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kkruse

Bewertungen

Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2023
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

„Sylter Welle“, der erste Roman des Autors, Musiker und Podcasters Max Richard Leßmann, ist eine autobiografisch inspirierte Familiengeschichte mit sowohl liebevollen, als auch schmerzhaften Erinnerungen. Wie die Wellen der Nordsee bewegt sich das Leben zwischen Aufs und Abs: manchmal schwimmt man obenauf, manchmal reißt einen die Strömung mit. Diese Erfahrungen machen auch der Autor und seine Familie und trotz aller Verluste und Widrigkeiten steht Oma Lore als Matriarchin wie ein Fels in der Brandung und trotzt jedem Sturm.
Erzählt wird all dies von Max Richard Leßmann in einem lockeren, ironischen und lakonischen Stil, der erkennen lässt, dass er als Podcaster und Instagramer aktiv ist. Wie im Plauderton mit einem alten Freund berichtet er unterhaltsame Episoden aus der Familienhistorie sowie vom gegenwärtigen Urlaub mit Oma Lore und Opa Ludwig auf Sylt. Dadurch hat der Roman keine stringente Handlung, sondern reiht eher assoziativ verschiedene Szenen aneinander, sodass der Erzählfluss auch der titelgebenden Wellenbewegung entspricht.
Die Erzählzeit erstreckt sich über drei Tage, die der Enkel mit seinen Großeltern auf Sylt verbringt. Allerdings wird dort kein „Schicki-Micki“-Urlaub gemacht: der Enkel muss, um Geld zu sparen, auf dem Boden des Hotelzimmers schlafen und Kaffee und Kuchen wird nur „To Go“ am Strand auf den Knien verspeist. Solche Widersprüche ziehen sich durch den gesamten Roman. Schon nach den ersten Seiten wird trotz des lustigen Erzähltons deutlich, dass es bei Weitem nicht nur heitere Momente im Familienleben gab und gibt, sondern dass auch manche Schicksalsschläge verkraftet werden mussten. Welche das sind, wird im Laufe des Buches teils sehr überraschend enthüllt, wodurch immer deutlicher wird, dass das Leben helle und dunkle Seiten hat und es wie in Wellen auf und ab geht.
Weitere Beispiele, die diese Widersprüchlichkeiten des Lebens im Roman widerspiegeln, sind das universell von Opa Ludwig gebrauchte Schimpf- und Kosewort „Lerge“ aus dem Niederschlesischen, das sowohl abwertend als auch liebevoll gemeint sein kann. Oma Lores selbstangebaute Kartoffeln ernähren die ganze Familie und sind Leibspeise des Opas, haben aber unappetitliche schwarze Augen, die ungenießbar sind. Wohl am besten symbolisieren für mich Oma Lores saure Apfelringe, zu denen Erzähler Max eine Hassliebe hegt, das paradoxe Leben. Obwohl er sie nicht wirklich mag, gehören sie doch untrennbar zum Urlaub mit den Großeltern für ihn dazu und besonders mag er die saure Süßigkeit, wenn sie in der geöffneten Tüte steinhart geworden ist. Dieses passt wiederum genau zur Charakterisierung von Oma Lore selbst, die von außen hart und rau wie die Nordsee wirkt, aber im Inneren unter ihrer „Teflonschicht“ ein weicheres Herz verbirgt. Zwar kann sie ihre Emotionen selten offen zeigen, aber seit Jahren kümmert sie sich unerschütterlich um das Familienwohl und zeigt so indirekt ihre Zuneigung. So deckt sie Enkel Max nachts auf dem Hotelzimmerfußboden noch liebevoll mit einem zusätzlichen Handtuch zu - allerdings mit einem rauem Froteehandtuch. Trotzdem weiß der Enkel die Geste seiner Oma zu schätzen.
Am Ende des Urlaubs überwiegt für den Erzähler immer mehr das Nachdenken über Abschied und Vergänglichkeit. Er schärft das Bewusstsein dafür, dass alles sein Ende hat, aber dennoch wird es nicht allzu melancholisch. Dass man an den Widersprüchen des Lebens und den Schicksalsschlägen nicht verzweifeln muss, beweist schließlich Oma Lore, die sich stets wie ein Fels in der Brandung allen Herausforderungen entgegengestellt hat und nicht untergegangen ist.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, vor allem aufgrund des unterhaltsamen Erzählstils und der versteckten Symbolik. So hat das Buch eine zusätzliche Tiefe bekommen, die ich so im ersten Moment von dem Autor nicht erwartet hätte. Er trifft für mich das richtige Mittelmaß zwischen Unterhaltung und Reflexion und hat „Sylter Welle“ so zu einer kurzweiligen, aber dennoch zum Nachdenken anregenden Sommerlektüre gemacht.

Bewertung vom 25.04.2023
Moreno, Eloy

Unsichtbar


ausgezeichnet

„Unsichtbar“ ist ein unglaublich bewegender Roman zum Thema Mobbing, der jugendliche und auch ältere Leser eindringlich darauf aufmerksam macht, die Augen nicht vor diesem Problem zu verschließen, sondern ein geschärftes Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie man helfend einschreiten kann und sollte. Anhand der Leidensgeschichte des namenlosen Protagonisten in diesem Buch erfährt man als Leser unmittelbar, was es für Konsequenzen für die Mobbingopfer haben kann, wenn solche Unterstützung fehlt, was mich bei der Lektüre sehr mitgenommen hat. Aufgrund der Wichtigkeit und Aktualität des Themas Mobbing halte ich „Unsichtbar“ für eine wichtige Lektüre, die auch in Schulen gelesen werden sollte.
Wie gesagt, ist der Protagonist dieses Romans namenslos, wodurch seine Geschichte leicht übertragbar auf andere Personen ist. Er ist ein relativ normaler Teenager, interessiert sich zwar sehr für Mathe und ist eher ein „Nerd“ als der coolste Typ der Schule, aber trotz allem hat er gute Freunde, kommt mit seinen Mitschülern gut zurecht und lebt in einer Durchschnittsfamilie mit Vater, Mutter und kleiner Schwester. Doch eines Tages lässt er einen Mitschüler nicht bei einem Mathetest abgucken, woraufhin das Drama seinen Anfang nimmt. Aus Rache wird der Protagonist fortan von dem vermeintlich „starken“ Mitschüler und seinen Freunden gemobbt. Die Demütigungen werden immer schlimmer und offensichtlicher, doch anstatt zu helfen, verschließen die besten Freunde des Mobbingopfers, Lehrer, Mitschüler und Familie die Augen vor der Wahrheit und schreiten aus verschiedenen Gründen nicht ein: sei es Selbstschutz aus Angst, selbst Opfer zu werden, sei es Mitläufertum oder sei es einfach Ignoranz. Um mit seinem Leid fertig zu werden und zu verstehen, warum er so allein gelassen wird, flüchtet sich der Protagonist in eine fiktive Welt, in der zum Superhelden wird und in seinen „Superkräften“ eine Erklärung für seine schreckliche Lage findet. So wird er zum Helden, der eigentlich keiner sein wollte…
Während der Protagonist namenslos bleibt, sind alle anderen Charaktere namentlich bekannt und multiperspektivisch wird von verschiedenen Positionen aus über die Mobbingsituation berichtet. Dabei erzählt aber nur das Opfer selbst aus der ersten Person, alle anderen Figuren lässt der Autor in der dritten Person auftreten. So ist man als Leser besonders nah am Opfer und nimmt unmittelbar an seinem Leid teil. Es ist erschreckend, wie leicht jemand in diese Rolle fallen kann und welche Dynamik die Demütigungen entwickeln. Der Autor schildert alles sehr plausibel und bringt den Lesern durch kurze, emotionale Sätze die Erfahrungen der Charaktere äußerst nah. Mich hat der Roman bestürzt, weil er so authentisch ist und auch, weil er alle Seiten – Opfer, Täter, Mitläufer – zu Wort kommen lässt, wodurch ich mich permanent fragen musste, ob ich eingeschritten wäre oder mich auch von der Gruppendynamik hätte mitreißen lassen. Man entwickelt Verständnis für alle involvierten Charaktere, versteht ihre Beweggründe, aber dennoch leidet man mit dem Protagonisten mit. Aufgrund dieser reflektierten, multiperspektivischen Herangehensweise des Autors sollte das Roman in Schulen diskutiert werden, da das Thema Mobbing nicht unter den Tisch gekehrt werden darf, wie durch die Lektüre allzu deutlich wird!
Ob es am Ende des Buches noch einen echten Held oder eine echte Heldin gibt, der oder die dem Mobbing ein Ende setzt, will ich hier nicht verraten. Der namenlose Superheld der Geschichte wäre sicher lieber keiner geworden und hätte sein normales Teenagerleben weitergelebt. „Unsichtbar“ ist jedenfalls ein Appell an jeden von uns, zum Helden zu werden, wenn es die Situation erfordert, indem man Mobbing und anderen Schikanen ein Ende setzt. Und dafür braucht es nicht einmal übernatürliche Kräfte, sondern nur ein bisschen (Helden-)Mut!