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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 507 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2025
Abel, Susanne

Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104


ausgezeichnet

Natürlich musste ich das neue Buch von Susanne Abel lesen! Schon ihre beiden Vorgängerromane "Stay away from Gretchen" und "Was ich nie gesagt habe" konnten mich restlos begeistern. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen – und ich kann schon verraten: Sie wurden erfüllt.

1945:
Im Mittelpunkt steht ein kleiner Junge, der nach dem Krieg mit einem Kindertransport aus Zoppot mitten in Deutschland ankommt. Um den Hals trägt er ein Pappschild, doch der Name darauf ist unleserlich. Der Junge kennt weder den Namen seiner Familie noch seinen eigenen. Im katholischen Kinderheim, in das man ihn bringt, erhält er eine neue Identität – Hardy und die Nummer 104.
Weil Hardy nicht spricht und mit drei Jahren noch Bettnässer ist, hält man ihn für „debil“. Nur Margret, ein acht Jahre älteres Mädchen, das ein ähnliches Schicksal teilt, nimmt sich seiner an. Sie wird seine Beschützerin. Doch das Leben im Heim ist von Gewalt, Erniedrigung und Angst geprägt. Als Margret schließlich von einer Tante abgeholt wird, ist Hardy fortan vollkommen schutzlos.

2006:
Viele Jahrzehnte später wächst die junge Emily bei ihren Urgroßeltern Margret und Hardy auf. Ihre Mutter und Großmutter sind mit sich selbst beschäftigt und nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Anfangs empfindet Emily Margrets Fürsorge als wohltuend und sicher – doch je älter sie wird, desto stärker wird Margrets Kontrolle. Was einst Schutz bedeutete, wird nun zur Last, und Emily beginnt, sich dagegen aufzulehnen.

Wie die Geschichte weitergeht, müsst ihr natürlich selbst herausfinden …

Ein zutiefst berührendes Buch über ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Rund 300.000 Kinder suchten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Familien – viele vergeblich. Susanne Abel verknüpft historische Fakten mit fiktiven Schicksalen und schafft so eine Geschichte, die unter die Haut geht.
Es ist erschütternd, was Kindern in manchen Heimen widerfahren ist: Ungelernte Menschen ohne jegliche pädagogische Ausbildung züchtigten und erniedrigten sie. Liebe und Fürsorge gab es keine, Schutz vor sexuellen Misshandlungen ebenso wenig. Medikamente wurden an Kindern in erhöhten Dosierungen getestet.

Fazit:
Abels Schreibstil ist gewohnt klar, eindringlich und wunderbar lesbar.
Ein schweres Thema – aber ein wichtiges und meisterhaft erzähltes Buch, das man nicht aus der Hand legen kann.
Große Leseempfehlung!
5/5

Bewertung vom 28.10.2025
Keweritsch, Katja

Das Flüstern der Marsch


ausgezeichnet

DAS FLÜSTERN DER MARSCH
Katja Keweritsch
ET: 5.9.2025

Mona fährt von Hamburg zu ihren Großeltern in die Marsch – und findet dort nur ihren Großvater Karl vor. Wo ihre Großmutter Annemie geblieben ist, weiß er nicht. Er scheint darüber auch nicht besonders beunruhigt zu sein. Wann er sie zuletzt gesehen hat, kann er ebenfalls nicht genau sagen – nur daran, dass er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hat, weil niemand das Essen zubereitet hat, daran erinnert er sich. Auch die Zwillingssöhne Stefan und Sven wissen nicht, wo ihre Mutter ist, haben aber keine Zeit, sich zu kümmern. Lediglich Janne, Stefans Frau, die mit drei kleinen Kindern und den Vorbereitungen für Schwiegervater Karls 80. Geburtstag ohnehin völlig überlastet ist, hört sich Monas Sorgen wenigstens an.

Als Annemie auch nach einigen Tagen nicht wieder auftaucht, wird schließlich die Polizei informiert. Doch noch immer ist sich die Familie sicher, dass Annemie einfach eine Freundin besucht – völlig außer Acht lassend, dass sie gar keine Freundin hat und so etwas noch nie zuvor getan hat.

Katja Keweritsch erzählt ihren Roman auf mehreren Zeitebenen.
Neben Mona in der Gegenwart kommt auch Annemie selbst zu Wort – ein junges Mädchen, das eigentlich gerade ihr Abitur machen wollte, als sie sich in ihren Lehrer verliebt und eine folgenreiche Affäre beginnt.
Janne erhält einen eigenen Erzählstrang, in dem wir erfahren, was sie alles auf sich nimmt, um ihre Familie glücklich zu machen.
Und schließlich ist da noch Freya, deren Bruder sich das Leben genommen hat und die bald auf Geheimnisse stößt, die alles miteinander verbinden.

Wie diese Erzählstränge am Ende ineinandergreifen, müsst ihr natürlich selbst herausfinden.
Was ich aber verraten kann: Das Flüstern der Marsch fängt die besondere Atmosphäre dieser Landschaft wunderbar ein – das weite, flache Land, die Stille, den Wind, das Licht. Zugleich porträtiert Katja Keweritsch eindrucksvoll das Leben in einem kleinen Dorf bei Hamburg, mit all seinen heimlichen Geschichten, ungesagten Wahrheiten und über Generationen hinweg weitergetragenen Verletzungen.

Ein stiller, atmosphärisch dichter Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte, weil man unbedingt hinter das Geheimnis kommen will.
4½/ 5

Bewertung vom 27.10.2025
Howard, Jules

MEGA


ausgezeichnet

MEGA – Faszinierende Giganten von Gestern und Heute
Jules Howard
ET. 29.10.25

Wusstet ihr, dass es vor vier Milliarden Jahren noch gar kein Leben auf der Erde gab?
Die ersten Lebewesen waren winzige schwimmende Zellen. Erst viel später – vor rund 200 Millionen Jahren – entwickelten sich daraus immer größere Tiere, bis einige schließlich mehrere Hundert Kilogramm wogen. Es entstanden riesige Fische, Haie und Reptilien, aus denen sich schließlich die Dinosaurier entwickelten. Diese erreichten gigantische Ausmaße: Der Giganotosaurus etwa war 13 Meter lang und gehörte – neben dem berühmten Tyrannosaurus Rex – zu den größten an Land lebenden Dinos. Doch auch im Meer gab es wahre Riesen: Der Spinosaurus wurde bis zu 18 Meter lang und jagte erfolgreich durch die Unterwasserwelt.

Nach den Dinosauriern war der Europäische Waldelefant eines der größten Tiere, die jemals lebten. Er übertraf die heutigen Elefanten in seiner Größe deutlich, und seine beeindruckenden Stoßzähne hatten sich einst aus Vorderzähnen entwickelt.

Aber was erzähle ich euch das alles – am besten lest ihr das Buch selbst, denn es gibt einfach so viel Spannendes zu entdecken!

Was für ein großartiges Buch, das zudem von Gavin Scott wunderschön illustriert wurde. Hier stehen die größten Tiere im Mittelpunkt – von der Urzeit bis heute. Besonders gut gefallen hat mir der klare Aufbau: Die großen Tiergruppen wie Säugetiere, Vögel, Reptilien, Fische und Mollusken werden vorgestellt und in einzelne Familien – etwa Elefanten, Seekühe oder Menschenaffen – unterteilt. Ausgestorbene Arten werden ihren heute noch lebenden Verwandten gegenübergestellt, wodurch faszinierende Parallelen sichtbar werden.

Zu jeder Tierart gibt es eine Größentabelle sowie viele interessante Fakten zu Lebensraum, Ernährung und Besonderheiten – und natürlich zur wichtigen Frage, welchen Beitrag die Tiere für das Ökosystem leisten. Besonders schön ist die Doppelseite nach jedem Kapitel mit dem Titel „Megafauna in Aktion“, auf der das Zusammenspiel der Arten anschaulich gezeigt wird.

Fazit:
Ein Buch, das mich absolut begeistert hat!
Ein echter Hingucker – perfekt zum Verschenken und ideal für Kinder ab etwa 7 Jahren.
Große Leseempfehlung!
5+/5

Bewertung vom 22.10.2025
Khayyer, Jina

Im Herzen der Katze


ausgezeichnet

IM HERZEN DER KATZE
Jina Khayyer
ET: 20.7.25

Teheran 2022:
Als die junge Jina Mahsa Amini von der Sittenpolizei so brutal geschlagen wird, dass sie ins Koma fällt und wenige Stunden später stirbt – nur, weil ihr Kopftuch verrutscht war – geht ein Aufschrei durch die Welt. Immer mehr iranische Frauen protestieren ohne Schleier auf den Straßen und riskieren dabei ihr Leben.

Die Autorin Jina Khayyer versucht in ihrem fiktionalen Roman, all diesen Frauen ein Gesicht zu geben.
Ihre Protagonistin Jina, in Deutschland aufgewachsen und mit persischen Wurzeln, reist nach Teheran. Dort trifft sie nicht nur auf die vier Schwestern ihres Vaters, sondern auch auf ihre eigene große Schwester und ihre Nichte.

Durch diese vielen Frauenstimmen entsteht ein eindrucksvolles Mosaik weiblicher Erfahrungen.
Wir werden in die Geschichte des Iran zurückgeführt – in eine Zeit, in der Frauen unter Schah Mohammad Reza Pahlavi mehr Freiheiten genossen, Bildung und Berufschancen erhielten und moderne Kleidung tragen durften.
Doch auch diese Ära war von politischer Repression geprägt, der Schah ließ Oppositionelle verfolgen und regierte zunehmend autoritär.
Mit der Islamischen Revolution von 1979 änderte sich das Leben der Frauen radikal:

„Von einem Tag auf den anderen mussten wir uns den Männern vollkommen unterordnen, wir durften nur mit ihrer Einwilligung arbeiten, verreisen, unsere Eltern besuchen, einen Reisepass besitzen, uns scheiden lassen, sie durften uns schlagen, vergewaltigen, uns jederzeit verstoßen, sie durften so viele Frauen haben, wie sie wollten, und wir durften nichts. Bis heute dürfen wir nichts. Mit neun Jahren können wir verheiratet werden, wir müssen unserem Mann hörig sein, wenn wir ihn betrügen, verurteilt uns das Ajatollah-Gesetz zum Tod. Tod durch öffentliche Steinigung.“
(Tolino, S. 71)

Jina Khayyer bringt uns ein wichtiges Stück iranischer Geschichte näher.
Auch wenn ich zwischendurch kleinere Längen verspürte, habe ich das Buch sehr gerne gelesen.
Es ist unfassbar, was den Frauen im Iran angetan wird – und ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass sich das eines Tages ändern wird.

Fazit:
Ein wichtiges, starkes Buch – große Leseempfehlung!
4½/5

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.10.2025
Foenkinos, David

Das glückliche Leben


weniger gut

DAS GLÜCKLICHE LEBEN
David Foenkinos
ET: 4.9.25

Éric steht kurz vor einem Burnout, als ihn seine ehemalige Klassenkameradin Amélie überraschend für einen Job im Ministerium für Außenhandel gewinnt. Anfangs scheint alles bestens zu laufen – bis Éric gemeinsam mit Amélie zu einer Dienstreise nach Seoul aufbricht. Dort soll er eine entscheidende Präsentation halten, um einen koreanischen Konzern davon zu überzeugen, eine Niederlassung in Frankreich zu eröffnen.

Doch Éric erscheint nicht zu dem Termin und Amélie ist nicht ausreichend vorbereitet, um kurzfristig einzuspringen. Der Kunde springt ab – und bevor Amélie ihre Enttäuschung äußern kann, kündigt Éric völlig unerwartet seinen Job, ohne eine Erklärung abzugeben.

Was war geschehen?
Bei einem Spaziergang durch Seoul, kurz vor dem entscheidenden Meeting, stieß Éric auf eine Möglichkeit, seinem Leben eine völlig neue Richtung zu geben.

Zurück in Paris wagt er einen Neuanfang – wie dieser aussieht, müsst ihr natürlich selbst herausfinden.

Das glückliche Leben ist eine Geschichte, die Mut machen und zum Nachdenken anregen soll. Das Hörbuch ist wunderbar von Richard Barenberg gelesen und transportiert die Atmosphäre sehr stimmig.

Allerdings liegt mir der Magische Realismus nicht besonders. Während mich die erste Hälfte des Romans fesseln konnte, hat mich die Wendung rund um die Inszenierung der eigenen Beerdigung leider verloren. Ich möchte nicht bestreiten, dass dieses symbolische Ritual für manche Menschen inspirierend sein kann – mir persönlich war es schlicht zu viel.

Fazit:
Ich bin überzeugt, dass dieses Buch viele Leserinnen und Leser finden wird – und das wünsche ich ihm von Herzen. Für mich als Liebhaberin realistischer Geschichten war es jedoch nicht ganz das Richtige.
Allen, die Freude am Magischen Realismus haben oder Das Café am Rande der Welt mochten, kann ich Das glückliche Leben aber auf jeden Fall empfehlen.

Bewertung vom 13.10.2025
Ebrahimi, Nava

Und Federn überall


sehr gut

UND FEDERN ÜBERALL
Nava Ebrahimi
ET: 29.8.25

In einem kleinen Ort im Emsland werden in der Geflügelfabrik Möllring täglich 650.000 Hühner geschlachtet. Hier begleitet Nava Ebrahimi sechs ganz unterschiedliche Menschen durch einen einzigen Tag – Menschen, deren Leben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben und die doch auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind.

Da ist zum Beispiel Sonja, die längst von Hühnern träumt. Eigentlich wollte sie nie in der Fabrik arbeiten – es sollte nur eine Übergangslösung sein, bis sich etwas Besseres findet. Doch dann durfte ihr kleiner Sohn in den betriebseigenen Kindergarten, und der war außergewöhnlich gut. Wie hätte sie ihn da wieder herausnehmen können? Nun steht sie Tag für Tag am Fließband, verdient wenig und sieht auch in ihrer Zukunft vor allem: Huhn. Ihre ältere Tochter wiederum begegnet ihr mit Schweigen – ein stiller Protest gegen all den Frust, den sie aus der Schule mitbringt. Heute Nachmittag will Sonja sich für einen Job in der Verwaltung bewerben und ihr Leben ändern ...

Sonja ist nur eine von sechs Stimmen, die Ebrahimi in diesem Roman zu Wort kommen lässt. Sie erzählt von Migration, vom Alltag Alleinerziehender, von Selbstbestimmung und von den leisen wie lauten Kämpfen des Lebens. Jede Figur bekommt ihren eigenen Raum, ihre eigene Sprache – das hat mir besonders gut gefallen.

Allerdings gab es für mich auch einige Längen, vor allem in der Geschichte von Peters Großmutter, die mich irgendwann etwas verloren hat. Trotzdem: Und Federn überall ist ein eindringliches Buch über Menschen, die noch auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt sind – und darüber, wie schwer dieses Suchen sein kann.

Fazit:
Ein kluges, fein beobachtetes Buch über das Leben am Rand und die Sehnsucht nach einem „Mehr“. Sehr Empfehlenswert!
3,5 /5

Bewertung vom 11.10.2025
Sabbag, Britta

Der Weihnachtskauz


ausgezeichnet

Ein ganz liebes Vorweihnachtsbuch!

DER WEIHNACHTSKAUZ
Britta Sabbag
ET: 1.10.2025

Kauz ist eigentlich immer schlecht gelaunt – so sehr, dass die anderen Waldbewohner ihn meiden. Während die Tiere voller Vorfreude das Weihnachtsfest vorbereiten – die Eichhörnchen basteln und die Vögel Schmuck sammeln – sitzt Kauz brummig auf seinem Baumstamm. Er beobachtet, wie alle gemeinsam lachen, arbeiten und Spaß haben. Tief in seinem Inneren wünscht er sich, dazuzugehören. Doch sein Stolz hält ihn zurück, und so wächst der Groll in seinem Bauch bis es fast schon weh tut.

Erst, als alle Tiere des Waldes ihn überraschend zum Fest einladen, merkt Kauz, was ihm wirklich fehlt: Gemeinschaft und Freundschaft. Doch wie soll er den ersten Schritt wagen? Da kommt ihm ein Zufall zu Hilfe – und vielleicht hat er so endlich die Chance, den anderen zu zeigen, dass hinter seiner mürrischen Art ein gutes Herz steckt …

Ein warmherziges Bilderbuch über Stolz, Freundschaft und das Überwinden der eigenen Mauern. Die liebevollen Illustrationen von Anika Voigt fangen den Zauber der Vorweihnachtszeit wunderschön ein.

Fazit: Ein herzerwärmendes Buch, das ich besonders für Kinder ab 4 Jahren empfehlen möchte – perfekt zum Vorlesen in der Adventszeit.
Klare Leseempfehlung:
5/5 Sterne

Bewertung vom 09.10.2025
Kicaj, Jehona

ë


sehr gut

„Ich habe mir gewünscht, mein Schweigen könnte mich unsichtbar machen“. (S.15)

Ë
Jehona Kicaj
ET: 23.7.25

„Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“ (S.11/12)
Jehona Kicaj ist die Tochter albanisch-kosovarischer Einwanderer, die in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen.
Ein Besuch bei einem Zahnarzt, der ihren völlig verspannten Kiefer untersuchen soll, weckt Erinnerungen an ihre Vergangenheit – an Szenen aus der frühen Kindheit in der Schule, aber auch an Besuche in der alten Heimat, dort, wo die Serben ihr Volk vertrieben und ihre Sprache verboten.

Jehona möchte keine Fehler machen, sie will perfekt sein – vor allem in der deutschen Sprache. Nur so, glaubt sie, kann man unauffällig und angepasst leben. Deshalb überdenkt sie jeden Satz, der ihr eigentlich schon auf der Zunge liegt, immer wieder – bis sie merkt, dass sie ihn gar nicht mehr aussprechen muss, weil das Thema längst ein anderes ist oder es ihr schlicht nicht mehr wichtig ist, etwas zu sagen.
Doch ihre Angepasstheit in Deutschland führt zu einer Entwurzelung in ihrer Heimat. Sie lernt die albanische Sprache nicht richtig und gewöhnt sich ab, das „R“ zu rollen – ein Laut, der in ihrer Muttersprache so bedeutsam ist.

Ë ist ein Buch, bei dem ich mich als Deutsche fremdgeschämt habe – für die mangelnde Einfühlsamkeit der Kindergärtnerin, für die Unsensibilität der Kommilitonen und an vielen anderen Stellen.
Wir können nur aus diesem Buch lernen.

Heute gibt es keine „Lesemäuse“ von mir, aber ich möchte euch verraten, dass ich das Buch an einem Tag gelesen habe und dass ich Jehona Kicaj für den kommenden Montag, den Tag, an dem der Deutsche Buchpreis 2025 vergeben wird, ganz fest die Daumen drücke. Ich wünsche mir, dass sie weder schweigen noch sich unsichtbar machen wird.
Toi, toi, toi!

Bewertung vom 07.10.2025
Gestern, Hélène

Rückkehr nach St. Malo


sehr gut

RÜCKKEHR NACH ST. MALO
Hélène Gestern
ET: 12.8.25

Es ist fast genau zwei Jahre her, dass Yanns Vater gestorben ist – Charles Kèranbrun, das sture, eigenwillige und wenig empathische Familienoberhaupt. Verstanden haben sich die beiden nie. Während sein Vater ihn unbedingt als Nachfolger im Familienunternehmen sehen wollte, zog es Yann schon früh fort. Nach dem Abitur verließ er die Bretagne und begann in Paris eine akademische Laufbahn, die ihn bis an die Sorbonne führte. Sein Zwillingsbruder hingegen stieg in die Reederei ein – doch ein tragischer Unfall sollte alles verändern.

Nun, Jahre später, steht Yann wieder auf dem Familiensitz der Couèrons in St. Malo – in dem Arbeitszimmer, das ihm als Kind stets verboten war. Dort stößt er auf alte Dokumente und Briefe seines Urgroßvaters Octave und dessen Frau Julia. Was zunächst seine wissenschaftliche Neugier weckt, entpuppt sich bald als Spur zu einem tief verborgenen Familiengeheimnis.

Hélène Gestern erzählt diese Geschichte auf mehreren Zeitebenen. Mit feinem Gespür für Atmosphäre lässt sie das Rauschen des Meeres und die raue bretonische Küste lebendig werden – man meint, den Wind und das Salz auf der Haut zu spüren. Während die erste Hälfte vor allem durch ihre bildreiche, atmosphärische Sprache besticht, entfaltet sich die Handlung in der zweiten Hälfte in einem zarten, ruhigen Tempo, das dennoch eine stetige Spannung trägt. Es ist kein klassischer Pageturner, doch ich hatte den starken Drang, immer weiterzulesen, um die ganze Geschichte der Familie Kèranbrun zu erfahren.

Fazit:
Eine Familiengeschichte über vier Generationen – bildhaft, atmosphärisch dicht und emotional fein erzählt. Ich empfehle das Buch allen, die sich den Duft der Bretagne und die stürmische See an einem Herbstabend ins Haus holen möchten.
4/5

Bewertung vom 06.10.2025
Menschik, Kat;Kutscher, Volker

Westend / Kat Menschiks Lieblingsbücher Bd.20


sehr gut

WESTEND
Volker Kutscher
ET: 4.9.25

Der Privatdozent und Historiker Prof. Dr. Singer besucht den 74-jährigen Kriminalkommissar a.D. Gereon Rath in seiner Seniorenwohnung. Offiziell möchte er die Entwicklung der politischen Systeme – von der Weimarer Republik über das Dritte Reich bis in die Nachkriegszeit – aus der Perspektive der Polizei beleuchten. Doch schnell wird klar, dass Singer weit mehr weiß, als er vorgibt: über Raths Lebensweg, seine früheren Kollegen und sogar über seine Ex-Frau.
Zunächst dreht sich das Gespräch um die berüchtigten Polizeimorde am Bülowplatz 1931. Doch bald nimmt das Interview eine unerwartete Wendung, die Rath äußerst missfällt. Spionage, Intrigen und die erstaunliche Karriere vieler „entnazifizierter“ Herren in hohen Ämtern nach dem Krieg rücken ins Zentrum.

Mit Westend beschließt Volker Kutscher die Geschichte um Kommissar Rath – diesmal in Form eines intensiven Kammerspiels. Vorausgegangen waren Moabit und Mitte, ebenfalls Bände aus der Reihe illustrierter Lieblingsbücher von Kat Menschik. Begleitet wird der Roman von Menschiks gewohnt kunstvollen Illustrationen, die das Buch zu einem kleinen Schmuckstück machen – literarisch wie optisch.

Besonders hervorheben möchte ich auch das Hörbuch: Walter Kreye, Leslie Malton, Julian Mehne und Timo Weisschnur verleihen den Figuren mit ihren Stimmen eine beeindruckende Lebendigkeit. Dadurch wird die dichte Atmosphäre des Textes zu einem wahren Hörerlebnis.
Fazit: Ein würdiger, atmosphärischer Abschluss der Rath-Reihe, der nicht nur die dunklen Kapitel deutscher Polizeigeschichte beleuchtet, sondern auch literarisch wie akustisch begeistert.
4/5