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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 240 Bewertungen
Bewertung vom 06.04.2025
Elling, Lars

Die Prinzen vom Birkensee


sehr gut

Zwei Jungen in den Wäldern auf sich alleine gestellt. Ein Abenteuer 1913/14. TW: viel Tierleid!

Die Prinzen vom Birkensee sind der dreizehnjährige Arnstein und sein um einige Jahre jüngere Bruder Truls. In den Sommern der Jahre 1913 und 1914 wurden beide von ihrem Vater, den sie meist nur den „Kaiser“ nannten, in die Mark nördlich von Christiania (dem heutigen Oslo) geschickt. Es ist ein ausgedehntes Waldgebiet rund um den Holmenkollen mit vielen Seen. Ganz auf sich alleine gestellt durchstreifen die beiden die Wälder, unterhalten hier und dort ein Lager, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Manchmal schaffen sie es auch, so viel zu „hamstern“, damit sie es auf den Märkten der kleinen Ortschaften verkaufen können.
In dieser Zeit schweißen die beiden richtig zusammen, agieren oft wie ein Individuum, merken und spüren, was den anderen gerade beschäftigt. Der drohende erste Weltkrieg wirft seinen langen Schatten bis in diese Gegend, und so beschließt der Vater der beiden, dass sie im Spätsommer 1914 ihren fünfzehnjährigen, schwer kognitiv beeinträchtigten Bruder mit in die Wildnis nehmen müssen. Mit Folgen …
1985. Filip, 19, ist der Enkel von Arnstein, und zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester bewohnen sie ein Haus am Rande der Stadt. Ihr unmittelbarer Nachbar ist Arnsteins Bruder Truls mit seiner Frau. Es herrscht Stille zwischen den beiden Familien, ein lächerlicher Apfelkrieg ist nur eine kleine Auswirkung davon. Arnstein ist ein Pflegefall, sein von Arbeit geschundener Körper liegt im Sterben, doch Arnstein will noch nicht aufgeben. Filip tritt seinem Opa sehr abschätzig entgegen, macht abfällige Bemerkungen über dessen langes Aufbegehren gegen den Tod. Doch so allmählich, nachdem er zuerst gezwungen wurde, sich mehr um seinen Großvater zu kümmern, entwickelt sich doch noch so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Filip ändert sich und seine Einstellung, genauso wie Arnstein sein Mürrischsein und seine Bosheit etwas beiseiteschieben kann. Er beginnt, von jenen Sommern zu erzählen, und Filip hängt an seinen Lippen. Er möchte unbedingt erfahren, was der Grund für das Zerwürfnis zwischen den beiden Brüdern war.
Der Roman liest sich leicht und flüssig, die Erzählweise ist oftmals spannend wie eine Abenteuergeschichte. Es geht aber auch um andere Dinge. Das Leben von Filip wird durchleuchtet, mit seiner Liebe zu Fußball und der Musik von Brian Ferry, sein Gehader mit den Kassetten im Walkman, und vieles mehr.
Bis jetzt würde ich sagen: eine feine Geschichte.
Was mir aber absolut komplett gegen den Strich ging, ist die ausufernde und wie für selbstverständlich angenommene Gewalt der beiden Jungs gegen Tiere. Hier hätte ich mir vom Verlag eine ordentliche Triggerwarnung gewünscht, und nicht eine Glorifizierung des Angelns am Buchrücken. OK – ich dachte, ist sei nur eine Metapher. Aber da lag ich falsch. Auch wenn das Verhältnis zur lebenden Natur vor hundert Jahren ein anderes gewesen sein mag, und die Jungs auf sich alleine gestellt waren um in der Wildnis nicht zu verhungern, dann hätte ich gerne auf die expliziten Beschreibungen des Tötens (manchmal fast schon ein Massenmord) sehr gerne verzichtet.
Mehr als einmal war ich versucht, aus diesen Gründen das Buch abzubrechen. Aber die Neugier, wie die Geschichte wohl ausgehen mag, hat gewonnen.
Schreibtechnisch gibt es gegen den Roman auch nichts auszusetzen – ganz im Gegenteil.
Und so mag sich bitte jede*r selbst ein Bild machen, ob dieser Roman, der sicherlich auch den ein oder anderen familienpolitischen oder gesellschaftlichen Aspekt behandelt, gelesen werde möchte.
Für mich war es eine Grenzerfahrung. Und eine Bewertung: Zwischen zwei und fünf Sterne ist alles drinnen.

Bewertung vom 03.04.2025
Krömer, Philip

Kumari


ausgezeichnet

Nepalesischer Geschichtsunterricht in einem packenden Roman rund um die Kindgöttin Kumari! Ein wunderbares Leseerlebnis!

Was wissen wir alles über Nepal? Geschichte, Religion, Politik? Sehnsuchtsort für viele Menschen am Fuße des Daches der Welt.
Das Land stand 2001vor einem Bürgerkrieg. Maoisten wollten die Herrschaft des Königshauses stürzen. Ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt, dass am 1. Juni 2001 der Kronprinz Dipendra sein Land von der Monarchie befreien wollte und metzelte neun Mitglieder des Königshaues, darunter Vater und Mutter, dahin und richtete sich selbst.
Soweit der historisch-politische Hintergrund. Warum es so kam, und was vielleicht dahinter steckte, erzählt uns der Autor in einem sehr spannenden, und hervorragend recherchierten Roman.
Die titelgebende Kumari ist die wiedergeborene Schutzgöttin Taleju. Sie sieht alles, hört alles, weiß alles. Als Kleinkind, wenn die 32 Merkmale passen, vom Hohepriester aus der Bevölkerung Kathmandus ausgesucht, hat das Mädchen dieses Amt bis zu ihrer ersten Regelblutung inne. Mehr oder weniger eingesperrt, verdammt jeden Tag die Rituale auszuüben, ohne Schulbildung, wird sie danach mit einer kleinen Rente abgespeist und aus dem Tempel geworfen (pervers in meinen Augen).
Aber sie beklagt sich nicht. Sie erzählt uns, was sie sieht. Über sich selber und die nepalesische Götterwelt, über das Herrscherhaus, über Dipendra und seine Beweggründe. Und über Rupa Rana – eine fünfzehnjährige Rebellin, glühende Maoistin. Sie und ihre Mitstreiter*innen wollen Nepal umkrempeln. Sie wollen, der Lehre von Mao Tse Tung folgend, das Land dem Volk geben.
All das spielt sich rund um das Dasain-Fest ab. Es ist ein äußerst blutiges Opferfest (TW: es bedarf eines guten Magens bei der Lektüre). Denn Blut bestimmt nicht nur das Schicksal der Kumari …

Der Roman liest sich spannend vom Anfang bis zum Ende wie ein historischer Schinken epochalen Ausmaßes. Philip Krömer versteht es hier perfekt, die harten Fakten mit Fiktion zu vermischen. Er lässt ein ziemlich umfassendes Bild über Nepal entstehen – und das mit wenigen Worten auf gerade mal 220 Seiten. Man erkennt auf unterhaltsame Weise, wie und warum Religion (oder Mythologie) und Staat derart eng miteinander verschränkt sind.

Das Buch regt stark zum Nachdenken an. Auf der einen Seit der religiöse Wahnsinn, auf der anderen Seite die bedingungslose Aufgabe des Individuums im Maoismus, und nebenbei das Festhalten an feudalen Strukturen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Unterdrückung. Und genau die „Macht“ ist Triebfeder für jedes Handeln, ohne Rücksicht auf den Einzelnen. Jede*r ist nur ein Zahnrad im Getriebe des Machterhalts, egal in welcher Maschinerie sich diese Räder drehen.
Im Falle der Kumari ist es ein unschuldiges Mädchen, welches die Rituale des Blutes aufrechterhalten muss, sowie ein armes Mädchen aus der Provinz, das für ein größeres Etwas eingespannt wird.
Für mich war die Geschichte komplettes Neuland – und umso tiefer bin ich zwischen die Zeilen gefallen.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen tief schürfenden und nachdenklich machenden Roman, gespickt mit spannender Fiktion und harten Tatsachen. Herrlich erzählt, ohne viele Ausschweifungen. Chapeau!

Bewertung vom 01.04.2025
Bauer, Wolfgang Maria

Kaltblut (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Archaischer Roman aus der unwirtlichen Bergwelt rund um Schuld. Glasklar erzählt. Große Leseempfehlung.

Stubber war schon immer ein Außenseiter. Wortkarg wie die Berge, in denen er lebte und gerne umherstreifte. Mit anderen Menschen wollte er kaum etwas zu tun haben, dabei zog es ihn sogar mal in die Stadt zum Studieren, aber das war nichts für ihn. Zurück im Bergdorf übernahm er das Gewerk seines Vaters als Sprengmeister. Doch mehr als Gelegenheitsjobs gab es selten.
Die Gesellschaft nach getaner Arbeit vermied er, zu sehr war ihm das lose Geschwätz verpönt.

S. 26: „Ihre Gespräche über Staat, Weiber, die heutige Jugend, und die Welt überhaupt waren ihm zuwider gewesen. Laufe einen Regenbogen, hatte er einst in einem Jugendbuch gelesen, um rückständige Menschen.“

Doch einmal, ja einmal da traf er dabei seine große Liebe: Alaska nannte er sie wegen ihrer Augen. Sie waren wie eins, bis sie bei der Geburt seines Sohns verstarb. Ein Schlüsselmoment für Stubber. Er wollte mit seinem Kind, welches ihm Alaska nahm, nichts zu tun haben. Luka, so wie der Bub von seiner Ziehmutter, der bigotten Zugehfrau des Pfarrers, genannt wurde, trage die Schuld am Alaskas Tod. Stubber zog sich noch mehr zurück – die Jahre gingen ins Land, und dann starben bei einer folgenschweren Explosion einer Berghütte elf Männer. Darunter Stubbers einziger Mensch, der ihm in dieser Zeit etwas bedeutete: sein Gehilfe Sepp. Sepp war geistig behindert, und neben dessen Eltern kümmerte sich nur Stubber um ihn. Sepp, der immer fröhlich war, immer ein Lächeln parat hatte. Sepp, der nun nicht mehr war, zerfetzt vom Dynamit.
Die ersten Spuren führten sofort zu Stubber. Auch für die sogenannte Dorfgemeinschaft (Betonung auf gemein) war der Fall mehr als klar. Der Einzelgänger, den eh keiner mag. Endlich findet sich ein Sündenbock. Doch nach einer Nacht in der Zelle musste Stubber freigelassen werden, er hatte ein stichfestes Alibi. Das Dorf musste sich einen neuen Schuldigen suchen, und Namen fanden sich schneller als man mit dem Finger auf jemanden zeigen konnte. Denn darin waren die Bergdörfler meisterhaft begabt.

Drei Wochen nach der Explosion wurden die Leichen zur Beerdigung freigegeben. Stubber wollte sich von „seinem“ Sepp ebenfalls verabschieden, aber er wurde nicht zum Grab gelassen. So beobachtete er schweren Herzens die Beisetzungen von der Ferne. Danach, von schwerem Kummer geplagt, wollte er sich in die Berge zurückziehen. Aber er wurde verfolgt … nicht nur von seinem Gewissen … meisterhaft erzählt …und mehr wird jetzt wirklich nicht mehr verraten.

Die Sprache ist ohne Ausschweifungen, klar und ohne Trübungen wie ein Bergsee. Direkt und hart, wie Stubber selbst, kommt das Erzählte daher, lässt kaum Platz für Sentimentalitäten. Man schlägt sich beim Lesen rational bedingt auf seine Seite, auch wenn er ein Kaltblut sein mag, beziehungsweise so von den Dorfbewohnern bezeichnet wird. Und man fragt sich letztendlich, wer tatsächlich kaltblütig und kaltherzig ist.
Jemand, der von der Gesellschaft durch sein „Alleine-sein-wollen“ in den Wahnsinn getrieben wird, oder diejenigen, die zur Hetzgemeinschaft gehören?
Eines der Grundthemen kann mit dem Wort „Schuld“ betitelt werden, und wie damit im Einzelnen und in der Gesellschaft umgegangen wird.

Sehr gerne bin ich in diese archaische Bergwelt eingetaucht, mit vollen Sympathien für Außenseiter*innen und solchen, die nach außen gedrängt werden. Ganz große Leseempfehlung für diesen atmosphärischen Roman.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.03.2025
Carey, Edward

Edith Holler


ausgezeichnet

Genial aufgebauter Spannungsroman über ein Mädchen in einem alten Theater. Geister! Märchen! Fantasy! Große Leseempfehlung!

Edith Holler ist ein zwölfjähriges Mädchen, abgeschirmt von der Außenwelt. Sie lebt in einem Theater in Norwich, welches ihr Vater leitet. Sie hat zwar genug Kontakte zu all den Mitarbeitern im Haus – die meisten sind Tanten und Onkels. Aber sie darf die Straße vor der Türe nicht betreten, sonst stürzt das Gebäude ein und das letzte verbliebene Theater in Norwich – man schreibt das Jahr 1901 – würde verschwinden. Ein schwerwiegender Fluch liegt auf Edith.
Edith hat sich so gut es geht eingerichtet. Sie schreibt sogar ein dramatisches Stück über die Geschichte der Stadt. Denn in der Marmeladenfabrik geschehen furchtbare Dinge, und laufend verschwinden Kinder. Edith glaubt, dem Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein … eine sehr grausame Entdeckung will sie in dem Stück enthüllen. Und dann will just ihr geliebter Vater die Besitzerin der Käfermarmeladenfabrik heiraten (vor allem des Geldes wegen um das Theater zu erhalten). In Ediths Drama, welches schon fleißig einstudiert wird, sitzt das Böse aber genau dort. Ein Konflikt … ein großer, böser Konflikt ... spannend, sage ich euch!
Der ganze Roman, der anfänglich für mich etwas Anlaufschwierigkeiten ob der ausschweifenden Erzählungen rund um Ediths Alltag mit all ihren Verwandten hatte, entpuppt sich als genial gestrickte Spannungslektüre mit so vielen unterschiedlichen Genreelementen. Fantasy, Horror, Geistergeschichte. Sogar etwas Gothic schwebt zwischen den Zeilen herum. Es darf ein wenig versteckte Gesellschaftskritik auch nicht fehlen, die leider Tag für Tag aktueller wird. Stichwort: Geld gegen Bildung.
Und das ganz tolle dabei: So realistisch das komplette Setting rund um Edith ist, und man glaubt wirklich an all die Geister, kommen einem doch wieder Zweifel, ob das nicht alles nur eine Ausgeburt von Ediths überbordender Fantasie ist, oder gar Wahnvorstellungen sind. Der Autor versteht es hier perfekt, die Wahrheit versteckt zu halten und die Leser*innen selbst entscheiden zu lassen. Es gibt natürlich eine Auflösung in einem tollen Showdown, die hier natürlich nicht verraten wird.
Der Roman von Edward Carey ist ein sehr klug aufgebauter Pageturner – ok, das mit dem pageturnen beginnt vielleicht erst so ab Seite 100, bis dahin muss man einfach durch (ist aber nicht langweilig) – doch dann geht die Post ab. So richtig. Ein Märchen, eine Geistergeschichte, eine Horrorgeschichte, ein Fantasyroman, ein Drama. Vor allem eins: ein schlaues Buch über den Wunsch der Selbstverwirklichung entgegen allen Steinen, Felsen und Gebirgen, die einem so in den Weg gelegt werden. Hervorzuheben ist natürlich auch die Übersetzung von Cornelius Hartz.
Illustrationen des Autors ergänzen die Handlung in angemessener Weise.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen höchst außergewöhnlichen Roman.

Bewertung vom 25.03.2025
Bilkau, Kristine

Halbinsel


ausgezeichnet

Mutter und Tochter, einander fremd und dennoch vereint, in einer sprachlich wunderbaren Geschichte über eine Generationenkluft.

Linn ist noch ein Kleinkind, als ihr Vater Johan beim Joggen zusammenbricht und stirbt. Für ihre Mutter Annett stürzt eine Welt zusammen. Doch sie meistert ihr Schicksal, zieht Linn alleine auf, ermöglicht ihrer Tochter Abitur, Studium und Selbstverwirklichung.
Linn wächst heran, engagiert sich stark für den Umweltschutz, betreut Projekte, kommt in der Welt herum, hält Vorträge.
Und just während eines Vortrages bricht sie nach einem Schwächeanfall zusammen. Ihre Mutter nimmt sie zu sich, zur Erholung, um Kraft zu tanken. Aus einer Woche werden Monate. Linn bleibt in sich verschlossen, spricht kaum, schläft in den Tag hinein, scheint sich um nichts kümmern zu wollen. Annett beginnt dieses Verhalten zu stören, erst recht als Linn einen Teilzeitjob in der Bäckerei annimmt. Zu was der ganze Aufwand? Das Studium? Die Entbehrungen als alleinerziehende Mutter, wenn ihr Kind dann all das hinwirft. Doch tut sie das wirklich? Weiß Annett überhaupt, was das Beste für ihre Tochter ist?
Es hängt ein grauer Schleier über den beiden, und diese Stimmung hat die Autorin so perfekt inszeniert, dass man sie greifen könnte. Es ist wie eine Androhung eines möglichen Gewitters, von dem man nicht weiß, ob es sich entladen wird oder nicht. Gelegentlich kommt Wind auf, oder die Sonne nestelt sich hindurch, erhellt Szenen, gibt Hoffnung. Besonders dann, wenn die neuen Nachbarn ins Bild kommen – eine fröhliche Truppe, die ihr Leben abseits der gesellschaftlich festgefahrenen Pfade gestaltet.
Die Halbinsel an der Nordsee, den Elementen gnadenlos ausgeliefert in all ihrer Pracht, kann schnell zur Falle werden. Steigende Meeresspiegel, unverantwortliches Verhalten der Menschheit – es ist alles ein filigranes Gebilde, genauso wie die Zwischenmenschlichkeit von Annett und Linn. Auch kleine Teaser der alten Sage um Rungholt dürfen hier nicht fehlen und werden sehr geschickt in die Story eingebaut.
Und überhaupt - die Autorin spielt gekonnt mit den Emotionen ihrer Protagonistinnen, und auch mit ihren Leser*innen. Und das auf eine leichte, lockere Art – man kann das Buch einfach nicht mehr weglegen.
Die Zweifel von Annett, zusammen mit ihrem Sicherheitsdenken, sickern aus ihren Tiefen hervor, scheinen an einer Mauer, die Linn umgibt, abzuprallen. Auch Johan kommt zu Wort, als willkommenes Stilmittel in Annetts Gedanken. Wie würde er sich verhalten, was sagen, was tun?
Kristine Bilkau schreibt wunderbar berührend über eine Generationenkluft, über eine Mutter-Tochter-Beziehung, und darum, ob oder wie diese Spalten, wenn überhaupt, überwunden werden können. Mutter und Tochter sind einander fremd und dennoch vereint, beide im Versuch, das jeweilige Beste aus sich zu machen, im Kampf gegen die Ströme der Zeit.
Sehr gerne gebe ich für diesen sprachlich äußerst gelungenen Roman (wie alle Romane der Autorin) eine ganz große Leseempfehlung. Ich bin wirklich sehr angetan davon.

Ein wenig erinnert mich der Grundgedanke des Romans auch an das letzte Buch von Donatella di Pietrantonio „Die zerbrechliche Zeit“, erschienen im Kunstmannverlag. Ein ebenfalls wunderbarer und sehr zu empfehlender Roman mit ähnlichen Topics.

Bewertung vom 23.03.2025
Lange, Gianna

Und dann springen wir


ausgezeichnet

Wunderbarer Debütroman über Trauer, Liebe, und die Sehnsucht nach Leben. Ganz große Leseempfehlung!

Dieses Debüt von Gianna Lange hat es in sich. Ein wunderbar aufgebauter, liebevoller Roman in einer poetischen Sprache, die einen von Anfang an fesselt und mitnimmt. Selten habe ich mich in den Zeilen derart wohl gefühlt. Da gibt es kein Holpern, kein Ruckeln, sondern einen sehr harmonischen Flow rund um die Geschichte von Rosa.
Rosas Familienleben ist nicht einfach. Sie hat mir ihrer Mutter Elise eine besondere Beziehung. Und Elise hat Schwierigkeiten mit ihrem Leben. Es gibt dunkle Momente, aber auch sehr Helle. Rosa erinnert sich an eine gemeinsame Reise, eine Art Road Trip, der die beiden über Berlin, Prag, Budapest bis nach Mostar und in die Herzegowina führte. Sie standen auf der Brücke und sahen den Wagemutigen zu, die hinunter in den Fluss sprangen. Sie beschlossen, es auch zu tun – wenn sie das nächste Mal wieder in der Stadt wären.

„… und dann springen wir …“

S. 48: „Wer ist Elise? Zutreffende Antworten an solchen Tagen: Glück und Leichtigkeit. Nudeln mit Tomatensoße, Vanilleeis im Gefrierfach. Worte, Taten, Lieder. Leben.“

Doch dann stirbt Elise. Ihr geschwächter Körper kann dem Druck der Tuberkuloseerkrankung nicht mehr standhalten. Und Rosa steht alleine da, muss die Beerdigung organisieren, muss mit ihrer Trauer fertig werden. Und sie muss, ob sie will oder nicht, Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen. Der ist eines Tages gegangen, hat die beiden verlassen und eine neue Familie gegründet. Der Kluft ist groß, besonders weil Rosa es so wollte.
Bis zur endgültigen Beisetzung nach der Einäscherung hat Rosa Zeit, weiß nicht viel mit sich anzufangen, und beschließt, den Trip von damals zu wiederholen. Alleine.
Sie trifft auf eine Bekannte – Emma. Emma ist ganz besonders. Während Rosas Familie ein Trümmerhaufen ist, der vielleicht zum Teil wieder gekittet werden kann, ist Emma als Adoptivkind auf der Suche nach ihren Wurzeln. Emmas und Rosas Suche führt sie wieder nach Mostar. Und dort, ja was dort alles passiert, müsst ihr selber lesen. Schmerzliches und viel Herzliches, soviel kann ich noch verraten.
Parallelen zur Seele von Elise und der Stadt sind nicht von der Hand zu weisen, und in diesem Roman spielerisch miteinander verstrickt.

S.123: „Für Elise war es Mostar gewesen. Das Ziel ihrer Flucht. Die Stadt hatte etwas Brutales, sie war vernarbt und hatte Brüche und Risse von all den Schlägen, die sie eingesteckt hatte. Dem setzte sie trotzig ihre überwältigende Schönheit entgegen.“

Familie, Trauer, Suche nach sich selbst, nach dem Leben selbst – das und so vieles mehr steckt in diesem Roman, der, wie ich schon erwähnte, mich sehr begeistert hat. Und er ist nebenbei eine versteckte Liebeserklärung an die Stadt Mostar und die Herzegowina. Man möchte sich sofort auf diesen Roadtrip begeben.

S.8: „Ich hielt den Blick geradeaus gerichtet, wo sich die Nacht zwischen die Bäume schlich. Vielleicht sollten wir bleiben, Elise. Doch Elise war nicht mehr da.“

Was für ein Debürtoman! Ganz große Leseempfehlung. Da kann man sich sehr auf hoffentlich noch viele Romane von Gianna Lange freuen.

Bewertung vom 18.03.2025
Franzobel

Einsteins Hirn


gut

Anfänglich skurril und voller Witz, verpufft die Story mehr und mehr.

Es war der 18. April 1955, als einer der größten Genies der Welt das Zeitliche segnete. Albert Einstein verstarb im Princeton Hospital. Thomas Harvey, der an diesem Tag ganz andere Pläne hatte, denn er dachte tatsächlich an den Hochzeitstag, den er letztes Jahr sträflicher Weise vergessen hatte und alles wieder gut machen wollte, musste die Autopsie an Einstein vornehmen. Und somit nahm alles seinen Lauf … Er untersuchte den Leichnam, und entwendete unerlaubt das Gehirn. Eine scheinbar brillante Idee hat sich kurzerhand seiner bemächtig. Er wollte den Denkapparat untersuchen und dem Sitz der Genialität auf die Schliche kommen, und natürlich den ganzen Ruhm der Welt einhamstern. Soweit die historischen Fakten. Was danach kommt ist Fiktion, die möglicherweise so stattgefunden haben könnte.
Aber Harvey war jetzt nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte der Gehirnforscher. Um ehrlich zu seinen, hatte diese Kerze nicht mal einen Docht.
Kurzum: er stiehlt das Hirn, legt es in Formaldehyd ein und nimmt es vorerst mit nach Hause. Sein ganzes Leben beginnt, sich nur mehr um diesen Eiweißklumpen zu drehen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit Einsteins Angehörigen konnte er sie zumindest überreden, der Untersuchung zu zustimmen. Doch wie sollte er das anstellen, wo er doch keine Ahnung hatte? Zuhause tranchierte er das Gehirn mit der Wurstschneidemaschine, und verschickte dann die Gewebeteile an verschiedene Spezialisten im ganzen Land. Was sie fanden: es ist kein Geheimnis: nichts.
Das skurrile am ganzen Roman: Einsteins Gehirn sprach mit Harvey - als es noch in einem Stück war. Dann verstummte es – und Harvey trieb es halb in den Wahnsinn. Er begann selbst Konversation mit dem Hirn zu führen, philosophischer und hauptsächlich religiöser Natur. Harvey war streng gläubig, vor allem auch an die Kraft seiner Libido (Gretchen kam da sehr gelegen). Ein paar historische Daten kommen auch vor, aber wie ein pathologischer Forrest Gump kommt die Story nicht rüber.
Die Ehe ging den Bach runter, der Job auch, und Harvey tingelte mit den Resten des Gehirns durch die Staaten.
Was sich anfänglich mit viel Komik und Witz als möglicher Pageturner präsentiert, rutscht leider wie Harveys Leben auf einer schiefen Bahn in eine Art Belanglosigkeit hinunter. Der erste Pep ist vorbei, und trotz wiederkehrender Figuren als Spannungsfänger verliert sich der Roman leider mehr und mehr. Der anfängliche Sprachwitz der den einen oder anderen Schenkelklopfer parat hält, verpufft leider auch irgendwie. Was ich sehr schade finde – 200-300 Seiten weniger hätten dem Buch vielleicht gut getan anstatt der über 500. Die Idee ist super, die anfängliche Umsetzung ebenfalls, aber mir kommt dann alles zu sehr gewollt vor, obwohl ich den Autor sehr schätze.
Mehr als 3 Sterne kann ich beim besten Willen nicht verteilen.

Bewertung vom 16.03.2025
Schönett, Simone

Beim Barte der Prophetin


ausgezeichnet

Elf beeindruckende Erzählungen über Frauen in Grenzsituationen. Leseempfehlung!

In elf sehr beeindruckenden Erzählungen bringt uns die Autorin Lebensgeschichten – oder Momente – ihrer Protagonistinnen näher. Erlebnisse, die man durchaus als einen Gang an einer scharfen Kante interpretieren kann. Es sind einschneidende, oftmals düstere Momente, die wenig Licht durchlassen, Erfahrungen an der Kippe zwischen Sein und Nichtsein. Letzteres bevorzugt. Gnadenlos wird damit umgegangen – wie das Leben selbst.
Die Schilderungen sind klar und deutlich, nur manchmal leicht mysteriös vernebelt. Und jede einzelne Erzählung lässt uns mit einem Katalog an Fragen zurück, allen voran: wie hätte ich in der Situation reagiert.
So arbeiten zum Beispiel Mia und Martin in der Schweiz hart in ihrem Bistro, um sich ihren Alterssitz auf Zypern leisten zu können. Der Traum scheint Wirklichkeit zu werden, der Tag des Loslassens rückt näher und näher. Mit viel Gefühl wird das Setting der beiden erzählt, und dann …
oder die Story von Fausta als Sachbearbeiterin, die Förderanträge von Autor*innen samt deren Manuskripte entgegennimmt, und auf etwas Unglaubliches stößt - sehr einfühlsam erzählt.
Natürlich darf auch ein Dauerbrenner unseres gesellschaftlichen Alltages nicht fehlen: Sexismus und Übergriffigkeiten im Berufsleben.

S.75: „Na Kleine, du musst dich halt von ihm fernhalten. Und ich solle Schluss mit der provokanten Kleidung machen. Solche Signale verstehe Odo als Freibrief, das müsse mir schon klar sein.“

Am eindrücklichsten fand ich die Geschichte um die ehemalige KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner. Eine brutale Frau, die sich Zeit ihres Lebens im Recht und immer als Opfer sah. Diese Erzählung zeigt das wahre Können der Autorin, so stark war der Sog in die Zeilen (trotz all der geschilderten Brutalität).
Auch die anderen Geschichte strotzen vor brillanten Sätzen und Kritik an unserer Gesellschaft.

S.209: „Das einzig Klare war, dass das Patriarchat niemals freiwillig oder gar unblutig seine Macht niederlegen würde. Und darum drehte sich jetzt wieder alles, daran krankte alles, jeder Konflikt, jede Diktatur, jeder Krieg.“

Ganz große Leseempfehlung für diese starken Erzählungen!

Bewertung vom 13.03.2025
Effah, Charline

Die Frauen von Bidi Bidi


ausgezeichnet

Erschütternd und eindrücklich! Das Schicksal von Frauen im ugandischen Flüchtlingslager. Große Leseempfehlung!

S.7: „Dies ist die Geschichte von Kriegen,
die Frauen zugrunde richten.
Denn bewaffnete wie intime Kriege werden
am weiblichen Körper ausgetragen.
Jenen Frauen, die fallen, und jenen, die sich wieder
Aufrichten, in der Hoffnung auf ihre Heilung.“

Paris. Joséphine Meyer flieht vor ihrem gewalttätigen Mann. Sie sieht sich keine andere Möglichkeit, um lebend aus der mehr als toxischen Beziehung zu entkommen. Zurück lässt sie ihre achte Jahre junge Tochter Minga. Das Mädchen zeigt Verständnis, ist bei der Flucht behilflich und steckt ihrer Mutter sogar noch den Inhalt ihres Sparschweins zu.
Die erste Anlaufstelle ist ein Frauenhaus, aber sie wird von ihrem rachesüchtigen Mann gefunden, und muss erneut die Flucht antreten. Es verschlägt sie als Krankenschwester in die verschiedensten krisengebeutelten Länder, bis sie schließlich im Flüchtlingscamp Bidi Bidi im Norden Ugandas landet.
Vierzig Jahre später, nachdem Minga Briefe ihrer Mutter nach der Wohnungsauflösung ihres verstorbenen Vaters entdeckt, macht sie sich auf die Suche.
Sie reist in das ugandische Camp, bekommt eine Besuchererlaubnis und setzt alles daran, ihre Mutter oder die Spur zu ihrer Mutter zu finden.
Sie trifft auf Menschen, die ihre Mutter kannten. Sie sind zurückhaltend, geizen mit Informationen. Allen voran Jane und Veronika helfen ihr zu verstehen … und verbinden das Schicksal von Joséphine mit jenem der Geflüchteten Rose Akech.
Zur Erklärung: Bidi Bidi ist weltweit das zweitgrößte Flüchtlingscamp. Es nimmt all jene auf, die vor den Unruhen und dem Krieg im Südsudan geflohen sind. Es sind viele, die zuerst zwischen die Mühlsteine der Freiheitsbewegung des Staates gelangten, und dann in weiterer Folge Opfer der Stammeskriege wurden.
Jede der Frauen hat ihr eigenes Los zu tragen. Neben den kriegerischen Handlungen sind es Männer, vor denen die Frauen Schutz suchen. Aber nicht mal im Lager sind sie davor gefeit.
Die Autorin erzählt in ungeschönten Bildern, hart und direkt, wie das Leben nun mal so ist. Erbarmungslos, meist hoffnungslos.
Und dennoch trägt eine Hoffnung die Frauen weiter, trotz ihres schweren Lebens. Missbraucht, misshandelt, davon können sie ein Lied singen … und was bei mancher mit ihren Kindern geschah … lest es bitte selber. Manchmal braucht es einen starken Magen, um das Gelesene aufzunehmen.
Und wer ist schuld an all der Misere: natürlich Männer. What else – daher mein Aufruf an alle Männer: lest dieses Buch. Nehmt es stellvertretend für all das patriarchale Leid und denkt doch mal darüber nach, wie harmonisch und schön die Welt sein könnte ohne eurem Machtgehabe, Misogynie und Breitbeinigkeit. Denn die globale Tendenz zur Frauenfeindlichkeit: leider steigend.
Trotz der vielen unschönen Tatsachen und Szenen liest sich das Buch leicht und locker, die Wörter wohl geordnet in eine Sprachharmonie (großes Lob natürlich auch an die Übersetzerin Ela zum Winkel), auch wenn man dabei viel nachdenken muss. Das Setting ist sehr spannend aufgebaut, denn als Leser*in bekommt man nur in kleinen Häppchen präsentiert, ob sich Mingas Reise nach Uganda gelohnt hat oder nicht.
Ganz große Leseempfehlung . Ich wünsche diesem Buch eine sehr große Leserschaft und viel Aufmerksamkeit.

Bewertung vom 11.03.2025
Kluge, Joanna Yulia

David Pablo


ausgezeichnet

Drei Generationen Frauen, alle mit einem besonders schweren Schicksal. Bewegend! Sehr lesenswert! Literarisch hochwertig!

David Pablo ist Zuhörer, Hauptansprechpartner, Adressat der multiplen Fragen, Titelgeber – steht ein für eine unbeantwortete Universalität, einen innigen Wunsch, und hat dennoch keinen Part im Buch.
David Pablo – hörst du mir zu?
Der Roman ist die Geschichte von drei Frauen. Sie haben unterschiedliche Schicksale, Lebenswege voller Steine, Fragen und Ängste. Sie suchen Freiheit, Selbstbestimmung, den Ausbruch aus dem System, das sie so gefangen hält. Sie beschäftigen sich mit der Frage nach dem Warum. Nach dem Grund und möglicherweise größeren Sinn hinter ihrem Leben, das sie auf Wege geschickt hat, die sie nun mal gehen müssen. Unfreiwillig. Welche Abzweigung, welche Gabelung wird in der Zukunft die Richtige sein? Jede Frau geht für sich alleine, getrennt durch eine Generation, und dennoch sind deren Existenzen miteinander verknüpft. Die Probleme sind mehr oder weniger dieselben, auch wenn sie andere Namen haben.

Malena ist Sinti, gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Oskar und ihrer Familie wächst sie in der Zeit des Holocaust in Deutschland (mit all seinen Gräueltaten) auf.

S.43: „Die Leute wechseln die Straßenseite, wenn sie uns kommen sehen. Sie sagen scheußliche Worte und spucken neben sich. Weißt du denn, was noch kommt?“

S. 89: „Kinderstimmen fragen: Warum sind wir hier?
Weil wir Sinti sind.
Weil wir Roma sind.
Und Malena flüstert in Friederikes Umhang hinein: Aber wir sind Deutsche.“

Susa wächst in der DDR auf, wird zur Abtreibung gezwungen, und wird schließlich zwangssterilisiert – kurz vor dem Mauerfall. Sie lässt sich nicht unterkriegen und wird eine erfolgreiche Künstlerin. Eine Flucht aus dem innigen Wunsch, Kindern das Licht der Welt zu schenken.

S.122: „Weniger still wurden ihre Gemälde in den Medien besprochen, besonders jene, die weibliche Nationalallegorien zeigten und deren Vergewaltigung. Susas einziger Kommentar: Meine Ratlosigkeit treibt mich an. Die Kunst hilft mir.“

Una war zwölf, als sie es schaffte, vor dem Krieg in Jugoslawien zu flüchten, musste mitansehen, wie ihr Bruder und ihre Eltern dahingemetzelt wurden.
Sie kommt bei einem Onkel in Deutschland unter, schafft es, so etwas wie ein Leben zu führen, ist in einer Beziehung mit Paul. Aber etwas ist anders - ein Körper, der mit dem Äußeren und Inneren nicht im Einklang zu stehen scheint.

S. 171: Dissensual. Nicht Kultur.
Natur.
Cis, das ist mein Diss.
Natur bezwingen.
Medizin und Technik.
Kein Hinüber.
Technische Mimesis.
Verwachsen.
Eins sein.“

S.172: „Wenn du mir ein Kind zeugen könntest, das wiederum so wird wie du, den gleichen Schmerz teilt. Würdest du es tun?, fragt Una.“

Die Autorin berichtet von drei Schicksalen, einzeln grausam, kollektiv verhaftet in der Bestimmung der einzelnen Leben von anderen – von patriarchalen Strukturen. Von grausamen Netzen, in denen die individuelle Selbstbestimmung, der Wunsch nach Freiheit so zu leben, wie man möchte, krass beschnitten wird, einzementiert in die Machtfantasien einiger weniger Despoten.

Unsere Gesellschaft war schlimm, ist es immer noch, und tendiert wieder in jene Vergangenheit abzudriften, von der wir glaubten, sie überwunden zu haben. Aber wie wir momentan selber erfahren, hat sich in Wirklichkeit nichts verändert.
In sehr eindrücklichen Bildern, manchmal wirklich grausamen Szenen, schildert uns Joanna Yulia Kluge mit den drei verbindenden Frauenschicksalen dieses Szenario über einen Zeitraum von fast hundert Jahren, wie hilflos die Hilfesuchenden tatsächlich sind. Und welche Kräfte die Frauen (und ich glaube, nur Frauen können solche Stärken aufbringen) entwickeln, nicht nur um sich dem Unausweichlichen, sondern sich darüber zu stellen.
Es ist ein starkes Buch mit vielen Themen: Identität, Selbstbestimmung, Freiheit, Frausein, Feminismus, Muttersein, und vieles mehr.
Ein Roman, der sicher sehr lange (trotz seiner inhaltlichen Vielfalt) im Gedächtnis bleiben wird.
Ganz große Leseempfehlung für diesen bewegenden Roman.

Kleines PS: Allein die Haptik und Aufmachung des Buches ist es wert, es in den Händen zu halten, zu blättern, zu lesen. Große Buchmacherkunst!