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manjula

Bewertungen

Insgesamt 32 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


sehr gut

Es gibt keine einfachen Lösungen

Ein autofiktionales Werk. Zora del Buono hat sich auf die Suche nach demjenigen begeben, der wenige Monate nach ihrer Geburt den Autounfall verursacht hat, bei dem ihr Vater starb. Mehr als ein paar unpräzise Ortsangaben und die Initialen des Mannes hat sie zunächst nicht. Mit ihrer Mutter kann sie seit jeher über die Umstände des Todes des Vaters vor 60 Jahren nicht sprechen. Für sie war der Unfall ihres Mannes ein tiefes Trauma. Zudem versinkt sie in den letzten Jahren in der Demenz.

Del Buono stellt sich die Frage, wie der Unfallverursacher mit der Schuld umgeht, wie er sein Leben leben konnte. Unberührt? Oder trägt er an der Verantwortung? Sie beabsichtigt, ihn zu konfrontieren, wenn sie ihn ausfindig gemacht hat. Und vor allem sucht sie eine vorsichtige, kreisende Annäherung an das Geschehene.

Dafür recherchiert sie. Sie unterhält sich im Lauf der Zeit immer wieder mit einer befreundeten Psychoanalytikerin im Kaffeehaus. Sie befasst sich mit Schuld, mit der Geschichte und Ausstattung des VW Käfer (das Unfallauto), mit bekannten Opfern von Verkehrsunfällen, Unfallstatistiken, der unterschiedlichen Sichtweise auf Verkehrstode, mit Vaterlosigkeit, mit verfehlter und instrumentalisierter Empathie, mit der schweizer Justiz und Rassismus, Hexenverfolgung (und noch einigem mehr). Sie schreibt so auch über Kindheitserinnerungen, über sich, ihre Gedankenwelt, ihr Leben und ihre Familie.

Ihr Zugang zu dem, was sie erzählt und recherchiert, wirkt mehr als einmal assoziativ. Langweilig ist es nie.

Del Buonos Wunsch ist letztlich der nach Verstehen, nicht nach Vergeltung und einseitiger Zuschreibung. Ihre Einstellung zum „Töter“ ihres ihr unbekannten Vaters verändert sich selbstverständlich auch, je mehr sie über ihn herausfindet. Sie geht möglichst nüchtern, interessegeleitet an ihr Thema heran. Das Buch ist - zum Glück - alles andere als eine emotionale, eindimensionale Anklage eines Schuldigen (was der Titel vielleicht vermuten ließe).

Die Autorin hat hier weder ein leichtes Unterhaltungsbuch geschrieben (bei dem Thema und Ansatz auch nicht zu erwarten) noch ein schweres Trauerdrama. Mit einiger Neugier - und zugleich auch immer wieder Unbehagen - wendet sie sich dem Thema aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu.

Die Aufmachung ist wertig, im Buch finden sich ein paar Familienfotos, die die Personen näherbringen.

Wer sich nicht davor scheut, eine interessante, durchdachte Annäherung an menschliche Komplexität und eine Recherche zu einem anspruchsvollen Thema - ohne einfache Lösungen - zu lesen, wird mit diesem anregenden Buch sehr zufrieden sein. Mir hat es gut gefallen.

Bewertung vom 02.06.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


sehr gut

Glück und Verlust, dicht an dicht

Was tun, wenn von einem engen Freundespaar nur eine(r) von Anfang an verliebt ist? Robert liebt Frie schon seit kurz nach ihrem Kennenlernen in der Oberstufe in den späten achtziger Jahren. Frie verliebt sich aber nicht in Robert, sondern sieht ihn nur als sehr guten Freund, mit dem sie (fast) alles teilen und auf den sie sich verlassen kann. Nach der Schulzeit und über die Jahre entfernen sie sich voneinander und kommen sich doch auch wieder näher. Dabei erkennt Frie irgendwann, dass sie wohl doch in Robert verliebt ist. Aber ist es da schon zu spät, alle Chancen verschenkt? Als sie um die dreißig sind, zieht es sie dann doch endlich zueinander. Was aber nicht funktioniert - die Leben der beiden passen nicht mehr zusammen. Sie sagen sich, dass sie es ja mit 50 nocheinmal miteinander versuchen könnten, falls sie dann solo sind. Und tatsächlich hält sich Robert, der emotional von Anfang an viel tiefer verstrickt ist, an diese für ihn magische Zahl. So weit so vorhersehbar. Natürlich läuft es auch dann nicht unkompliziert.

Ja, auch nur eine Variante von Boy meets Girl - aber schön gemacht. Und auch wenn der Plot zunächst vorhersehbar klingt, habe ich von Anfang bis Ende mitgefiebert, was aus den beiden werden könnte und wird.

Julia Karnick hat hier ein Buch geschrieben, das zugleich wehmütig und glücklich macht, mit viel Identifikationspotential. Die Charaktere Frie und Robert sind gut und nachvollziehbar gezeichnet - alle beide haben ihre Widersprüche und auch ihre Abgründe; die von Frie werden etwas schärfer dargestellt als die von Robert.

Die Geschichte ist gut lesbar, ohne dadurch platt zu werden, und zeitgemäß geschrieben, abwechselnd aus der Sicht von Frie und von Robert. Der Soundtrack passt zur Zeit und den Personen, und wie sie kommunizieren auch. Wie Robert und Frie ihre Leben erleben, liest sich deshalb authentisch.

Das Cover und die wertige Gestaltung des Buches gefallen mir ebenfalls sehr.

Bewertung vom 27.05.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Man geht den langen, langen Weg mit

Ein Buch, das in doppelter Hinsicht mitnimmt: Man geht Javiers Weg tatsächlich in allen Höhen und Tiefen mit, weil der Autor es versteht, so packend zu schildern, als wären wir dabei. Und es ist emotional tief bewegend und auch bedrückend.

Der schön gestaltete Einband verrät schon viel über das Buch: Es geht um den langen Weg eines Neunjährigen, der mithilfe von Menschenschmugglern aus dem krisengeschüttelten El Salvador zu seinen Eltern in die USA gelangt. Der Autor erzählt seine eigene Geschichte, und die Perspektive des noch ziemlich kleinen Jungen (der natürlich mit den Großen mithalten will) wird in der Erzählung auch gut sichtbar. Die ersten paar Dutzend Seiten, auf denen Javiers behütetes Leben in El Salvador beschrieben wird, erschienen mir zuerst etwas langatmig. Im Ergebnis verdeutlichen sie aber den drastischen Umbruch, den der Junge durch seine Flucht erlebt, um so mehr. Sein Weg beginnt zunächst „nur“ aufregend, wird aber immer beschwerlicher und schließlich lebensgefährlich. Die Schlepper erweisen sich als unzuverlässig und rücksichtslos, manche von Javiers Begleitern auch. Andererseits findet er nach und nach Rückhalt, fast familiäre Unterstützung, auch Hilfe von unerwarteter Seite.

Ich hatte erwartet, dass Javiers traumatisierende Geschichte den Erfahrungen ähnelt, die die Menschen machen, die in den letzten Jahren versucht haben, in die EU zu gelangen, übers Meer, über die sog. Balkanroute und die anderen Wege. Javiers Geschichte ist anders - aber einfach nur anders schrecklich. Das Buch sollte den Blick aller auf Flucht schärfen.

Bewertung vom 26.05.2024
Das Licht in den Birken
Fölck, Romy

Das Licht in den Birken


gut

Romy Fölck hat sich eine wirklich interessante Geschichte ausgedacht - und sie dann für mein Empfinden viel zu simpel und unglaubwürdig umgesetzt.

Thea bricht nach über 20 Jahren ihre Zelte in Portugal ab, um in ihre norddeutsche Heimat zurückzukehren. Sie fürchtet, schwer krank zu sein und möchte im Fall der Fälle lieber in Deutschland behandelt werden. Auf die Idee, sich erst einmal von der Ärztin ihres Vertrauens eine Diagnose zu holen und auf der Basis dann zu entscheiden, ob sie wirklich endgültig nach Deutschland zurückkehren muss oder möchte, kam sie offenbar nicht. Sie mietet sich mit ihren zwei Lieblingsziegen beim etwa gleichaltrigen, einsiedlerischen und eigenwilligen Benno ein, der versucht, seinen völlig überschuldeten Lebenshof für Tiere über Wasser zu halten. Beide sind nur bedingt verträglich und müssen sich von Anfang an etwas konflikthaft zurechtraufen. Gleich innerhalb Theas ersten paar Tagen auf dem Hof rettet Benno außerdem beim Brennholzsuchen zufällig Juli, die eigentlich von Mecklenburg nach Amsterdam wandern wollte, aber sich im an den Hof angrenzenden Wald den Fuß umgeknickt hat und für einige Wochen nicht mehr weiter laufen kann. Juli zieht gleich mit auf dem Hof ein, erst auf Bennos Küchenbank, dann auf Theas frisch gekauftes Klappsofa. Sie ist knapp über der Volljährigkeit und versucht, den noch nicht lange verstorbenen Großvater im mentalen Gepäck, mit ihrer Wanderung ihrer sie kontrollierenden alleinerziehenden Mutter zu entkommen. Die Kapitel werden abwechselnd aus der Sicht von Thea, Benno und Juli erzählt.

Erst mal ein interessantes Setting mit spannenden Charakteren also.

Leider aber völlig unglaubwürdig umgesetzt. Alle möglichen Entwicklungen auf dem Hof und Verwandlungen der Charaktere ereignen sich im Schnelldurchlauf innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal zwei Wochen. In dieser kurzen Zeit gibt es außerdem noch fast täglich mittelgroße Ausraster der Protagonisten, dramatische Ereignisse, aus denen sie gerettet werden müssen - wohl um die Geschichte spannend zu halten. Wären der Plot und die Wandlungen der Charaktere im angemessenen Tempo entwickelt worden, hätte es interessant und sogar überzeugend werden können - bei Fölck folgen aber im schnellen Wechsel Katastrophen und Wunder aufeinander, da kann keine TV-Soap mehr mithalten. Wenig stimmig gezeichnet ist vor allem Thea: Ist sie jetzt eher der melancholische oder der überschwängliche Typ? Und dann schiebt die Autorin ihr noch eine fast ärgerlich konventionelle Denke und Ausdrücke unter, die sicherlich nicht zu einer Aussteigerin passen, die einiges vom Leben gesehen, Höhen und Tiefen erlebt und das Gras griffbereit in der Schublade liegen hat: Zu Benno, den sie in Gedanken „Zausel“ und „Miesepeter“ nennt, fällt ihr ein, er müsse „…etwas Benimm und Etikette lernen!“, da er es nun mit zwei Frauen auf seinem Hof zu tun habe; ihren Ex hat sie als junge Frau „in flagranti“ erwischt. Nun ja. Für mich ist das eine etwas abgegriffene und jedenfalls nicht zeitgemäße Darstellung, die das Bild stört.

Aber immerhin: Alles in allem ist die Geschichte gut geschrieben, und letztlich liest man es dann doch neugierig zu Ende (trotz des Ärgers über Groschenromanhaftigkeit).

Bewertung vom 17.05.2024
Dunkle Verwicklungen auf La Palma / Calderon und Rodriguez ermitteln Bd.1
Flores & Santana

Dunkle Verwicklungen auf La Palma / Calderon und Rodriguez ermitteln Bd.1


sehr gut

Ein kluger Urlaubskrimi, der auch einiges über die Geschichte von La Palma vermittelt. Nach einem super interessanten Einstieg plätschert die Story zum Ende hin mitunter etwas vor sich hin. Ingesamt aber ein erfreuliches Leseerlebnis.

Die Buchhändlerin Naira und der Journalist Ben setzen sich zusammen, um in Sherlock-Holmes-und-Watson-Manier Kriminalfälle zu lösen. Damit unterstützen sie auch Bens Freund Pedro, einen Inselpolizisten: Ein Bauunternehmer vom Festland, der auf La Palma einen Hotelkomplex errichten möchte, wird erschlagen aufgefunden. Steckt hinter dem Mord die örtliche Umweltgruppe, die den Hotelbau verhindern will? Oder ein Bauer, der sein Land nicht verkaufen wollte? Gab es vielleicht sogar ein parteipolitisches Motiv?

Offensichtlich ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint - die Charaktere werden gut nachvollziehbar, zugleich vielschichtig eingeführt. Leider bleibt ihr Verhalten dann doch nicht immer wirklich überzeugend.

Das Buch ist klasse geschrieben, ich konnte oft kaum aufhören, zu lesen. Wie von einem Urlaubsort-Krimi zu erwarten, dienen viele Passagen dazu, die Schönheit, Einzigartigkeit und Vielseitigkeit der Region darzustellen - das ist sehr interessant, hier wird aber leider die Krimi-Handlung ziemlich oft nicht vorangetrieben.

Das Buchcover ist toll, es spiegelt nicht nur die Landschaft, das Feuer der Vulkane und der Sonne. Der Einband ist auch haptisch gestaltet und hat einen schön illustrierten Buchschnitt erhalten.

Zwar keinen „Punktabzug“, aber meine Genervtheit gibt es dafür, dass - auch hier wieder - ältere Autor:innen, deren eigener Musikgeschmack wahrscheinlich in ihrer Jugend, also einige Jahrzehnte zurück, verankert ist, diesen (weil sie keine aktuelle Musik kennen? um sich selbst ein Denkmal zu setzen?) ihren jungen Protagonist:innen unterschieben. Der 30jährige Ben hört wohl ausschließlich Bob Dylan - echt jetzt?!

Bewertung vom 03.05.2024
Lebenslang beweglich und kraftvoll mit Tigerfeeling
Cantieni, Benita

Lebenslang beweglich und kraftvoll mit Tigerfeeling


gut

Stärkende Methode

Das Buch ist sehr schön und wertig aufgemacht, außerdem angenehm lesbar und unterhaltsam geschrieben.

Spannend finde ich, dass Benita Cantieni sich selbst für die Bilder zur Verfügung gestellt hat - für mich, die nur Cantienica kannte, aber die „Schöpferin“ nicht, war das sehr interessant.

Soweit ich es beurteilen kann, funktioniert die Cantienica-Methode wirklich. Zielgruppe dieses Buches scheint mir nun ein eher älteres Publikum zu sein, das schon unter Bewegungseinschränkungen leidet und erst motiviert werden muss, sich mehr zuzutrauen.

Die Übungen sind gut bebildert und sehr ausführlich erklärt. Mir fiel es leider schwer, gleichzeitig den sehr ausführlichen Text zu lesen und dazu parallel in die Übungen reinzukommen. Das ist aber wahrscheinlich eine Sache des Trainings.

Deshalb: Leseempfehlung für alle Älteren, die in die stärkende Cantienica-Methode einsteigen, aber nicht gleich einen Kurs buchen wollen.

Bewertung vom 03.05.2024
Südlich von Porto wartet die Schuld
da Silva, Mariana

Südlich von Porto wartet die Schuld


gut

Schöner Urlaubs-Fernweh-Krimi

Wer sehnt sich nicht danach, in Portugal zu leben? Dieses Gefühl fängt Mariana da Silva mit ihrem leichten Frühlingskrimi großartig ein.

Die Kommissarin Ria verlässt Stuttgart, um in Torreira auf dem Polizeirevier ihre hochschwangere Cousine Mariposa zu vertreten und mit ihrem „Schwager“ João zusammenzuarbeiten. Der Krimi greift einen Vorläuferband auf, in dem Ria - zusammen mit ihrem guten Freund Nuno - auch schon in Portugal mitermittelt hatte. Wer erst mit diesem zweiten Band einsteigt, kommt aber gut mit, weil alle Bezüge erklärt werden.

Aufzuklären gilt es zunächst den Mord an einem Richter. Der leitende Kommissar Baptista verdächtigt einen lokalen Drogenboss, gegen den der tote Richter ein Verfahren eröffnen sollte, und ist überzeugt, dass damit alles klar ist. Ria muss also erstmal Baptistas einseitigen Ermittlungsansatz umlenken. Und tatsächlich tauchen schnell weitere Personen auf, die vielleicht Dinge zu verbergen haben: Eine Witwe, die erstaunlich unbeeindruckt reagiert und - entgegen dem, was sie der Polizei erzählt - schon Vorbereitungen für die Zukunft getroffen hat. Ein Bruder, der seit Jahren keinen Kontakt zum Mordopfer hat - oder vielleicht doch? Was hat es mit Geldflüssen, dem Ferienhaus und irritierendem Verhalten des Opfers auf sich? Und wieso gibt der Staatsanwalt Akten nicht heraus?

Mariana da Silva manövriert ihre Geschichte gekonnt durch das Dickicht, gibt Hinweise, ohne zu deutlich zu werden. Am Ende verbleiben trotzdem noch ein paar lose Fäden - wie im richtigen Leben halt. Wie im richtigen Leben auch die kleinen familiären Dramen, die natürlich alle glücklich gelöst werden.

Gut geschrieben ist das Buch, und schön auch seine Gestaltung: Schon das tolle Cover mit Azulejos versetzt in Fernweh-Stimmung. Das wird dann auch im Buchinneren aufgegriffen: Vor jedem Kapitel rahmen die Azulejos als Überschrift ein portugiesisches Idiom ein, das in wenigen Worten interpretiert wird.

Ein runder Urlaubs-Krimi also, der Lust auf mehr (und Meer) macht. Bevor hoffentlich ein dritter Band erscheint, werde ich auf jeden Fall noch den allerersten lesen.

Bewertung vom 01.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Brisantes Wochenende am See

Ein tolles Buch, das ich gar nicht aufhören konnte zu lesen, und das meine Erwartungen sogar noch deutlich übertroffen hat.

Ein Elternpaar verbringt mit seinen zwei erwachsenen Söhnen und deren Partnerin und Partner zum letzten Mal ein Wochenende im Haus am See. Der kurz bevorstehende Verkauf des langjährigen Sommerdomizils - über den die Söhne nicht begeistert sind - und das Ertrinken eines kleinen Nachbarjungen wirken als Katalysator der ohnehin schon unter der Oberfläche verborgenen Konflikte, die es in jeder der drei Zweierbeziehungen gibt, und der psychischen Probleme, mit denen sich die Familienmitglieder herumschlagen (und deren Ursache sich nach und nach erahnen lässt). Die Beteiligten scheinen einander zu lieben, aber sie alle haben Hintergedanken, Geheimnisse, Doppelbödigkeiten. Fehleinschätzungen, Ängste, Überforderung und unterschiedliche Erwartungen prägen ihr Verhältnis. Wie im richtigen Leben gibt es viel Unausgesprochenes. Das legt der Autor in all seiner Brisanz nach und nach offen, indem er schonungslos die Gedanken der Protagonistinnen und Protagonisten darstellt. Dazu werden alle Abschnitte abwechselnd aus der Perspektive der handelnden Personen erzählt.

So ist dem Autor ein vielschichtiges, interessantes aber trotz aller Dramatik nicht anstrengendes Buch gelungen. Einzig kritisch empfinde ich das auf die letzten Seiten dann doch sehr gefällige Ende, und mir bleibt auch die Figur Diane etwas zu farblos.

Der Schreibstil ist klar und direkt. Der Bucheinband mit seinen kräftigen Farben und der Wasseroptik hat meine Aufmerksamkeit erregt. Cover und Buchtitel zusammen lassen eher auf eine Sommerschmonzette schließen - was das Buch absolut nicht ist. Mir gefällt diese ironische Dissonanz.

Absolute Leseempfehlung für alle, denen es Spaß macht, in Köpfe hineinzugucken.

Bewertung vom 29.03.2024
Das Schweigen des Wassers
Tägder, Susanne

Das Schweigen des Wassers


sehr gut

Eine fesselnde Geschichte - und auch eine Kriminalgeschichte.

Ein Hamburger Kriminalkommissar, der seine Tochter verloren hat und - auf einem persönlichen und beruflichen Tiefpunkt angelangt - 1991 kurz nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung als polizeilicher „Aufbauhelfer“ an den Ort seiner Kindheit in Mecklenburg versetzt wird. Eine ganz junge Frau, der die Behörden ihre kleine Tochter weggenommen haben und die zehn Jahre, nachdem ihre Schwester ermordet wurde, in die Region zurückkehrt. Und ein reichlich kaputter Bootsverleiher, der sich verfolgt fühlt und dann tatsächlich wenig später ertrunken aufgefunden wird.

In die Whodunit-Story, die sie in dieser Konstellation entfaltet, webt die Autorin sowohl Vor- und Nach-„Wende“-Erfahrungen ihrer Figuren ein, als auch tragische persönliche Schicksale.

Der von lebendigen Dialogen geprägte Schreibstil ist so klar wie das schön gestaltete Buchcover.

Sich in die vielen gebrochenen Charaktere sowie in die Atmosphäre der Zeit und der Region einzufühlen, fällt erstaunlich leicht. Obwohl die Autorin aus dem Westen kommt und die Umbrüche der Wendejahre vermutlich vor Ort selbst nicht im Detail erlebt hat, wirkt die eingefangene Stimmung auf mich authentisch. Ich habe das Buch in kürzester Zeit weggelesen und hätte tatsächlich auch noch weiterlesen wollen, um zu erfahren, wie die Protagonistinnen und Protagonisten sich später entwickeln.

Klare Leseempfehlung für dieses spannende und interessante Buch!

Bewertung vom 07.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


gut

Die Ich-Erzählerin Kathleen nimmt uns mit auf ihre Flucht aus der brandenburgischen Provinz nach London, und vor allem auf ihre jeweiligen Fahrten zurück zu ihrer Mutter, dem Haus der Familie im fiktiven „Kosakenberg“ und den ehemaligen Freundinnen.

Der Schreibstil der Autorin ist eingängig und zeitgemäß. Ich war schnell begeistert und wollte mehr. Der Roman dreht sich in weiten Teilen um die komplizierte und widersprüchliche Beziehung zum Heimatdorf, zur Mutter und darum, dass die Ich-Erzählerin sehr stark darauf aus ist, sich möglichst weit von dem Leben abzugrenzen, das sie als Kind und Jugendliche geprägt hat. Exemplarisch die Aussage der schon auf die 40 zugehenden Kathleen über Mary Wollstonecraft: „Mir gefiel, … wie sie ihre Herkunft hinter sich gelassen hatte“. Nun ja - lässt Vergangenheit sich mehr als (mit)verarbeiten, lässt sie sich ungeschehen machen? Kann eine Person ihre Herkunft wirklich „hinter sich lassen“ - wie den Schwanz, den ein Salamander bei Gefahr abwirft? Ob es Absicht der Autorin war oder nicht: Kathleen erschien mir am Anfang ideenreich, ihre Wahrnehmungen gut nachvollziehbar, sie bot Potenzial zur Identifikation. Im Lauf der Geschichte fing ich an, ihre Gedankenwelt etwas platt zu finden und sie wurde mir leider unsympathischer.

Dennoch würde ich alles in allem sagen: Die Erfahrungen der Protagonistin werden in diesem Buch gut lesbar geschildert, und auch so, dass sie sich über weitere Strecken nachempfinden lassen. Insoweit ist der Autorin mindestens eine spannende Geschichte vom Erwachsenwerden gelungen.