Benutzer
Benutzername: 
YukBook
Wohnort: 
München

Bewertungen

Insgesamt 308 Bewertungen
Bewertung vom 25.08.2018
Causse, Jean-Gabriel

Arthur und die Farben des Lebens


sehr gut

Man malt sich im Leben so manche Horrorszenarien aus, doch selten eines wie in diesem Roman. Der Autor und Farbdesigner Jean-Gabriel Causse konfrontiert uns darin mit einer Welt ohne Farben! Die Protagonisten Arthur Astorg und Charlotte da Fonseca müssen mit ansehen, wie eine Farbe nach der anderen verschwindet und eine Tristesse in schwarz, weiß und grau hinterlässt. Das heißt, auf Charlotte trifft dies nicht ganz zu, denn sie ist blind. Die Radiomoderatorin und Expertin auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung ist jedoch genauso besorgt wie alle anderen und sucht nach einer wissenschaftlichen Erklärung für das Phänomen.

Arthur wohnt gegenüber von Charlotte und ist ihr heimlicher Verehrer. Bis vor kurzem arbeitete er noch in der Buntstiftfabrik Gaston Cluzel, die jedoch wegen Konkurs schließen musste. Ein pinker Buntstift, den er eines Tages Charlottes kleiner Tochter Louise schenkt, bringt ihn nicht nur seiner Auserwählten näher, sondern scheint auch der Schüssel dazu zu sein, die Farben wieder in die Welt zurückzuholen. Während der Lektüre wurde mir erst richtig bewusst, welche immense Bedeutung Farben in verschiedensten Lebensbereichen haben. Sie stellen den Verkehr sicher, regen unseren Appetit an, kurbeln den Konsum an und tragen wesentlich zur Lebensfreude bei.

Ein Ex-Mitarbeiter einer Buntstiftfabrik, eine blinde Farbexpertin, ein indischer Taxifahrer und Synästhetiker – Jean-Gabriel Causse hat ein witziges Ensemble für seine schöne Romanidee erschaffen. Als jedoch die chinesische Mafia ins Spiel kommt und sich die Ereignisse überstürzen, wirkt die Handlung und Auflösung etwas zu bemüht und konstruiert. So habe ich mich lieber vom typisch französischen Charme, dem humorvollen Schreibstil und den interessanten Anekdoten über die Symbolik der Farbe unterhalten lassen.

Bewertung vom 16.08.2018
Hanika, Beate T.

Das Marillenmädchen


gut

Die Vergangenheit hinter sich lassen und in die Zukunft blicken – das sagt sich so leicht, doch nicht jeder schafft es, loszulassen und zu vergessen. Besonders dann nicht, wenn man solch ein traumatisches Erlebnis hatte wie Elisabetta Shapiro, Ich-Erzählerin dieses Romans.

Jedes Mal, wenn die Jüdin nach mütterlicher Tradition aus den Früchten ihres Marillenbaumes Marmelade kocht und den Duft einatmet, kommen die Erinnerungen an ihre Familie hoch. Sie war gerade einmal neun Jahre alt, als ihre Eltern und ihre beiden älteren Schwestern Rahel und Judith 1944 ins KZ deportiert wurden, und kehrte als einzige Überlebende ins Familienhaus zurück.

Dass eines Tages die junge deutsche Balletttänzerin Pola zur Untermiete in ihr Haus einzieht, macht die Sache nicht leichter. Elisabetta führt ständig Zwiegespräche mit ihren verstorbenen Schwestern und durchlebt in ihren Gedanken die Vergangenheit ein zweites Mal. Die Autorin wechselt dabei nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählperspektive. So erfahren wir parallel von Polas enger Freundschaft mit einem Mädchen, das ebenfalls Rahel hieß, und welche Verbindung zu Elisabettas Leben besteht.

Beate Teresa Hanika schreibt bildgewaltig, intensiv und poetisch. Manche Szenen sind so beklemmend, dass sie noch eine ganze Weile nachwirken. Allerdings hatte ich immer wieder Schwierigkeiten, der Handlung zu folgen. Sowohl die Zeitebenen als auch die gleichnamigen Frauen lassen sich nur schwer auseinanderhalten und sorgen oftmals für Verwirrung.

Bewertung vom 13.08.2018
Abrahamson, Emmy

Wie ich mich auf einer Parkbank in einen bärtigen Mann mit sehr braunen Augen verliebte


ausgezeichnet

Diese Geschichte hat nicht nur einen verrückten Titel, sie ist auch viel zu verrückt, um wahr zu sein. Und doch erzählt Emmy Abrahamson in diesem Roman von ihren eigenen Erlebnissen, nämlich wie sie ihren Ehemann kennen- und lieben lernte.

Die Hauptfigur Julia ist Schwedin, gibt Englischunterricht am Berlitz Institut in Wien und fristet ein typisches Singledasein. Eines Tages lernt sie auf einer Parkbank den obdachlosen Kanadier Ben kennen und sofort funkt es zwischen ihnen. Julia ist nicht nur hin und weg von seinen schönen braunen Augen, sondern auch von seinem völlig anderen Lebensstil und seiner Selbstsicherheit.

Während Ben ihr schon bei der ersten Begegnung verkündet, dass sie heiraten und Kinder haben werden, regen sich bei Julia schnell die ersten Zweifel. Ihre anfängliche Begeisterung schlägt nach und nach in Wut und Frustration um, weil sie keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft sieht.

Emmy Abrahamson erzählt nicht nur eine bewegende und abenteuerliche Liebesgeschichte, sondern zeigt auch, wie eine einzigartige Begegnung das Leben auf den Kopf stellen kann. Es braucht viel Mut und Stärke, um seine Vorurteile abzulegen und Neues zuzulassen, wird dafür aber reichlich belohnt. Die Autorin schreibt so humorvoll und warmherzig, dass ich Julias Wandlung und emotionale Achterbahn mit höchstem Vergnügen und Tränen begleitet habe.

Bewertung vom 13.08.2018
Eliot, George

Silas Marner


sehr gut

Dieser britische Literaturklassiker von George Eliot alias Mary Anne Evans ist im Vorfeld ihres 200. Geburtstags in einer edlen leinengebundenen Ausgabe erschienen. Die Geschichte beruht auf einem klassischen Handlungsschema. Ein Fremder ist vor 15 Jahren in das Dorf Raveloe gezogen und führt ein Außenseiterdasein. Es handelt sich dabei um den jungen Leinweber Silas Marner, der in seiner Heimat Lantern Yard von seinem besten Freund hintergangen und aus der Gemeinde ausgestoßen wurde. Nachdem er nicht nur seine Verlobte, sondern alles verloren hat, was ihm je etwas bedeutete, lebt er in völliger Isolation und schürt dadurch das Misstrauen der Dorfbewohner.

Die Figur ist nicht gerade ein Sympathieträger, doch durch Eliots sprachlicher Finesse und psychologischem Gespür kann man seinen Groll, seine Resignation und Isolation gut nachempfinden. Der Webstuhl ist ein treffendes Symbol, um die mechanische Tätigkeit und den monotonen Alltag zu verdeutlichen. Silas’ einziger Lebensinhalt ist seine Arbeit und die Mehrung seines Goldschatzes. Doch sogar dieser wird ihm eines Tages gestohlen, so dass er vor dem Nichts steht. Erst als er ein Findelkind vor der Tür vorfindet, nimmt sein Leben eine positive Wende.

George Eliot hat ihre Botschaft, auch nach mehrfachen tragischen Rückschlägen nicht den Glauben und das Vertrauen in die Welt zu verlieren, in eine bewegende Geschichte verpackt. Das Findelkind Eppie, das Silas Marner adoptiert und großzieht, beschert ihm eine zweite Chance und verwandelt seine Verzweiflung und seinen Hass auf die Mitmenschen allmählich in Liebe und Warmherzigkeit. Ein interessanter Zug der Autorin ist, dass nicht nur der Leinweber, sondern eine zweite zentrale Figur, die sich als Vater des Kindes zu erkennen gibt, ebenfalls eine Läuterung durchmacht. Gespannt verfolgt man das Schicksal der unterschiedlichen Charaktere und taucht dabei in das ländliche Leben Englands zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein.

Bewertung vom 24.07.2018
Knausgard, Karl Ove

Im Sommer / Die Jahreszeiten Bd.4


sehr gut

Dies ist der vierte und letzte Teil der Jahreszeiten-Bände von Ove Knausgård. Er bleibt seinem Prinzip treu und führt uns durch seine Gedankenwelt in Form von Essays und Tagebuchnotizen. Auch diesmal nimmt er scheinbar belanglose Gegenstände und Lebewesen wie Rasensprenger, Schnecken, Fledermäuse oder Speiseeis unter die Lupe und stellt sie wie ganz einzigartige Geschöpfe dar. Wenn wir Früchten wie Johannisbeeren bisher keine besondere Bedeutung beigemessen haben, dann wird uns spätestens nach der Lektüre klar, welche Exklusivität sie besitzen.

Der Autor beschreibt zunächst die äußere Erscheinung und geht dann über zu den Erinnerungen, Stimmungen und Gefühlen, die die Dinge bei ihm auslösen. Dabei gibt er wie gewohnt viel Persönliches preis wie seine Schamgefühle oder Ängste vor autoritären Personen. In diesem vierten Teil zeigt er sich literarisch noch experimentierfreudiger als zuvor. So schlüpft er mitten in seinem Tagebuch in die Rolle einer Norwegerin und erzählt uns eine völlig fremde fiktionalisierte Geschichte, die im Zweiten Weltkrieg spielt. Mit diesem Part konnte ich allerdings nur wenig anfangen – er fiel zu sehr aus dem Rahmen.

Knausgårds besondere Stärke liegt für mich in den ungewöhnlichen Assoziationen und fantasievollen Vergleichen, zum Beispiel zwischen Kirschbäumen vor der Blüte und unscheinbaren Schülern, die ihre Pracht noch nicht entfaltet haben, oder zwischen Wespennestern und griechischen Stadtstaaten. Immer wieder war ich gespannt darauf, welchem Objekt er als nächstes seine Aufmerksamkeit schenken und ein Kapitel widmen wird. Die wunderschönen Aquarelle von Anselm Kiefer runden das schön gestaltete Buch ab und sind eine wahre Augenweide.

Bewertung vom 07.07.2018
Teir, Philip

So also endet die Welt


ausgezeichnet

Urlaub bedeutet für die einen Erlebnis und Abenteuer, für die anderen Rückzug und Erholung. In diesem Roman scheint der zehnwöchige Sommerurlaub der Familie Holmberg an der finnischen Westküste eher eine Flucht aus ihrem Leben zu sein.

Vater Erik, IT-Experte in einem Warenhaus, wurde kurz vor der Abreise entlassen, verschweigt es aber seiner Frau Julia und versucht, durch Unternehmungen mit den Kindern, später durch Alkohol, auf andere Gedanken zu kommen. Julia zieht sic zurück, um ihren zweiten Roman zu schreiben, verbringt jedoch mehr Zeit damit, ihr Leben und ihre Ehe zu hinterfragen.

In dieser seelisch labilen Lage ist es nicht verwunderlich, dass sie sehr empfänglich sind für neue Impulse. Durch die unerwartete Begegnung mit Julias einstiger Jugendfreundin Marika und ihrem Mann und Umweltaktivisten Chris oder mit Eriks Bruder Anders, der sie spontan besucht, lernt das Paar völlig andere Lebensformen kennen. Sehr spannend inszeniert der finnische Autor, wie der Personenkreis und damit auch die zwischenmenschlichen Spannungen immer mehr zunehmen.

Philip Teir räumt jeder einzelnen Figur, Erwachsenen wie Kindern, viel Raum ein, um ihr Seelenleben offenzulegen. Jeder scheint auf der Suche nach echten Gefühlen und einem passenden Lebenskonzept zu sein. Viele Metaphern und Symbole deuten darauf hin, dass der kleine Mikrokosmos für eine ganze Gesellschaft steht, die subtil seziert wird. Der Sogwirkung dieses Romans kann man sich nur schwer entziehen.

Bewertung vom 30.06.2018
Joyce, Rachel

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1


ausgezeichnet

Eine Pilgerreise will gut vorbereitet sein. Die nötige Zeit einplanen, sich mit der Familie abstimmen, das Equipment besorgen … Selten entschließt man sich dazu so spontan wie Harold Fry, Held dieser Geschichte. Eigentlich wollte der 65-jährige Rentner nur zum nächsten Briefkasten gehen, um einen Antwortbrief abzuschicken. Doch auf dem Weg dorthin wird ihm klar, dass dieser Brief nicht genügt. Er muss Queenie Hennessy, eine frühere Arbeitskollegin, die ihm nach zwanzig Jahren plötzlich einen Abschiedsbrief geschrieben hat, weil sie im Sterben liegt, persönlich treffen. Und so beginnt Harold seinen Fußmarsch von Kingsbridge im Süden quer durch England zum Hospiz in Berwick.

So verrückt das Unterfangen auch klingt, für den Leser wird es nachvollziehbar, weil die Autorin sehr glaubwürdig schildert, wie Harolds Entschluss allmählich in ihm reift. Zum einen hat er das Bedürfnis, in seinem Leben zum ersten Mal etwas drastisch zu verändern, zum anderen treibt ihn – angespornt durch ein Mädchen, das ihm eine bewegende Geschichte erzählt – der Glaube, dass er durch seinen Akt Queenie retten kann.

So wird Harold in jeder Hinsicht aus seiner Komfortzone herausgerissen. Obwohl er weiterhin versucht, möglichst unauffällig zu bleiben, wird er im Frühstücksraum eines Hotels schnell zum Gesprächsthema Nr. 1 und sorgt später sogar für richtigen Medienrummel.

Rachel Joyce schreibt jede Etappe und Begegnung während der Pilgerreise so bildhaft, dass man das Gefühl hat, Seite an Seite mit Harold zu marschieren. Zum ersten Mal nimmt er die Schönheit der Landschaft, an der er als Brauereivertreter so oft vorbeigefahren ist, bewusst wahr. Die intensiven Sinneseindrücke vermischen sich mit seinen Erinnerungen an seinen Sohn David, seine Frau Maureen, an Queenie und seine Reue über all seine Versäumnisse.

Ähnlich wie in ihrem aktuellen Buch „The Music Shop“ geht es Rachel Joyce auch in diesem wunderbaren Roman darum, dass etwas Größeres die Menschen mit ihren Einzelschicksalen verbindet und dass der Glaube an eine Sache mehr wiegen kann als die Vernunft.

Bewertung vom 16.06.2018
Beer, Alex

Die rote Frau / August Emmerich Bd.2


ausgezeichnet

August Emmerich und Ferdinand Winter sind nicht zu beneiden. Den Kriminalbeamten der Abteilung ‚Leib und Leben‘ werden trotz der erfolgreichen Aufklärung ihres letzten Falls nur Schreibarbeiten zugeteilt. Dabei würden sie sich viel lieber in einem aktuellen Fall, bei dem der beliebte Stadtrat Richard Fürst ermordet wurde, nützlich machen. Unverhofft bekommen sie die Gelegenheit dazu – allerdings mit einem Haken: Sie müssen die Tat innerhalb von 72 Stunden aufklären.

Alex Beer baut gleich mehrere Spannungselemente ein: Zum einen müssen sich Emmerich und Winter ganz schön ins Zeug legen – schließlich steht ihre zukünftige Karriere auf dem Spiel. Für den allem Anschein nach unschuldig Inhaftierten hängt sogar sein Leben davon ab, ob der wahre Täter gefasst wird. Und es ist nicht einmal klar, ob ein politisches, wirtschaftliches oder persönliches Motiv hinter der Tat steckt.

Erneut skizziert Alex Beer das Nachkriegswien mit all seinen Gesichtern, diesmal noch vielschichtiger als im letzten Fall. Man hat das Gefühl, in jeden Winkel der Stadt einzutauchen, sei es die Straßen voller Hungerleidenden und Kriegsveteranen, das Nachtleben, die Unterwelt, die Palais der Reichen oder die illustre Filmindustrie. Die Autorin schildert die Lebensumstände und Atmosphäre so authentisch, als wäre ihr jedes Terrain vertraut. Nebenbei erläutert sie interessante Details über bedeutende Bauwerke und Lokale, die heute noch existieren.

So stelle ich mir meine ideale Lektüre vor: Ein raffinierter Plot eingebettet in ein facettenreiches historisches Setting und detailliert recherchiertes Zeitgeschehen. Ich freue mich schon auf den nächsten Fall des gut eingespielten Ermittlerduos.

Bewertung vom 13.06.2018
Hüther, Gerald;Quarch, Christoph

Rettet das Spiel!


sehr gut

Das WM-Fieber steigt und steigt. Der Fußball spielt auch in diesem Buch eine Rolle. Schließlich sind Fußballspiele „die öffentlichkeitswirksamsten Kulturereignisse unserer Zeit“, so die Autoren Gerald Hüther und Christoph Quarch. Doch inwieweit haben sie ihre spielerische Leichtigkeit und Lebendigkeit bewahren können? Und warum müssen Spiele im allgemeinen – wie der Buchtitel suggeriert – gerettet werden?

Um diesen Fragen nachzugehen, nehmen uns die Autoren zunächst mit auf eine Zeitreise in die Antike – denn bereits die Griechen waren von der Idee beseelt, das Leben als ein Spiel zu feiern und in vielfältigen Spielen das wahre Menschsein auszubilden. Im Laufe des Buches begegnen wir weiteren Verfechtern des Spiels, zum Beispiel Schiller, der freie Spielräume und Spielzeiten forderte, um der Schönheit zu huldigen, oder die Romantiker, die die Magie des Lebens mit seinen unendlichen Möglichkeiten entfesseln wollten.

In diesem kulturgeschichtlichen Abriss macht das Autorenduo deutlich, dass das Spielen Freiräume öffnet, in denen die Spieler in einer guten Balance von Verbundenheit und Freiheit ihre Geschicklichkeit, Talente und Emotionen zeigen können. Der Homo ludens werde in der heutigen Zeit jedoch immer mehr durch den Homo oeconomicus verdrängt, der nach Effektivität und Produktivität strebt.

In einer Mischung aus philosophischen Gedanken und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beleuchten Hüther und Quark verschiedene Spielvarianten und entlarven auch gefährliche Spielverderber. Stellenweise schien mir die Lobpreisung des Spiels etwas übertrieben und ihre Vorstellungen sehr idealistisch, doch beschreiben sie eine Welt, die auch aus meiner Sicht unbedingt erstrebenswert ist. Das Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für das zwang- und absichtslose Spiel, das das volle kreative Potenzial der Spieler zum Vorschein bringen kann, Lebensfreude weckt und das Gefühl des Miteinanders in Beruf, Familie und Freizeit stärkt.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.06.2018
Reinecke, Anne

Leinsee


ausgezeichnet

Ein Selbstmord in der Familie ist nur schwer zu verkraften. Bei Karl Stiegenauer, Hauptfigur dieses Romans, ist die Sache jedoch weitaus komplizierter. Sein Vater August hat sich erhängt, weil er ohne seine Frau Ada, die an Krebs erkrankt ist, nicht mehr leben wollte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie die Operation überlebt. Im Leben dieses berühmten Künstlerpaars war für Karl schon als Kind kein Platz. Kein Wunder, dass ihn die Rückkehr in sein Elternhaus in Leinsee überfordert.

Der einzige Halt für ihn ist die achtjährige Tanja, die eines Tages ganz plötzlich im Kirschbaum seines Gartens sitzt und ihn beim Entrümpeln beobachtet. Gerade weil Karl sein Leben im Moment so absurd und surreal vorkommt, passt die Erscheinung des Mädchens, das lauter verrückte Dinge anstellt wie Steinformationen in seinem Garten zu bilden, so gut ins Bild.

Ich war ganz fasziniert von der ungewöhnlichen Beziehung, die sich langsam zwischen ihnen aufbaut. Es bedarf keiner Worte – allein die Präsenz des anderen in der Nähe zu spüren macht die beiden glücklich. Die Rückkehr in seine Heimat und die Begegnung mit Tanja bringt Karl nicht nur dazu, sich den Erinnerungen an eine einsame Kindheit zu stellen, sondern entfacht auch sein künstlerisches Schaffen.

Der Roman hat mich auf der ganzen Linie begeistert: die gut ausgearbeiteten, teils skurrilen Figuren, allen voran der eigenbrötlerische und doch sympathische Karl, der seinen Lebenssinn und seine Heimat neuentdeckt, die Seitenhiebe auf die sich wichtig nehmende Kunstszene und den Promikult, der schwarze Humor (selten wurde ein Polizeibesuch so ungemein witzig beschrieben), Reineckes prägnante und der Situation angepassten Sprache, aber vor allem die bezaubernde Poesie, die sich in der abstrusen und tragikomischen Handlung entfaltet.