erfahrenen Krimileserin schon früh sämtliche Alarmglocken läuten? Und das wirkt sich leider ziemlich abträglich auf den Lesegenuss aus.

Ein Kriminalroman lebt von falschen Fährten, überraschenden Erkenntnissen, der einen oder anderen Finte, alles Mittel, die Spannung erzeugen, aber diese will sich - aus Gründen – hier so leider überhaupt nicht einstellen. Eher ist es hier auf Dauer langatmig und ermüdend, wenn immer noch ein/e Verdächtige/r im Laufe der zähen Ermittlungen hinzukommt, noch ein weiteres Könnte-sein-Motiv auftaucht.

Eva Björg Ægisdóttir ist Sozialwissenschaftlerin, und wie wir es von ihr kennen, taucht sie auch hier tief in das Leben der an dem Fall beteiligten Personen ein. Peu à peu entblättert sie so das Psychogramm einer Vorzeigefamilie, die sich nach und nach als höchst dysfunktional entpuppt, was durchaus seinen Reiz haben kann, aber bei mir über weite Strecken das Gefühl erzeugte, eher eine ausführliche Psychostudie als einen spannenden Kriminalroman zu lesen. Schade!

Bewertung vom 13.02.2024
Kopfgeld / Edith - Eine Frau geht ihren Weg Bd.3
Hofmann, Sabine

Kopfgeld / Edith - Eine Frau geht ihren Weg Bd.3


sehr gut

Juni 1948, und überall herrscht hektische Betriebsamkeit, denn ein großes Ereignis, auf das die Menschen hinfiebern, wirft seine Schatten voraus. Der Währungsschnitt ist angekündigt, Grund genug, dass alle, die noch alte Reichsmark im Geldbeutel haben, bemüht sind, diese schnellstens unter die Leute zu bringen, weil sie ihre Gültigkeit verlieren. Das ist aber gar nicht so einfach, denn jede/r, der etwas zu verkaufen hat, hält seine Waren zurück, will am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, mit der neu eingeführten Deutschen Mark Geschäfte machen, um ein Stück von der Umtauschprämie, 40 DM für 40 Reichsmark pro Kopf, zu bekommen.

Vor den Ausgabestellen gibt es am 20. Juni lange Schlangen, unter der Menschenmenge auch Edith Marheinecke, mittlerweile als Journalistin tätig. Sie wurde von ihrem Chef aushilfsweise zum Fotografieren abgestellt, soll die Stimmung mit der Kamera einfangen. Keine leichte Aufgabe, ist das Gedränge doch groß. Eine Situation, die sich auch zwielichtige Gestalten zunutze machen. Unter ihnen nicht nur Taschendiebe sondern auch ein kaltblütiger Mörder…

Natürlich ist der Roman, den man, wie in meinem Fall, ohne Kenntnis der Vorgänger lesen kann, auf die Protagonistin fokussiert, die von ihren männlichen Kollegen in der Redaktion misstrauisch beäugt wird und tagtäglich gegen deren Vorurteile kämpfen muss. Und natürlich bleibt uns auch der Blick auf Ediths Liebesleben nicht erspart, was für den Fortgang der Handlung, die auf den 19. bis 28. Juni festgelegt ist, nicht notwendig gewesen wäre. Die Unterteilung in kurze Kapitel, in denen die Schicksale der Personen vertieft werden, die zum Umfeld des Toten und zum Kreis der Verdächtigen gehören, sorgt für Tempo und hält das Leserinteresse hoch, da die Autorin auch Themen der Zeitgeschichte anspricht, die auch heute noch gerne verdrängt werden, wie beispielsweise das Wegschauen der Nachbarn in der Kristallnacht, die Zwangsverkäufe bzw. Enteignung jüdischer Geschäftsleute, ihre Deportation in die Konzentrationslager, aber auch die Schergen und Mitläufer, die nach Kriegsende einen leichten Klaps auf die Finger bekamen und mittlerweile als angesehenes Mitglied der Gesellschaft wieder fest im Sattel sitzen.

„Trümmerland“, „Totenwinter“ und nun „Kopfgeld“, so die Einzeltitel der historischen Romanreihe, in der wir Edith Marheinecke in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs begleiten. Aber wer hat sich bloß das Marketing-Label / Untertitel „Edith – Eine Frau geht ihren Weg“ für den Verkauf bei den online-Buchhändlern ausgedacht? Nicht gut, zumindest mir drängt sich damit als erste Assoziation „Oh je, ein Lore-Roman“ auf.

Aber das sind diese historischen Romane beileibe nicht, und es wäre schade, wenn man sich davon abschrecken und einen großen Bogen um die Reihe machen würde, die neben jeder Menge gut recherchiertem und anschaulich beschriebenem Zeitkolorit auch noch spannende Kriminalfälle zu bieten hat.

Bewertung vom 11.02.2024
Reykjavík
Jónasson, Ragnar;Jakobsdóttir, Katrín

Reykjavík


gut

Vermisste Personen, ein Thema, das sehr oft Kriminalromanen zugrunde liegt, deren Story sich mit einem Cold Case beschäftigt. Schaut man sich aktuelle Neuerscheinungen an, fällt die Häufung dieser Thematik vor allem in den nordischen Krimis auf. So auch in „Reykjavik“, Co-Produktion des mit seiner Hulda-Trilogie und Dark-Iceland-Reihe erfolgreichen Autors Ragnar Jónasson und der isländischen Premierministerin Katrín Jakobsdóttir, die sich beide dem Erbe Agatha Christies verpflichtet fühlen.

Ausgangspunkt dieses Romans ist das Jahr 1956, in dem Lára Marteinsdóttir, eine Fünfzehnjährige, die einen Sommerjob als Haushaltshilfe bei einem wohlhabenden Ehepaar angenommen hat, überraschend ihre Stelle aufgibt und von da an spurlos verschwunden ist. Ein junger Polizist kümmert sich um den Fall, allerdings mit wenig Erfolg, da offenbar seine Vorgesetzten alles daran setzen, die Ermittlungen zu behindern. Bis 1986 ein Journalist auf diesen Fall aufmerksam wird und zu graben beginnt. Und er wird fündig.

Das ist der Punkt, in der sie Story leidlich interessant wird, weniger wegen des Vermisstenfalls als vielmehr wegen der Einblicke in die isländische Gesellschaft, die zu dieser Zeit nicht nur einige grundlegende Veränderungen durchläuft, sondern auch wegen des großen Interesses der Weltöffentlichkeit, die das bevorstehende Treffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow hervorruft. Aber das reicht auch leider nicht für eine positive Bewertung dieses über weite Strecken langatmigen Buches aus, dessen Auflösung leider enttäuscht, da sie schon nach den ersten Seiten ersichtlich ist.

Netter Versuch, nur leider nicht gelungen. Agatha Christie hätte das mit Sicherheit besser hinbekommen.
2,5 von 5 (aufgerundet auf 3)

Bewertung vom 08.02.2024
Der stille Vogel / Karlstad-Krimi Bd.3
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der stille Vogel / Karlstad-Krimi Bd.3


gut

Mit „Der stille Vogel“ setzen die beiden schwedischen Autoren Peter Mohlin und Peter Nyström ihre Reihe um den ehemaligen FBI-Agenten und gebürtigen Schweden John Adderley fort, der im Zuge des Zeugenschutzprogramms in seine Heimat zurückgekehrt ist. Obwohl dies bereits der dritte Band der Reihe ist, muss man die beiden Vorgänger nicht zwingend gelesen haben, da immer wieder Informationen zu den Ereignissen aus seinem früheren Leben in die Handlung eingebettet sind, beispielsweise warum seine achtjährige Nichte bei ihm lebt.

Der aktuelle Fall hat es in sich. Alles beginnt mit dem Knochen, der aus einem Vogelnest gefallen ist. Dieser zufällige Fund erweckt einen alten Fall wieder zum Leben, da die forensische Analyse auf eine Verbindung mit dem Fall der vor Jahrzenten verschwundenen Brodin-Zwillinge hinweist. Es gab und gibt keinerlei Hinweise auf deren Verbleib, weshalb der Fall als ungelöst zu den Akten gelegt wurde. Doch das könnte sich nun ändern. Zumindest, wenn es nach dem Dafürhalten der Dorfgemeinschaft geht, die von Anfang an den Vater der beiden Buben wegen seines absonderlichen Verhaltens im Visier hatten.

Das ist zwar die Ausgangssituation, aber noch längst nicht alles, denn etwas über 500 Seiten wollen gefüllt werden. Es reicht nicht, dass noch einen Toten gibt. Nein, um diesen Fall gruppieren sich zusätzlich noch mehrere Nebenhandlungen: ein dubioser Heimkehrer, ein Ehepaar mit Problemen, die Schwester des Protagonisten, die etwas zu verbergen hat und nicht zuletzt Adderley selbst, der der Verantwortung für seine Nichte nicht mehr gerecht werden kann.

Zusätzlich dazu gibt es, und das kennen wir ja von den skandinavischen Kriminalromanen, die Verweise auf aktuelle gesellschaftliche Themen wie Drogen, Migranten, Demenz und psychische Erkrankungen. Also jede Menge Stoff, die noch für zwei weitere, dafür aber besser geplottete Krimis, gereicht hätte. Obwohl man der Handlung die Spannung nicht absprechen kann, wirkt diese doch viel zu überladen, durch die Vielzahl der Wendungen im Verlauf höchst unglaubwürdig und durch die gewählte Form der verschiedenen Perspektiven nicht wie aus einem Guss sondern zerfleddert.

Bewertung vom 04.02.2024
Der Kriminalist Bd.1
Sullivan, Tim

Der Kriminalist Bd.1


sehr gut

In die Jahre gekommene Sozialbauten in Bristol, deren marode Garagen von einem Bauunternehmen dem Erdboden gleichgemacht werden. Der schockierende Fund einer in Plastikfolie eingewickelten Leiche, die dabei zum Vorschein kommt.

Ein Fall für DS George Cross, auf Routinen fixierter und akribisch arbeitender Ermittler mit der höchsten Aufklärungsquote bei der Major Crime Unit Somerset und Avon. Brillant im Job und von der Staatsanwaltschaft hoch geschätzt, aber sehr gewöhnungsbedürftig im Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und den Familien der Opfer, was er auch in seinem neuen Fall einmal mehr unter Beweis stellt. Wäre da nicht Josie Ottey, die Kollegin, die am ehesten mit seinem Mangel an Empathie und den Defiziten in der sozialen Interaktion vertraut ist und ab und an regulierend eingreifen muss, damit er seine Gegenüber nicht komplett vor den Kopf stößt.

Die Identität des Toten ist schnell geklärt. Es handelt sich um Alex Paphides, der gemeinsam mit seinem Bruder ein traditionsreiches Familienrestaurant betreibt und in seiner Freizeit ein begeisterter Rennradfahrer mit großen Zukunftsplänen ist. Könnten diese dafür verantwortlich sein, dass er ermordet wurde? Oder hat er sich mit den falschen Leuten eingelassen? Fragen, die es zu beantworten gilt. Unterstützt werden Cros und Ottey bei ihrer Recherche von Alice Mackenzie, einer neuen Kollegin in Ausbildung, die anfangs von Cross‘ pedantischer Art zwar verunsichert ist und sich damit schwer tut, aber nach und nach an Sicherheit gewinnt und wertvolle Hinweise zutage fördert.

Der Fall ist vielschichtig und spannend aufgebaut, könnten doch unterschiedliche Faktoren für den Mord an Alex eine Rolle spielen. Die Beziehungen innerhalb der Familie, eine geplante Geschäftserweiterung und damit einhergehend Verbindungen zu dubiosen Geldgebern, Doping und last but not least eine Schwangerschaft. Alle, inklusive der Leserin, tappen im Dunkeln, bis schließlich Cross mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit die entscheidenden Verbindungen findet.

Einen Großteil der Faszination dieser Reihe macht der Protagonist und sein Verhalten aus. Zum einen ist es natürlich die Logik und die fast schon bewundernswerte Beharrlichkeit, mit der er seine Fälle löst, zum anderen aber auch die Organisation seines Privatlebens. Abweichungen von der Routine sind hierbei nicht vorgesehen. Die regelmäßigen Treffen mit seinem Vater müssen an einem bestimmten Wochentag stattfinden, die Kirchenorgel spielt er nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit etc. Hier verweigert er jeden Kompromiss, der von außen an ihn herangetragen wird. Nein, er ist kein einfacher Zeitgenosse, kann anstrengend sein, aber er ist immer fair im Umgang mit den Mitarbeitern, die ihm nahe stehen. Und ja, das macht ihn trotz (oder wegen) aller Schrulligkeit sehr sympathisch.

Im Original gibt es bereits sechs Bände mit Detective Cross, weshalb ich hoffe, dass die Reihe fortgesetzt wird und wir nicht zu lange auf den dritten Teil warten müssen.

Bewertung vom 31.01.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Ein entlarvender Blick auf das „Land of the Free and Home of the Brave“: In den Appalachen gibt es mittlerweile “zwischen 15 und 35 Prozent Kinder, die nicht von ihren Eltern großgezogen werden, weil sie abhängig, im Knast oder tot sind“, so Barbara Kingsolver in einem Interview im Juli 2023. Kinder ohne Zukunft, die von Geburt an chancenlos sind, von staatlichen Institutionen auf ihrer Reise durch das amerikanische Pflegesystem verwaltet werden. Ihnen gibt Barbara Kingsolver eine Stimme in ihrem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten neuen Meisterwerk „Demon Copperhead“, in dem sie, inspiriert von Charles Dickens‘ David Copperfield, einerseits scharfe Kritik an diesem herzlosen System einer gespaltenen Gesellschaft übt, andererseits aber auch mit den strukturschwachen Appalachen eine Region in den Fokus rückt, deren Bewohner geringschätzig wahlweise als Hinterwäldler oder Hillbillys bezeichnet werden. Auch für diese Menschen und ihre Lebensweise bricht die Autorin eine Lanze, ist sie doch im ländlichen Kentucky an den Ausläufern der Appalachen aufgewachsen.

Demon aka Damon Fields hat keine guten Startbedinungen. Geboren von einer achtzehnjährigen Drogenabhängigen in einem Trailer in Lee County, West Virginia, eine Region, die Schaden genommen hat, durch den Wegzug der Kohleindustrie wirtschaftlich am Boden liegt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, aber die Zahl der Suchtkranken ist um ein Vielfaches höher. Keine Perspektive für niemanden, insbesondere für die Kinder und Juegendlichen. Was allerdings noch immer funktioniert, ist der Zusammenhalt, ein Verdienst der älteren Generation, die ihre Heimat lieben und die alten Werte der Appalachen bewahrt haben. Die sich kümmern und einspringen, wenn sonst niemand mehr da ist. Aber auch das bewahrt Demon nicht vor den schmerzhaften Erfahrungen, die der Elfjährige nach dem Tod seiner Mutter nach einer Überdosis machen muss und auch bei ihm schließlich in die Sucht münden.

Das alles beschreibt Kingsolver in beeindruckender Weise und weckt damit Verständnis für ihre ehemalige Heimat. Aber sie lässt uns auch ihre unbändige Wut über das systemische Versagen der Regierung in allen Bereichen spüren, klagt im gleichen Atemzug die Gier und Rücksichtslosigkeit der Pharmaindustrie an, die skrupellos mit Opioiden ihre Profite auf dem Rücken der Ärmsten macht und ganze Regionen in den Abgrund zieht.

Jetzt schon mein Highlight des Jahres, dem ich viele Leser wünsche!

Nachtrag: Zur Vertiefung des Themas empfehle ich in gedruckter Form „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance und „Dopesick“ von Beth Macy. Beide Bücher auch verfilmt und unter den gleichen Titeln bei Streamingdiensten abrufbar. Ebenfalls einen ungeschönten Eindruck vom Leben im ländlichen Kentucky (hier Harlan County) vermittelt Elmore Leonards „Raylan“, als mehrteilige Minisierie unter dem Titel „Justified“ verfilmt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2024
Seven Days / Eddie Flynn Bd.6
Cavanagh, Steve

Seven Days / Eddie Flynn Bd.6


sehr gut

Steve Cavanaghs „Seven Days“ schließt nahtlos an „Fifty-Fifty“ (Band 5 der Reihe) an, und Eddie hat Verstärkung bekommen. Neben seinem alten Freund Harry unterstützen ihn nun Kate auf der Anwaltsseite und die für heiklen Ermittlungen zuständige Bloch (alle aus den Vorgängern bekannt). Diesmal benötigt Andy Dubois in Buckstown, Alabama, seine Hilfe. Ihn hat der dort ansässige Bezirksstaatsanwalt Randal Korn ins Visier genommen und setzt alles daran, einen Schuldspruch für den jungen Afroamerikaner zu erreichen und sich daran zu ergötzen, wie er auf dem elektrischen Stuhl sein Leben aushaucht. Korn ist kein leichter Gegner, bekannt und berüchtigt dafür, in seinen Prozessen die mit Abstand höchste Quote an Verurteilungen samt nachfolgender Todesstrafe zu erreichen, auch wenn die Beweise eher dünn gesät sind.

Genau der richtige Gegner für Eddie Flynn, auch wenn Alabama aus vielerlei Gründen weit außerhalb seiner Komfortzone und der Einsatz in diesem Fall das Leben eines Unschuldigen ist. Sieben Tage, um zu verhindern, dass das Leben des jungen Afroamerikaners in einem noch immer von Rassengegensätzen geprägten Staat auf Yellow Mama endet.

Es ist zwar klagen auf hohem Niveau, aber ich hatte den Eindruck, dass Cavanagh in diesem sechsten Band der Reihe erstmals schwächelt und das Format leicht abgenutzt daherkommt. Aus den Vorgängern wissen wir, dass Eddie, ganz gleich, wie aussichtslos der Fall erscheint und wie hinterhältig der Gegner auch sein mag, als Sieger aus diesem Duell hervorgehen wird. Stellt sich nur die Frage, welche Mittel und Tricks er auf dem Weg dahin nutzt. Der Prozess ist auf sieben Tage angesetzt, und da sind wir wieder bei dem Handeln unter Zeitdruck, das ein wesentliches Merkmal aller bisherigen Bücher der Reihe ist. Es wäre jetzt wirklich einmal langsam an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Verschiedene Erzählperspektiven sind gut für’s Tempo, aber hier scheinen mir das eindeutig zu viele. Praktisch jede/r bekommt eine eigene Stimme mit entsprechenden Kapiteln und Bezugspunkten. Die Zuordnung macht kein Problem, aber das Gesamtbild zerfleddert und wirkt nicht mehr wie aus einem Guss. Und last but not least, sind die Bösen immer hinterhältig, unsympathisch und/oder gestört. Auch hier gibt es möglicherweise durchaus Änderungspotenzial. Surprise me Mr Cavanagh!

Aber trotz dieser kleinen Mängel ist der Thriller wie erwartet spannend und sehr unterhaltsam. Keine Frage, natürlich werde ich die Reihe weiterlesen. Und da ich nicht auf die Übersetzung warten möchte, habe ich mir vorsichtshalber Band 7 im Original besorgt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.