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Andy
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Frankfurt am Main

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 16.10.2024
Sanyal, Mithu

Antichristie


ausgezeichnet

Auf einer Achterbahn zwischen indischem Freiheitskampf und aktueller Empire-Kritik

Ich gebe zu, ich bin ein Fanboy. Ich habe Identitti sehr gern gelesen. Es hat mich auf eine Achterbahnfahrt mitgenommen und rasant durch seine Geschichte katapultiert. In Anti-Christie habe ich erst reingelesen und es dann bestellt, weil mich der Ton und die Erzählebene direkt wieder angesprochen hat. Erst während der Lektüre habe ich dann festgestellt, dass es neben dem Gegenwarts-Erzählstrang von Durga noch einen Erzählstrang von Sanjeev in der Vergangenheit gibt, beide in London angesiedelt. Beide Erzählstränge sind über eine Zeitreise-Geschichte verbunden. Und während der Gegenwartsstrang leicht zugänglich und besser lesbar ist, überrascht der Vergangenheitsstrang mit dem indischen Widerstand in London zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Insgesamt hat es viele Fakten und Argumente. Zusammen ergibt das ein diffuses Bild der Nerd-Bytes und Bits, die Sanal wieder in die Geschichte verwebt. Und das macht die Geschichte länger und mit ihrer Komplexität schwerer lesbarer. Auf der anderen Seite finde ich das persönlich höchst spektakulär. Ich stehe auf genau diese Nerd- Häppchen. Geschichte und Gesellschaftskritik ist nicht einfach in Literaturform bearbeitbar, gerade wenn es mit einer gehörigen Portion Fantasie vermixt wird und gerade der von Sanyal bearbeitete Komplex ist einer der sich mir durch ihre Erzählung erst eröffnet hat. Und das hebt das Buch deutlich von anderen Formen der Unterhaltung ab. Es gibt nicht nur eine singuläre Perspektive auf die historischen Ereignisse wieder, sondern es führt die Leser auch hinab in die Tiefe dieser Ereignisse und zeigt Komplexitäten und Debatten auf (z.B. Gandhi vs. Savarkar). Und ich feiere das total.
Mir ist nicht klar, wie Mithu Sanyal das bewerkstelligt, zwischen Writer`s Room und Popkultur auf der einen Seite und klassischen historischen auf der anderen Seite über 530 Seiten eine Geschichte zu schaffen, die bildet, unterhält und einen nicht mehr loslässt (in der dazu Doctor Who eine wesentliche Rolle spielt). Für mich ist Mithu Sanyal damit eine echte Künstlerin der deutschen Literaturszene und ich empfehle auch dieses Buch mit Verehrung.

Bewertung vom 29.09.2024
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


ausgezeichnet

Hinter der Brutalität wartet eine ganz feine Gefühlswelt

„Sing, wilder Vogel, sing“ von Jacqueline O’Mahony wird offiziell als historischer Roman betitelt. Dieser Titel tut dem Buch aus meiner Perspektive etwas unrecht, weil es zuvorderst ein großartiger Roman ist, abseits seiner zeitlichen Ansiedlung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Fokus steht die Geschichte von Honora, die aus Irland in die USA migriert. Auf ihrem Lebensweg erlebt Honora viele schreckliche Dinge. Jacqueline O’Mahony versucht dabei gar nicht, diese zu beschönigen und „Sing, wilder Vogel, sing“ raubt einem stellenweise mit der gezeigten Brutalität den Atem.

Was das Buch nun trotzdem zu einem bemerkenswert tiefgreifenden Roman macht, sind die Schichten hinter der erlebten Brutalität. Einerseits sind Honoras analytische Gedankenmuster sehr spannend. Sie hat einen scharfen Blick auf das Verhalten anderer Personen und erkennt deren innerste Beweggründe. Andererseits ist „Sing, wilder Vogel, sing“ ein Buch, dass immer Hoffnung vermittelt. Es wird erkannt, dass auch der Tod nichts Erschreckendes ist. Und im Leben wird eine große Bedeutung auf den eigenen Mut und die eigene Macht gelegt, auch in aussichtslosen Situationen.

Und so folgt man Honora gerne von einer Station zur nächsten, und fragt sich, welche Herausforderungen ihr wieder begegnen werden. Am Ende konnte ich das Buch dann auch nicht mehr aus den Händen legen, weil die Spannungskurve mich nicht mehr losgelassen hat. Das alles gepaart mit einer Geschichte aus einer weiblichen Perspektive lässt mich den Titel vollumfänglich empfehlen.

Bewertung vom 14.09.2024
Jennett, Meagan

Du kennst sie


gut

Interessante Idee mit etwas lahmer Umsetzung

Ich bin jetzt nicht der größte Thriller-Freund. Ich habe meinen Anteil an Thrillern gelesen und meistens ist mir das Ganze zu platt und vorhersehbar. Dieses Buch hat mich mit seinem großartigen Cover und einem Einstieg angelockt, der vielversprechend war. Es war erfrischend, dass es um zwei weibliche Hauptcharaktere ging. Die Hauptfiguren versprachen eine gewisse Tiefe und die Handlung hatte schon zu Beginn spannende Ansätze. Leider konnte das Buch die guten ersten Eindrücke nicht dauerhaft bestätigen. Das Erzähltempo war teilweise sehr schleppend und die Geschichte hat sich zu sehr in den Niederungen der Figurenentwicklung verlaufen. Ja, stellenweise war es lahm. Der Spannungsaufbau gelang nicht vollends. Und so hege ich viele Sympathien für die deutliche weibliche Erzählperspektive und die damit verbundenen Elemente des Buchs. Dennoch tendiere ich dazu, zunächst wieder die Finger von Thrillern zu lassen und mich anderen Büchern zuzuwenden.

Bewertung vom 28.08.2024
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


ausgezeichnet

Natur & Literatur in einer TOP-Kombination

Dieses Buch vertritt eine klare These. An Hand der Stellerschen Seekuh wird verdeutlicht, wie sehr die Menschheit in das Gleichgewicht der Natur eingreift. Der Mensch sorgt dafür, dass Arten aussterben und ist sich oftmals seiner Rolle gar nicht bewusst. Aber wie interessant kann das sein, wenn man hierfür auf das Beispiel einer Seekuh zurückgreift? Sehr interessant und mitreißend.
Iida Turpeinens Romans erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte und hat mehrere Hauptakteure. Von dem Entdecker der Seekuh, über das Ehepaar, dass dafür sorgt, dass die Knochen der Seekuh gefunden werden, bis hin zum Präparateur der Seekuh final in Helsinki zeichnet die Autorin auf eine spannende und bekömmliche Art die Lebenslinien ihrer Charaktere nach. Das Ganze ist äußert kurzweilig und eindrücklich. Wer Bücher von Jasmin Schreiber mag wird hier auch auf ihre Kosten kommen. Ob sich die beiden kennen? Sie würden sich mögen. Von mir eine klare Empfehlung!

Bewertung vom 19.08.2024
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


weniger gut

Enttäuschung des Sommers

Manchmal freut man sich ja so richtig auf ein Buch, weil man Vertrauen in den Autor hat. Und dann war es nichts. So ging es mir mit diesem Buch. Ich habe vorher zwei andere Bücher von Arno Geiger gelesen und beide für "sehr gut" befunden. Bei diesem nun hätte ich gerne meine Zeit zurück. Es gibt wenig, was dieses Buch vor einer noch schlechteren Bewertung bewahrt hat. Einige Sätze, die hängen geblieben sind und ganz schön waren. Einige wenige.

Im Großen und Ganzen hat mir das Buch - außer den wenigen Sätzen - aber nichts gegeben. Ich konnte mich mit den Charakteren nicht identifizieren. Ich fand die Handlung nicht spannend. Jetzt könnte man meinen, dass hätte man schon vorher wissen können, dass einen die letzte Reise eines zurückgetretenen Königs vor über 400 Jahren nicht anspricht, aber ich fand die Idee an sich ganz originell. In der Umsetzung war da aber nichts drin, was mich mitgenommen hätte. Karl- der zurückgetretene König - ist ein Anti-Held. Aber eben auch einer, zu dem ich keinen Zugang gefunden habe.

Geigers Kunst, charmanten Verbindungen zu knüpfen, hat es hier nicht geschafft, mich zu überzeugen und dann ist am Ende eben wenig übrig geblieben. Selbst der große Plot-Twist hat mir nur ein müdes Gähnen entlockt. Es gibt diesen Sommer aus meiner Sicht viele bessere Bücher.
Von meiner Seite gibt es in diesem Falle keine Empfehlung.

Bewertung vom 12.08.2024
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


ausgezeichnet

Überraschend rund und überzeugend

Da hat Micha Lewinsky einen rausgehauen. Bei Olympia entspräche sein Roman einer überraschenden Goldmedaille. Die große Qualität dieses Romans liegt an den Figuren und deren inneren Zerrissenheit. Die inneren Konflikte der Hauptfigur Benjamin Oppenheim sind schmerzhaft mitfühlbar. Auch bei seinen Mitstreiter:innen in diesem Entwicklungsroman wird klar, dass sie sich diversen inneren Zwängen und Widersprüchen gegenüber sehen. Dies bettet Lewinsky in eine spannende, aber nicht überbordende Handlung, die mit genau der richtigen Erzählgeschwindigkeit daherkommt. Es geht voran, aber auch nicht zu schnell. Und ja, es kommt noch besser: Lewinsky hat das Ganze zudem mit Meta-Elementen hinterlegt, die der Story das nötige Glitzern geben und bereichern. Fertig ist der Fünf-Sterne Roman und von mir gibt es eine klare Empfehlung.

Bewertung vom 14.07.2024
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Jahreshighlight

"Man sieht sich" ist ein toller Roman. Es ist definitiv eines meiner liebsten Bücher dieses Jahres bisher. Ich muss dazu sagen, dass ich einen Hang zum Kitsch habe. Das Buch könnte Personen verschrecken, die diesen Hang zum Kitsch nicht teilen. Ansonsten ist das Buch schnell
zusammengefasst: es werden die Lebensgeschichten von Frie und Robert erzählt, von der Kindheit bis nach dem 50igen Geburtstag. Dabei ist das Buch aufgeklärt unterwegs und geht über viele Themen, die sich bei der Persönlichkeitsentwicklung von Menschen, Kinderwunsch und -erziehung, aber auch dem Umgang mit Sexualität und dem eigenen Körper im reiferen Alter ergeben, nicht einfach so hinweg. Robert und Frie zu folgen macht Spaß. Es ist wie einen guten Indiefilm zu sehen. Man wird in die Welt des Jazz und an die Musikhochschule entführt, mitgenommen nach Südtirol und in die ein oder andere Studenten-WG. Man sieht das dreckige Geschirr in der Spüle stehen, genau wie die Berglandschaften in der Abendsonne.
Und am Ende will man am liebsten, dass es noch weitergeht.

Bewertung vom 14.07.2024
Del Buono, Zora

Seinetwegen


gut

Zerfahrene Annährung

Zora del Buono hat ein autofiktionales Werk über ihr Leben ohne Vater und die Suche nach dem Mann, der seinen Tod verschuldet hat, geschrieben. Dieses Buch bringt vieles mit, was ich grundsätzlich an Büchern mag. Eine anekdotische Erzählweise ist das eine. Viele eingebettete, nerdige Informationen ist etwas anderes, das mir grundsätzlich gefällt. Auf der anderen Seite geht dem Buch hierdurch etwas der rote Faden verloren. Vielleicht ist es auch angebracht zu vermerken, dass das Buch zwar mit einem großen Thema daherkommt, dafür aber recht substanzlos ist. Zumindest ist das meine persönliche Einschätzung.
Meine persönlichen Erwartungen konnte das Buch somit leider nicht erfüllen und es wird mir wahrscheinlich auch nicht lange im Gedächtnis bleiben. Und das obwohl sich das Buch zwischen so vielen interessanten Schauplätzen (Berlin, Schweiz, etc.) bewegt und genügend Themen angerissen hat. Schade, da war mehr drin!

Bewertung vom 26.05.2024
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


sehr gut

Eine Annäherung an Georgien im „Stirb langsam“-Stil

Georgien ist, wie die Ukraine, ein Teilnehmer der EURO 2024. Ich kann das Land zwar auf einer Landkarte grob verorten, weiß aber ansonsten wenig darüber. Durch die anhaltenden Konflikte mit Russland und eingeladen durch das schöne Cover, habe ich mich mit Leo Vardiashvilis Hauptfigur Saba auf die Reise nach Georgien gemacht, um auf die Suche nach seinem verschollenen Bruder und Vater zu gehen. Dabei lernt man Georgien aus ungewohnten Perspektiven kennen und bekommt subjektive Eindrücke der Einwohner vermittelt. Zudem ist man gezwungen sich mit den Problemen der Menschen mit Flüchtlingsbiografien auseinanderzusetzen. Spätestens hier wird das Buch dann auch ein Plädoyer für eine empathischere politische Debatte, wenn es um Themen wie den Familiennachzug geht. Vardiashvili liefert aber keineswegs ein Debattenwerk ab, sondern einen äußerst unterhaltsamen Roman, der es in Bezug auf Action manchmal mit den absurden, filmischen Sequenzen übertreibt. Das ist dann aber schon Meckern auf sehr hohem Niveau. „Vor einem großen Walde“ beschäftigt sich mit vielen großen Themen und will die Balance halten und nicht ins Depressive abrutschen. Es ist lesenswert.

Bewertung vom 27.04.2024
Vogelsang, Lucas

Nachspielzeiten


ausgezeichnet

Helden im glitzernden Schlaglicht

Die besonderen Fußballmomenten entstehen auch dann, wenn man sich mit den Spielern - den Hauptprotagonisten des Spektakels, das für manche sogar mehr ist als nur die schönste Nebensache der Welt - besonders identifiziert. So war es bei mir bei Bastian Schweinsteiger im WM-Finale 2014. Schweinsteiger, schon mit einem blutigen Cut gezeichnet, war sichtlich am Ende. Das Finale war zu seiner persönlichen Leidensgeschichte geworden. Konnte er das Leid überwinden und dieses wichtigste Spiel seiner Karriere gewinnen, nachdem er schon an anderer Stelle entscheidend gescheitert war? Um Schweinsteiger geht es nun in dem Buck von Lukas Vogelsang nicht. Aber um die Verbindung zu den Helden.
Und diese menschliche Verbindung zu den einzelnen Helden schafft Vogelsang auf eine tolle Art und Weise. Er nimmt einen mit auf die Reise der einzelnen Personen von Mehmet Scholl, über Franz Beckenbauer und Pele, bis zu Vinnie Jones und Gazza. Es sind außergewöhnliche Geschichten, die er erzählt. Mit Beckenbauer und Pele in New York. Mit Vinnie Jones an Gazzas Sack. Der Erzählstil ist dabei ruhig, die Spannung kommt aus den Geschichten selbst und das ist mehr als genug.
Das Buch hat mir insgesamt sehr gut gefallen, und das liegt an unterschiedlichen Aspekten. Einerseits waren die Geschichten für mich neu und ich war von Ihnen nicht gelangweilt sondern sie erzeugten im Gegenteil Spannung in mir. Ich gewöhnte mich an die Erzählweise und fühlte mich ruhig und sachlich, trotzdem mit dem nötigen Witz, immer unter- und nie aufgehalten. Und ich glaube, dass Vogelsang mit seinem Buch die Faszination des Sports und die Verbindung zu seinen Helden treffend einfängt. In Vorfreude auf das Turnier diesen Sommer, lohnt es sich dieses Werk zu genießen, in der Hoffnung, dass wir im Sommer Zeuge neuer Heldentaten werden.