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Juma

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Insgesamt 178 Bewertungen
Bewertung vom 20.05.2025
Lehnertz, Waldi

Mord am Schätztag / Siggi Malich ermittelt Bd.2


ausgezeichnet

Was ist bloß ein Zeidis?
Selten habe ich mich über einen Krimi so amüsiert, das mag schon was heißen. Es wimmelt nur so von herrlich schrägen Figuren, allen voran Sigi, der Antiquitätenhändler, mit seinem Freund Anton, der wohl mehr Ahnung von Antiquitäten hat. Dazu gesellt sich Sigis Freundin Doro, die aber schon nach dem ersten Toten und rund 50 Seiten vom Erdboden verschwindet. Hilfsbereit tritt ihr Rollator fahrender Vater Isä auf den Plan, verstärkt durch einen schielenden Polizisten versucht das Quartett, die offensichtlich entführte Doro wiederzubeschaffen. Ein komisches Vergnügen, bei dem auch ein bisschen Blut und Tränen fließen. Das Autorenteam Waldi Lehnertz (mir nicht mal vom TV bekannt, welch Versäumnis) und Miriam Rademacher (mir schon bekannt durch „Im Blut“ und „Wintergrab“) gibt alles, um die amüsante Spannung aufrecht zu erhalten. Der Satz „Wir sind hier in der Eiffel und nicht in Guantanamo.“ ließ bei mir sämtliche Dämme brechen, einfach zum Totlachen. Nein, nicht totgelacht, aber herzlich. Natürlich wird die eingangs gestellte Frage „Was ist bloß Zeidis?“ am Ende ganz ordentlich aufgelöst, auch wenn ich es vollkommen blödsinnig fand. Aber von so weit her muss man eben seine Pointen erst mal holen und dann niederschreiben. Das kann bestimmt auch nicht jeder.
Fazit: Mit Witz und Ironie lesen sich die rund 300 Seiten schnell und leichtfüßig, ohne ins Triviale abzurutschen. Mir hat es Spaß gemacht, weil es gut Unterhaltung ist und Abwechslung in meine Lesegewohnheiten brachte. Gute 4 Sterne.

Bewertung vom 19.05.2025
Heine, Matthias

Verbrannte Wörter


ausgezeichnet

Gutes Hilfsmittel für sprachlich schwieriges Terrain

Ich kenne Matthias Heine von der „WELT“, habe dort auch schon von diesem Buch gelesen. Ich interessiere mich sehr für die deutsche Sprache und beobachte die aktuelle Entwicklung mit Sorge. Immer hatte ich beruflich mit (dem) Texten zu tun, später habe ich auch selbst Sachbücher geschrieben, in denen viele Worte aus Heines Buch Verwendung fanden. Gerade die richtige Wortwahl ist mir wichtig. Ich habe jüdische Vorfahren und wenn ich bestimmte Begriffe im Alltag höre, schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken. Mit diesen Gedanken im Kopf habe ich das Buch von Heine gelesen, ich müsste vielmehr sagen verschlungen.
Auf den Leser warten 103 Worterklärungen, die es in sich haben! Beim Duden Verlag, wo das Buch erschienen ist, finden Interessierte eine Leseprobe, in der auch das Inhaltsverzeichnis enthalten ist. Im Onlinebuchhandel ist diese Leseprobe offenbar nicht downloadbar.
Mit gefällt der Aufbau dieses kleinen Nachschlagewerks! Ein erklärendes Vorwort zur 2. aktualisierten und erweiterten Auflage, eine tiefergehende Einleitung, zu jedem erklärten Wort eine Empfehlung zur (Nicht)-verwendung, am Ende ein Inhaltsverzeichnis, das gleichzeitig wie ein Index aufgebaut ist. Warum das Inhaltsverzeichnis aber in so kleiner Schriftgröße gedruckt wurde, erschließt sich mir nicht. Platz am Ende ist doch wahrlich genug vorhanden.
Besonders die Einleitung habe ich langsam und mit Bedacht gelesen, für mich eine Unterrichtsstunde in Sprachentwicklung und -gebrauch, auch -missbrauch. Dass ich nicht mit allem konform gehe bzw. Parallelen zur heutigen Schreibweise gerade in den Print-/Internetmedien feststelle, liegt in der Natur der Sache. Wenn ich zum Beispiel auf Seite 22 lese "..., Propaganda müsse sich immer am Dümmsten ihrer Adressaten orientieren." (O-Ton Hitler in Mein Kampf), liegt bei mir die Vermutung nahe, dass das leider auch heute nicht ganz ausgeschlossen ist. Ein Begriff Heines gefiel mir besonders: "grobianische Umgangssprachlichkeit", auch da fallen unsere Medien ab und zu bei der Wahl der Worte nicht sonderlich positiv auf.
Die behandelten Wörter und Phrasen sind alphabetisch geordnet, von Absetzbewegung über alttestamentarisch, Arier, ausrichten, Blockwartmentalität, Eintopf, Gleichschaltung, innerer Reichsparteitag, Judenstern, S wie Siegfried bis hin zu Weltanschauung und zersetzen finden sich hochinteressante Analysen. Ich habe mir mitunter fast verwundert die Augen gerieben, was mir im Alltag bisher alles nicht aufgefallen war. Vielleicht hätte es den Rahmen gesprengt, aber das eine oder andere heute gebräuchliche oder „verbrannte“ Wort hat mir doch gefehlt. Zum Beispiel Muttertag oder Endlösung.
Ich kann natürlich hier nicht zu 103 Einträgen einen Kommentar abgeben, aber meine Gedanken zum Wort „Gutmensch“ möchte ich als Beispiel anführen. Ich bin kein Nietzscheaner, aber der auf Seite 125 zitierte Satz von Nietzsche in Bezug auf "Diese ›guten Menschen‹ ..." liegt aus meiner Sicht auch heute sehr nahe an der Wahrheit. Wenn politische Einsicht und Pragmatismus mit der Moralkeule bekämpft werden, ist das für eine funktionierende Gesellschaft eher abträglich.
Das Wort Krise habe ich zuvor nicht mit nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung gebracht, da es sich auf so viele heutige Probleme und Störungen bezieht, dass der "Untergang" mir gar nicht mehr in den Sinn kam.
Matthias Heine bezieht sich bei seinen Erklärungen im Buch nicht nur auf den Gebrauch der Wörter heute und in der Nazizeit, er bezieht auch die Benutzung in der DDR mit ein. So z. B. bei Kulturschaffende, die ich als ehemalige DDR-Bürgerin nicht unbedingt mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachte. Ich habe mich schon früher mit dem Wortschatz der Nazis, aber auch der DDR auseinandergesetzt. In "Giftige Worte der SED-Diktatur" von Ullrich Weißgerber findet man auch Begriffe wie „asozial“, „entartet“, „Hetze“ und „Zersetzung“. In der DDR wurde sehr ähnlich argumentiert wie zu Nazizeiten, nur eben mit anderen Vorzeichen.

Fazit: Für mich ist die Lektüre sehr anregend und auch lehrreich gewesen. Heine hat einen sehr gut lesbaren Stil, seine Erklärungen sind schlüssig formuliert. Vieles war mir bekannt, aber es noch einmal erklärt zu bekommen und neu darüber nachzudenken, das war das Lesen wert! Ich empfehle dieses Buch jedem, der sich mit der deutschen Sprache beschäftigt.

Bewertung vom 16.05.2025
George, Nina

Die geheime Sehnsucht der Bücher


ausgezeichnet

Selbstgemachte und andere Kalamitäten

„Das Lavendelzimmer“ und „Das Bücherschiff des Monsieur Perdu“ bilden die Grundlage für den neuen Roman von Nina George. Ich habe leider erst mit dem dritten Buch angefangen, Monsieur Perdu kennenzulernen. Vielleicht wäre es doch hilfreich, zu wissen, was einen erwartet.

Die Idee der Literarischen Apotheke in der Ankündigung des Buches fand ich so berückend, dass ich unbedingt lesen wollte, was da auf dem Bücherschiff geschieht. Außerdem hat mir das Cover so gut gefallen, das müsste doch eigentlich ein tolles Buch sein. Hoffte ich. Nach mehr als der Hälfte des Romans dachte ich aber tatsächlich ans Aufgeben. Der Wortspiele – die zu Beginn recht witzig und einfallsreich waren – war ich langsam überdrüssig und die Handlung mäanderte hin und her. Anstatt eines Roten Fadens hatte ich wohl zu viele vor Augen. Aber wie das so ist mit dem Lesen, der Mensch ist eben auch neugierig. Wie würde das ausgehen, was hält die Autorin noch in der Hinterhand? Bücher konnten es kaum sein, derer gab es schon reichlich.

Und dann begann das Buch mich tatsächlich zu fesseln, das Rätsel um die junge Françoise und ihre Mutter wurde aufgelöst, Pauline würde vielleicht doch glücklich werden, Perdu ist und bleibt der Mann fürs „Psychologische“… Ich will nichts verraten, nur so viel, dass es mir am Ende doch Freude gemacht hat, dieses Buch.

Lässt Nina George auf Seite 303 so etwas Selbstkritik durchscheinen? Zitat: „Na ja, sie musste halt dreihundert Seiten vollkriegen, der Druck ist sonst im Verhältnis so teuer.“ Aber man kann es bekanntlich nicht jedem recht machen, so sind es halt über 330 Seiten geworden. Mir hätten vielleicht 250 gereicht.

Einige Details haben mich sehr beschäftigt, z. B. die Sorge der zwölfjährigen Françoise um ihre Mutter. Das Geschilderte ist kein Hirngespinst, ich habe während meiner Berufstätigkeit den Verein Young Carers kennen gelernt, der sich explizit um pflegende Kinder kümmerte, ihnen Beistand und Hilfe gab, Freizeiten und Ferienlager organisierte. Das funktioniert aber nur, wenn die Umgebung überhaupt etwas mitbekommt von der familiären Katastrophe. Diesen Teil des Romans empfand ich als sehr gelungen, den Zwiespalt, die Angst, die Scham des Kindes zum Thema zu machen. Die Literarische Apotheke von Perdu passt jedenfalls hervorragend dazu.

Auch Pauline ist als „Azubine“ von Perdu mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Insbesondere ihr Äußeres macht ihr zu schaffen, denn jeder, der sie ansieht, sieht ihre arabischen Wurzeln. In Frankreich sind Vorurteile gegen die Eingewanderten offensichtlich nicht selten, was vielleicht auch aus der relativ hohen Prozentzahl der dort lebenden Einwohner mit Migrationshintergrund und der französischen Geschichte resultiert. Dass und wie sich das nicht nur im Alltag, sondern auch in der Liebe widerspiegelt, kann man bei Paulines Geschichte gut nachvollziehen.

Dieses Zitat von S. 320 muss ich noch hinzufügen: „Wie konnte das denn sein, dachte Françoise, so lange nicht miteinander zu reden. In Geschichten war das so, aber auch im Leben?“ — Und ich beantworte die Frage gleich selbst: ja, das Leben schreibt noch viel schrägere Romane. 46 Jahre Schweigen waren bei mir echt, ich kenne keinen Roman, der das übertroffen hat. Deshalb finde ich dieses Buch mit seinen vielen ausgedachten Unwahrscheinlichkeiten auch gar nicht so besonders unwahrscheinlich.

Alle Protagonisten waren recht intensiv, einfach starke Charaktere, haben sich aber aus meiner Sicht gegenseitig ein bisschen ausgebootet. Perdu ist für mich der mit den tollsten Ideen, aber sein leises Charisma reicht nicht für meine Nummer Eins. Zuerst war es Françoise, die ich am meisten liebte, nun, zum Schluss ist es eher Pauline.

Das zukunftsfrohe Ende und „Die Wälder der Zeit“ sind emotionale Höhepunkte dieses Romans. Schön!

Fazit: Ehrliche Leseempfehlung, ein bisschen Geduld und viel Freude an sprachlicher Akrobatik und „Metapherstreubomben“ setze ich voraus.

Bewertung vom 15.05.2025
Buchsteiner, Jochen

Wir Ostpreußen


ausgezeichnet

Nicht nur 80 Jahre zurück
Jochen Buchsteiner, mir bekannt als Journalist, der viele interessante Themen bei der FAZ aufgreift, ist zurück in die Vergangenheit gereist mit seinen Gedanken. Die Aufzeichnungen seiner Großmutter bilden den privaten Rahmen für ein Buch, das weitaus umfangreicher über Ostpreußen berichtet als über die Familiengeschichte.
So erfährt der Leser vieles über Ostpreußens Geschichte, Land und Leute, Dichter und Denker. Wer das Glück hat, überhaupt keine Vorfahren, die aus ihrer Heimat flüchten mussten oder vertrieben wurden, zu haben, der kann sich wohl glücklich schätzen. Denn die Traumata von Flucht, Vertreibung und Neuanfang belasten nicht nur diejenigen, die es direkt erlebt haben, die Traumata sind in den nachkommenden Generationen immer noch tief verwurzelt. Meine Vorfahren mussten Meseritz, das jetzt in Polen liegt verlassen, ich weiß, wovon Buchsteiner schreibt. In der DDR durften sie nur als Umsiedler bezeichnet werden. Eine sehr prosaische Umschreibung der Tatsachen. Dass Buchsteiners Großmutter Else eine so pragmatische und tapfere Frau war, hat nicht nur ihr und ihren Kindern, sondern auch vielen anderen das Leben gerettet. Wie schwer später der Neuanfang auch fiel, sie hatte überlebt und konnte noch im hohen Alter ihre Erinnerungen genau wiedergeben. Ein Glücksfall, nicht nur für den Autor, auch für die Leser dieses Buches.
Buchsteiner hat sich mit der Materie sehr intensiv auseinandergesetzt, das merkt man mit jedem Kapitel mehr. Seine negativen Eindrücke vom „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ kann ich nur bestätigen, ich empfand die Ausstellung als beschämend – gefördert von der Bundesregierung! –, beschämend ist vor allem die vorherrschende Distanz und Emotionslosigkeit im Bezug auf die Verluste und Opfer der deutschen Zivilbevölkerung.
Sehr interessant sind die Erlebnisse des Autors in Polen, es ist vor Ort dann doch anders, als man es aus Büchern liest. Und die Kontakte zu jungen Polen, die zeitweise auch zu Missverständnissen führen und viele Vorbehalte zeigen sind etwas , dass ich aus der Familienforschung meines Mannes im Heimatkreis Schlochau kenne: Die Vorbehalte gegen Deutsche sind weitergegeben und „vererbt“, es geht schnell, dass die polnische Seite sich zurückzieht und sehr reserviert ist gegenüber den neugierigen Deutschen. Offenbar ist da auch immer noch die Angst, man könnte ihnen Vorhaltungen machen, weil sie jetzt im ehemaligen deutschen Gebiet leben. Sehr dünnes Eis, das merkte auch der Autor.
Ganz am Ende in der Danksagung schreibt Buchsteiner, dass er bereits seit 1999 die Gedanken über dieses Buch mit sich trägt. Mich wundert das nicht, über die eigene Familie zu schreiben, bedeutet auch immer die Gefahr, sehr private Empfindungen, auch die eigenen, zu verletzen. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung. Das breite Repertoire an Quellen musste vom Autor für seine historischen Texte auch erst einmal studiert werden, Recherchen ziehen Recherchen nach sich, da dauert die Fertigstellung eines druckreifen Manuskriptes eben Jahre. Ich kann zum Ergebnis nur gratulieren. Dass mir trotz allen Lobs der Schreibstil nicht immer gut gefallen hat, ist eher subjektiv.
Obwohl ich keine Vorfahren in Ostpreußen hatte, hat mich dieses Buch doch sehr gefesselt. Und ich habe meine Geschichtskenntnisse gut aufgefrischt. Insbesondere die Entwicklung der Stadt Königsberg, heute russisch Kaliningrad, der der totale Garaus gemacht wurde, wird umfassend betrachtet. Die Bezüge zur aktuellen Situation beiderseits der Grenze lassen nichts Gutes ahnen, man kann nur hoffen, dass die Nato russischen Attacken gewachsen ist.
Insgesamt sage ich als Fazit: Leseempfehlung! Das Thema passt zum Tag der Befreiung, den wir gerade zum 80. Mal begangen haben. Ich freue mich, dass auch heute noch darüber so beherzt geschrieben wird und wünsche dem Buch viele Leser. Fünf von fünf Sternen sind ehrlich verdient.

Bewertung vom 11.05.2025
Bretzinger, Otto N.

Pflegefall (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es kann jeden (be-)treffen

Der Autor Otto N. Bretzinger ist mir schon von anderen Ratgebern (Erben, Vererben, Testament, Vermietung etc.) gut bekannt. Er bietet dem interessierten und Hilfe suchenden Leser hier mit "Pflegefall" ein übersichtliches Kompendium zu unzähligen Fragen, die damit im Zusammenhang stehen. Gerade im Alter sollte sich jeder mit der Thematik auseinandersetzen und zumindest einige Grundkenntnisse haben, was es bedeutet, ein Pflegefall zu werden oder plötzlich einen in der Familie zu haben. Ich bin 70 und musste feststellen, dass schon ein simpler Knöchelbruch das Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellt. Wie mag es erst Menschen gehen, die auf Dauer in eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit kommen. Wenn dann auch noch die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind, wie Lesen, Sprechen oder Hören, ist es problematisch, sich noch selbst zu informieren. So wendet sich ja das Buch auch an Pflegende und Pflegebedürftige.
Mich haben besonders die Kapitel angesprochen, in denen erklärt wird, wo und wie Anträge auf Leistungen zu stellen sind und wie man sich auf die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst vorbereitet. Das ausführliche Kapitel zu den Leistungen der Pflegeversicherung hat mir gezeigt, dass es wesentlich mehr Möglichkeiten gibt, als man gemeinhin denkt. Und dass bei weitem nicht alles, was man sich wünschen würde, von der gesetzlichen Pflegeversicherung abgedeckt wird.
Fazit: ein gut lesbarer Ratgeber, den man unbedingt im Hause haben sollte. 5 Sterne (besonders für die gute Lesbarkeit und die ausführliche Betrachtungsweise).

Bewertung vom 11.05.2025
Ebert, Michael

Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt null Prozent (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

I’m giving it all oder wie man Krieger wird
Die Geschichte des Hannes Hennes ist ungewöhnlich, nicht frei von Komik und Tragik, und wird ganz wunderbar erzählt von der perfekten Sprecherin Irina Scholz (mir z. B. bekannt durch „Café Engel“ oder die Müttertrilogie).
Wie es kommt, dass dieser eher durchschnittliche Mathelehrer Hannes bei einem Männerseminar „Mannsein und Krieger werden“ landet, der tatsächlich einen Bruder hat, welcher einen Nobelpreis errang, der auf dessen Nobelpreisfeier sein darf, der sich immer noch über seinen Vater ärgert, der mit ihm nicht so viel Geduld hatte, dass er vielleicht auch einen Preis hätte erringen können. So viele Konjunktive, so viele verpasste Möglichkeiten. Aber genauso viele Dramen, die der eigentlich furchtbar schüchterne Hannes erlebt, der die Schuld am Tod eines Gymnasiasten nicht verkraftet, der die Beinaheschuld am nicht eingetretenen Tod seiner Ehefrau nicht wagt zu erklären. Doch er wird auch eine unwahrscheinliche Rettungsaktion durchführen. Und er weiß erstaunlich viel über Neutrinos.
„Große Zahlen bringen mich dazu, mich weniger wichtig zu nehmen.“, das erfährt Hannes by the way, nachdem er auf etwas gewaltsame Weise sein Seminar beendet hatte. Er findet einen neuen Freund und alles sollte nun doch noch gut werden.
Es ist ein Roman, der nur auf den ersten Blick eine Satire ist, der Käufer, Hörer bzw. Leser, hat aus meiner Sicht eine psychologisch tief gehende und philosophische Erzählung erworben. Was ist normal? Wer ist normal? Diese Fragen wird sich am Schluss jeder Rezipient selbst beantworten müssen. Der Autor Michael Ebert bleibt im vagen, dass er seinen Antihelden sehr mag, merkt man aber auf jeder Seite. Auch wenn Hannes Mathematiker ist, muss man Mathematik nicht lieben oder verstehen, dieser verrückte Hannes wächst einem trotzdem sehr ans Herz. Mir jedenfalls.
Michael Ebert benutzt eine angenehm eindringliche Sprache, Wortwahl, Stil und Rhythmus der Sätze sind authentisch und selbst beim Stammeln noch verständlich. Irina Scholz hat sich mit Eberts Sprache symbiotisch vereinigt, auch wenn von Zeit zu Zeit ihre Betonung nicht ganz den richtigen Ton trifft.
Fazit: Auf dem Buchcover findet sich ein Satz von Juli Zeh: »Ein mitreißendes Buch! Michael Ebert erzählt mit großer erzählerischer Kraft, der man sich gern überlässt.« Besser kann ich das auch nicht schreiben. Beim Hörbuch muss ich dann nur noch hinzufügen, dass es mitreißend gelesen wird von Irina Scholz.
Tatsächlich fünf Sterne.

Bewertung vom 11.05.2025
Clark, Julie

Die unsichtbare Hand (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Perfekt inszeniertes Familiendrama
Die Leseprobe des neuen Thrillers von Julie Clark gefiel mir bereits so gut, dass ich auch das restliche Buch unbedingt lesen wollte. Ich habe es nicht bereut, von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur ein gewöhnlicher Thriller, sondern ein genial konstruierter Roman, der mich tatsächlich gefesselt hat.
Clark arbeitet mit unterschiedlichen Mitteln und Ebenen, Zeitebenen und verschiedenen Details, die im Laufe der Zeit ans Licht kommen.
Olivia Dumont ist eine anerkannte Ghostwriterin, die sich in ziemliche finanzielle und berufliche Schwierigkeiten gebracht hat und nun mit einem Blockbuster der speziellen Art hofft, all ihre Probleme zu lösen. Sie ist seit ihrem fünften Lebensjahr beim Vater Vincent Taylor aufgewachsen, die Mutter entfloh der Familie bzw. Familientragödie und ließ beide allein. Der überforderte Vater, dem der Makel des ungeklärten Geschwistermordes anhängt, gibt Olivia später ins Internat und sie findet nicht wieder zu ihm zurück. Es scheint eine Trennung auf Lebenszeit zu werden. Ihrem Lebenspartner Tom erzählt sie nichts davon, er glaubt, ihre Eltern seien tot.
Als Olivia den Auftrag für ein neues Buch erhält, hofft sie, ihre Finanzen sanieren zu können. Aber der Auftrag ist heikel, sie soll die Memoiren ihres Vaters schreiben, der auf Grund einer alzheimerähnlichen Erkrankung dazu nicht mehr in der Lage ist. Sehr schnell stellt sich heraus, dass ihr vertragliches Schweigegelübde ebenso hinderlich ist wie der unaufgeklärte Mord an Poppy, der Schwester, und Danny, dem Bruder ihres Vaters. Zwischenzeitlich rastet ihr Vater bei der Zusammenarbeit total aus, verwechselt sie mit ihrer Mutter oder lügt, dass sich die Balken biegen.
Aus der heutigen Zeit wechseln die Kapitel ins Jahr 1975 und man sieht die Vorgänge aus der Sicht der drei Geschwister, aus Tagebüchern, Filmen, Manuskripten und kurzen Interviews mit Zeitzeugen. Der Leser rätselt von Beginn an mit, was der Anlass war und wie der Mord geschah! Und er rätselt bis zum Schluss. Langsam dringt Olivia in die tiefsten Abgründe vor. Gut so, Spannung pur.
Mir haben die Protagonisten gefallen, kein Einziger hatte sofort meine volle Sympathie, jeder hat Ecken und Kanten und doch fieberte ich mit. Der Schreibstil ist gut und flüssig, kein verkopfter Satz stört den Ablauf der Geschichte. Also auch eine gute Übersetzung, ich sah mich nicht genötigt, mir den englischen Originaltext anzuschauen, mir hat es einfach so gefallen, wie es geschrieben ist.
Das Cover basiert auf einem alten Filmausschnitt und gibt die Atmosphäre, in der das Verbrechen geschah, gut wieder. Was mir nicht gefällt ist das zusätzlich aufgedruckte Cover des letzten Buchs von Clarke, es lenkt ab und passt nicht zur Gesamtgestaltung. Das gleiche Stilmittel wurde bei ihrem Roman „Der Plan“ verwendet, auch dort wirkt die schöne Gestaltung mit der großen Welle etwas zerrissen.
Von mir die vollen 5 Sterne, auch dafür, dass Olivias fragile Beziehung zu Tom nicht zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde. Der Titel „Die unsichtbare Hand“ hätte auch „Dunkle Stunden“ oder „Verborgene Wahrheiten“ heißen können. Der Originaltitel „The Ghostwriter“ trifft es aus meiner Sicht gar nicht so gut, ich sehe eher die unausgesprochenen Familiengeheimnisse im Fokus. Von mir eine Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.04.2025
Kaufmann, Claudia

Das Haus der Goldmanns


ausgezeichnet

Schwere Last auf drei Generationen
2023: Britta lebt im Prinzip in den Tag hinein, wenn das Geld knapp wird, sucht sie sich Arbeit. Als sie nun mit Anfang vierzig einmal mehr eine Gelegenheit ergreift und ins Immobiliengeschäft wechseln will, macht ihr ausgerechnet ihre Mutter einen Strich durch die Rechnung. Da Britta die einzige Verwandte ist, muss sie notgedrungen von Hamburg nach München, um sich um eine adäquate Unterbringung für ihre Mutter zu kümmern. Dass sich das als wesentlich schwieriger erweist als zuerst angenommen, ist logisch. Britta hatte noch nie für jemanden Verantwortung übernehmen müssen. Plötzlich hat sie eine demente Mutter, Margit, mit der sie eigentlich nichts verbindet. Dass sie im Verlauf des Romans doch eine Bindung einstellt, stimmt hoffnungsvoll.
Die Autorin Claudia Kaufmann, vor allem durch ihre Arbeit bei Fernsehen bekannt, hat einen Drei-Generationen-Roman geschrieben, der nach und nach viele erschütternde Details ans Licht bringt. Einerseits erzählt sie die Geschichte von Brittas Großeltern Elisabeth und Karl und ihrer Mutter Margit, andererseits ist Britta als Ich-Erzählerin diejenige, die versucht, die losen Enden der Vergangenheit zusammenzuführen. Der Leser erfährt die ganze Geschichte, aber Britta wird bis zum Schluss warten müssen, ehe sich ihr die ganze Dramatik ihrer Familiengeschichte enthüllt.
Nationalsozialismus und Holocaust spielen eine bedeutende Rolle im Roman, der 1933 beginnt, aber auch den Krieg, die Nachkriegsjahre, die 68er und das Heute umfasst. Die Protagonisten werden realistisch und auch drastisch dargestellt. Ich fand es besonders interessant, Einblick in eine junge Familie (Elisabeth und Karl) zu gewinnen, die aus einfachsten Verhältnissen dank SA-Mitgliedschaft und „richtiger“ Gesinnung zu angesehenem Kleinbürgertum aufsteigen kann. Und welcher Preis dafür zu zahlen war.
Das Buch ist durch seine häufigen Perspektivwechsel interessant aufgebaut, man legt es tatsächlich ungern aus der Hand. Die angenehme Sprache und die fesselnde Geschichte haben mir gut gefallen. Es ist ein fiktiver Roman, der in einer sehr realen Zeit spielt und auch heutige Probleme – in diesem Fall die Demenz und ihre Auswirkungen nicht nur auf den Erkrankten, sondern auch auf das ganze Umfeld – nachvollziehbar macht. Inklusive: ein Blick hinter die Kulissen der Pflegeeinrichtung.
Wäre es nach mir gegangen, dann hätte dieser Roman auch über Karl, Elisabeths Ehemann, noch etwas mehr berichtet, oder über die Zeit, die Margit aus München evakuiert bei fremden Menschen aufwachsen musste. Auch ein Kapitel über die Goldmanns und ihr Schicksal hätte ich gern gelesen. Und zu guter Letzt wären auch die Zukunftspläne von Britta noch eines längeren Kapitels würdig, an dieser Stelle endete mir das Buch etwas zu abrupt.
Ich persönlich habe mit vielen Problemen, die im Buch angesprochen wurden, direkt oder indirekt Kontakt gehabt, sei es der Holocaust und seine Auswirkungen bis heute, sei es der Nationalsozialismus, das ausgegrenzt sein meiner Mutter, die Nachwirkungen 10jähriger Haft meines Vaters in Hitlers Zuchthäusern, sein Alkoholismus, Erkrankung und Tod meiner Mutter, Beziehungsprobleme zu meinen Töchtern und Enkeln, es gibt viele Dinge, an die mich das Buch unweigerlich erinnert hat und die bei der Rezeption von Literatur bei mir immer eine prägende Rolle spielen. Deshalb bin ich aber auch dankbar für diese Art von Romanen, die in der Lage sind, ein ganzes Panorama an Tragödien und Gefühlen zwischen zwei Buchdeckel zu bekommen. Es lässt dann auch einmal einen Perspektivwechsel bei Betrachtung der eigenen Probleme zu.
Fazit: ein interessanter Roman über drei Generationen, die in ihrer Zeit bestehen und widerstehen und es doch nicht immer schaffen, für sich die Liebe und den Erfolg zu erreichen, den sie sich wünschten. Lesenswert und von mir eine gute Empfehlung.

Bewertung vom 23.04.2025
Müller, Melissa

Mit dir steht die Welt nicht still (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Wovor soll ich noch Angst haben,
könnten die Worte von Nanette Blitz, der wundervollen Hauptperson in diesem Buch, gewesen sein, wenn sie über ihre Traumata hätte sprechen wollen. Wovor soll ich noch Angst haben, diese Worte stehen sinnbildlich für das ganze Buch, für Nannes ganzes Leben. Für ihre Vergangenheit und ihre Zukunft.
... (gekürzt)
Der Leser lernt die Protagonisten kennen, Nanette Blitz und John Konig, ihre Familien, ihre Herkunft, die tragischen Begebenheiten, die beide nach dem Krieg als Waisen in der Welt lassen. Nanne kommt aus einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus in Amsterdam, John ist ungarischer Jude und schon vor Kriegsbeginn in England wohnhaft. Nanne wird wie die Mehrzahl der niederländischen Juden mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Westerbork ins Lager gebracht, Zwischenstation für die Deportationen nach Sobibor, Auschwitz und in andere KZ. Und nach Bergen-Belsen. Für wenige sollte es dort einen Austausch geben gegen gefangene deutsche Wehrmachtsoldaten oder andere Personen. Ihr Vater versuchte bis zu seinem plötzlichen Tod auf der Lagerstraße, die Familie zu retten. Alles Geld, Gold und Diamanten halfen nicht. Dass er mit seiner naiven Zuversicht vor Beginn der deutschen Besetzung der Niederlande jeden Gedanken an Emigration ablehnte, wird er sich nie verziehen haben. Denn das war eigentlich das Todesurteil für die ganze Familie. Nannes Mutter und Bruder Bernard werden in den Tod geschickt. Nanne ist die einzige Überlebende, als Bergen-Belsen befreit wird. Dass das sechzehnjährige Mädchen zu diesem Zeitpunkt nur noch dreißig Kilogramm wiegt und dem Tod viel näher ist als dem Leben, realisiert sie erst später während der Rekonvaleszenz. Es findet sie ein englischer Offizier, dem sie sich anvertrauen kann, weil sie englisch spricht. Er wird ihr das Leben retten. Erst Jahre später wird Nanne nach London zu Verwandten ziehen und dort ein zweites Leben beginnen. Aber sie ist schwer traumatisiert und sehr fragil.
1951 lernt Nanne auf einer Feier John Konig kennen, der gerade im Begriff ist, seine Zelte in England abzubrechen und nach Brasilien auszuwandern. Sechs Wochen und einige Zufälle später sind sie zwar noch kein Paar, aber sie werden für zwei lange Jahre ein – wunderbare Liebesbriefe schreibendes – Paar. Bis zum Happyend dieser Fernbeziehung erfährt man im Buch die ganze Geschichte dieser beiden so vollkommen verschiedenen Menschen, ihre Sorgen, ihre Träume, ihre Vorurteile, ihre Hoffnungen. „Solange der Mensch lebt, hat er Hoffnung, heißt es im Talmud.“ Danach richtet sich vor allem John, er ist ein unverbesserlicher Optimist, aber er bezeichnet sich selbst auch als einen „realist Romantic oder einen romantic Realist“. Diese Selbsteinschätzung findet in seinen Briefen beredten Ausdruck.
Für beide, die als Holocaustüberlebende ganz andere Sorgen und Nöte haben als ihre nichtjüdischen Kollegen, Bekannten oder Freunde, egal ob in England, in den Niederlanden oder in Brasilien, stellt sich immer wieder die Frage „Warum ausgerechnet ich?“, Warum habe ich überlebt? Besonders Nanne kann die Gräuel von Bergen-Belsen nie ganz vergessen, kaum jemals aus dem Alltag verdrängen. Das war in London so und so wird es auch in Brasilien bleiben, die Vergangenheit zieht auch mit um die halbe Welt.
So sträubt sich Nanne selbst bei ihren eigenen Kindern, die im Laufe der Jahre heranwachsen, auf Fragen nach dem „früher“ zu antworten. Sie verschließt sich oft und es wird viele Jahre dauern, bis sie bereit ist als Zeitzeugin in der Öffentlichkeit aufzutreten. Da ist sie schon über 70.
... (gekürzt)
Die zeitliche Abfolge der Briefe, die eingeschobenen Erinnerungen und Rückblicke, zusammengestellt aus Interviews und anderen Quellen, die Gedanken der Autorin, die all das ordnen und in einen rezipierbaren Text für die Leser bringen will, haben mir sehr gefallen. Schmunzeln musste ich bisweilen über den österreichischen Klang, den ich auch von anderen österreichischen Autoren kenne. Früher dachte ich teilweise, es wären Fehler, aber ein wenig anders als die Grammatik in Deutschland verwendet wird, ist es tatsächlich. Ich habe mich in diesem Buch jedoch wirklich zu Hause gefühlt, das passiert nicht oft.
... (gekürzt)
Fazit: Ein sehr emotionales Leseereignis, das mich stark und lange bewegt hat. Ich gebe gern eine uneingeschränkte Leseempfehlung und unbedingt fünf Sterne.

Bewertung vom 23.04.2025
Sands, Philippe

Die Verschwundenen von Londres 38


sehr gut

Hochinteressant, aber zu detailreich
„Zur Zeit des Putsches war ich ein Teenager und wusste wenig über Pinochet. In den folgenden Jahren besuchte ich Chile nicht, und die Chilenen, die ich kennenlernte, waren hauptsächlich Jurastudenten, die meine Vorlesungen hörten, oder Akademiker, die im europäischen Exil lebten.“ Das schreibt Philippe Sands im ersten Kapitel „London, Oktober 1998“. Ich hatte zur Zeit des Putsches in Chile gerade mein zweites Lehrjahr begonnen und ein guter Freund, ein chilenischer Student, der kurz davor zurück in die Heimat musste, verschwand für immer ohne jede Spur. Chile und die dortigen politischen Ereignisse interessierten mich seither. Dass Südamerika, einschließlich Chile, ein Zufluchtsort für deutsche Nazis und Kriegsverbrecher wurde, interessierte mich ebenso. Meine Familie hat während der Nazizeit unter Verfolgung gelitten und rund 120 jüdische Verwandte, auch mein Großvater, wurden er ermordet. Der Untertitel des Buches „Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“ traf sofort meinen Nerv. Ich bin tatsächlich ein Verehrer von Philippe Sands, „Rückkehr nach Lemberg“ und „Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht“ habe ich mit Begeisterung gelesen. Ich liebe auch die Sprache (bzw. die Übersetzung) von Philippe Sands, der weder gendert noch „geschlechtergerechte“ Ausdrücke und unnötige Doppelnennungen verwendet. So war „Die Verschwundenen von Londres 38“ direkt in meinen Fokus gerückt. Ein Buch, dass ich unbedingt lesen wollte.
Sands nähert sich der Thematik von mehreren Seiten. Und er schreibt „Durch meine Arbeit an internationalen Streitfällen habe ich gelernt, dass man durch den Besuch eines Ortes ein besseres Gespür für dessen Geographie und seine Durchdringung mit Geschichte entwickeln kann, als Worte allein es einem vermitteln können.“ Ich weiß nicht, ob es noch andere Schriftsteller gibt, die derart tief eindringen in die Materie von Menschenrechten, Völkermorden, Strafverfolgung der Täter, Aufarbeitung dieser speziellen Geschichtsthemen. Mit seinen Besuchen vor Ort und mit seinen Interviews bekommen seine Bücher neben den unumstößlichen Fakten eine sehr persönliche und empathische Seite.
Um wen oder was genau geht es in diesem über 500 Seiten starken Buch? Um den deutschen Naziverbrecher Walter Rauff und den chilenischen Diktator Augusto Pinochet, deren Wege sich in Chile kreuzten. Um Schuld und Sühne, um lebenslanges Suchen nach Tätern, die sich der Justiz entziehen, sich häuten wie die Schlangen und im Unterholz verschwinden. Detail- und kenntnisreich berichtete Sands über seine Recherchen und verknüpfte alles zu gut lesbarem Text. Mit diesem Buch über Londres 38 hat er aus meiner Sicht aber zu viel des Guten gewollt und geschrieben. Aus Detailreichtum wurde ausufernde Detailverliebtheit. Name reiht sich an Namen, Orte an Orte, Fußnoten an Fußnoten. Mir fiel es teilweise schwer, dieser Fülle an Informationen aufmerksam zu folgen.
Pinochet entgeht schlussendlich der Justiz, Rauff bleibt für den Rest seines Lebens ein (fast unbescholtener) Einwohner Chiles. Ihre Verbindungen in den 1970er Jahren und ihre kalte Machtausübung und Mordlust werden im Buch ebenso wie die Verbindungen zu DINA (Chiles „Gestapo“ während Pinochets Diktatur) und auch zum BND ausführlich dargestellt.
Fazit: Ein wichtiges und hochinteressantes Buch, dass mich vom Stil eher an eine wissenschaftliche Dissertation erinnerte. Und wie so oft die Erkenntnis: Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen. Das gute Beispiel der Nürnberger Gesetze hilft nur bedingt.