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Aischa

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Insgesamt 572 Bewertungen
Bewertung vom 15.04.2021
García Márquez, Gabriel

Das Abenteuer des Miguel Littín


ausgezeichnet

Der chilenische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez ist hierzulande vor allem als großartiger Romancier bekannt. Dass er auch als Journalist Brilliantes leistete, zeigt diese Reportage.

Sie beruht auf Tonbandprotokollen eines mehrtägigen Interviews, das Márquez mit dem chilenischen Regisseur Miguel Littín führte. Littín musste nach dem Militärputsch Pinochets ins Exil gehen. Nach zwölf Jahren reiste er unter falscher Identität wieder in sein Heimatland, im Gepäck einen wahnwitzigen und dennoch meisterhaften Plan: Als Aufnahmen für einen Werbefilm getarnt dreht er mit Unterstützung dreier internationaler und einiger lokaler Kamerateams sechs Wochen lang die Zustände in Chile nach jahrelanger Unterdrückung durch die Militärjunta. Heraus kamen 32.000 Meter Film, die als Dokumentation "Acta General de Chile" für reichlich internationales Aufsehen sorgte.

Littín schildert im Gespräch mit Márquez detailliert, wie es ihm gelang, den Staatsapparat an der Nase herum zu führen und der Überwachung durch die Geheimpolizei zu entgehen. Márquez hat das Protokoll des Filmdrehs stark gekürzt, dabei aber noch ausreichend berührende, skurrile, beängstigende oder lustige Begebenheiten behalten.

Herausgekommen ist eine ganz besondere "Geschichtsstunde", die unter die Haut geht. Man schaudert vor den Risiken, die alle Beteiligten eingingen, und man spürt die grenzenlose Liebe Littíns zu seinem Land.

Ich ziehe meinen Hut - vor der journalistischen Leistung Márquez`, und noch viel mehr vor der Leistung des Filmemachers Littín und seinen Unterstützern, die sprichwörtlich Kopf und Kragen für einen Dokumentarfilm riskiert haben.

Bewertung vom 15.04.2021
Casagrande, Romina

Als wir uns die Welt versprachen


sehr gut

Selten hat sich meine Wahrnehmung eines Romans während der Lektüre so verändert wie bei diesem. Romina Casagrande ist mit "Als wir uns die Welt versprachen" ein Bestseller über das jahrhundertelange Martyrium der sogenannten Schwabenkinder gelungen.

Die Jungen und Mädchen stammten aus bettelarmen Bauersfamilien in Tirol, Vorarlberg oder der Schweiz und zogen über die Alpen, um als ausgebeutete Saisonarbeiter auf schwäbischen Höfen zu schuften. Ich hatte bereits vom Schicksal der Schwabenkinder gehört. Mit großem Interesse verschlang ich daher die ersten Kapitel des Romans - und war zunächst ziemlich enttäuscht.

Casagrande fügt häufig gedankliche Einschübe der Protagonistin in Klammern ein. Dies soll wohl witzig wirken, mich nervte es einfach. Es gibt zwei Erzählstränge, einen in der Gegenwart und einen, der in der Kindheit der Hauptfigur spielt. Während letzterer sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnte, ist die Handlung des Gegenwartsstrangs nicht unbedingt realistisch: Eine hochbetagte, leicht demente Seniorin macht sich zu Fuß auf, um in mehreren Tagen die Alpen zu überqueren, Übernachtungen im Freien und einen Papagei, den sie im Transportkäfig hinter sich herzieht inklusive ...? Das war mir dann doch zu realitätsfern. Ganz zu schweigen von all den skurrilen Begegnungen und schrägen Abenteuern, die dieser Roadtrip über die Berggipfel umfasst.

Doch irgendwann verabschiedete ich mich von der Idee, dass Casagrande hier etwas erzählte, was so stattgefunden haben könnte. Ich entschloss mich vielmehr, die Geschichte als Allegorie unbändiger Willenskraft zu lesen, als eine Art modernes Märchen, vermischt mit Teilen eines Historienromans. Und mit dieser Interpretation konnte ich mich auf die Erzählung einlassen; plötzlich wurde ich berührt, konnte schmunzeln, musste lachen.

Fazit: Ein lesenswertes Buch, nicht nur, aber auch um das Andenken an die Schicksale der Schwabenkinder zu bewahren.

Bewertung vom 13.04.2021
Atkinson, Kate

Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5


ausgezeichnet

Mit "Weiter Himmel" legt Kate Atkinson den fünften Band um Privatermittler und Ex-Polizisten Jackson Brodie vor.

Für mich war es der Einstieg in die Reihe, dennoch wurde ich schnell mit den Figuren vertraut. Atkinsons Stil ist ungewöhnlich. Sie transportiert viele Informationen über innere Monologe, was für mich eine willkommene Abwechslung zum leider weit verbreiteten Infodumping ist. Manche Szenen werden zweifach geschildert, aus unterschiedlichen Erzählperspektiven. Dadurch wird man als Leser gefordert, aber auch durch neue Einsichten belohnt. Besonders unterhalten haben mich die zahlreichen Zitate und Anspielungen, auch wenn ich sicher als Deutsche nicht alle sprachlichen Finessen verstanden habe.

Jedenfalls blitzen die umfangreiche Bildung und der Witz der Autorin immer wieder auf, und so ist trotz des deprimierenden Themas gute Unterhaltung garantiert.

Der Plot ist spannend, wenngleich der Suspense weniger durch das vor allem in der ersten Hälfte eher gemächliche Handlungstempo als vielmehr dadurch, dass Atkinson schonungslos aufzeigt, welche moralischen Abgründe sich hinter vielen bürgerlichen Fassaden verbergen.

Fazit: Ein ungewöhnlicher Krimi, sehr humorvoll und intelligent geschrieben.

Bewertung vom 06.04.2021
Weiß, Sabine

Krone der Welt


sehr gut

Der neueste Historienroman von Erfolgsautorin Sabine Weiß entführt den Leser ins Amsterdam des 16. Jahrhunderts. Die studierte Historikerin hat beeindruckende Recherchearbeit geleistet, die sich in zahlreichen liebevollen Details der Geschichte zeigt, vor allem bei der Beschreibung der Stadtentwicklung der heutigen niederländischen Metropole.

Eine große Stärke des Romans liegt zudem in der Herausbildung der Protagonisten, dreier charakterlich sehr verschiedener Geschwister. Weiß zeichnet ihre Figuren facettenreich und glaubwürdig, selbst der Bösewicht ist nicht nur einfach fies, sonder ein Blick in seine Herkunft gibt eine Ahnung davon, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist.

Die Story ist sehr informativ, aber auch anspruchsvoll, und ehrlich gesagt war ich bisweilen etwas überfordert, gerade wenn es um politische Irren und Wirren ging. Hier hätte mir eine Zeittafel mit den wichtigsten historischen Ereignissen hilfreiche Dienste geleistet.

Ansonsten ist das Paperback umfangreich ausgestattet: Ein Personenverzeichnis fehlt genauso wenig wie historische Karten und ein Glossar. Die großzügige Verwendung niederländischer Begriffe gibt dem Text zwar eine authentische Note, ist mir aber etwas zu ausufernd geraten. Ich musste extrem viel zwischen Text und Glossar hin und her blättern; Fußnoten wären hier die elegantere Lösung gewesen und hätten den Lesefluss nicht so sehr gestört.

Auch inhaltlich ist die Autorin etwas über das Ziel hinausgeschossen. Der Roman wirkte auf mich an einigen Stellen überfrachtet, es gab einfach zu viele Nebenschauplätze. Eine Konzentration auf die Hauptthemen Glaubenskriege, wirtschaftliche Konflikte und die Stadtentwicklung Amsterdams hätte der Geschichte gut getan.

Dennoch bleibt ein hervorragend recherchierter, mitreißend und detailreich erzählter Historienroman, den ich sehr gern gelesen habe. Übrigens: Auf der Homepage der Autorin finden sich interessante Zusatzinformationen wie etwa zu Amsterdams Grachten, Geheimkirchen oder Waisenhäusern.

Bewertung vom 06.04.2021

Aenne Burda. Verlegerin des guten Geschmacks


gut

Eine Kochbuchbiografie über Aenne Burda? Meine Neugier war sofort geweckt, schon allein durch die ungewöhnliche Genrekombination dieses Werks. Assoziierte ich die als "Königin der Kleider" bekannte erfolgreiche Geschäftsfrau doch bislang vor allem mit ihrer bahnbrechenden Idee, den Frauen im Nachkriegsdeutschland durch Schnittmuster günstigen Zugang zu Mode ermöglicht zu haben. Dass Burda auch einen der produktivsten Kochbuchverlage gründete und über Jahrzehnte großen Einfluss auf die deutsche Küche hatte, war mir gänzlich unbekannt.

Die Biografie punktet mit einer enormen Fülle an Fotos, die Aenna Burda von unterschiedlichster Seite zeigen, angefangen von ihrer Kindheit in einer einfachen Eisenbahnerfamilie bis hin zu glamourösen Bambi-Verleihungen. Leider können die Texte zu Burdas Vita nicht mit den Illustrationen mithalten. Die Darstellung ist zwar sehr unterhaltsam, geht jedoch kaum in die Tiefe. Man erfährt über diese schillernde Persönlichkeit kaum etwas, das nicht bereits in der einschlägigen Regenbogenpresse publiziert worden ist. Besonders enttäuscht haben mich die von Aennes jüngstem Sohn Hubert Burda verfassten Zeilen, der unfassbar distanziert über seine Mutter schreibt. Es wirkt wie eine Pflichtübung des Herausgebers; darauf hätte ich gut und gerne verzichten können.

Die Rezepte sind sehr vielseitig und nach Aennes Lebensphase geordnet: Es gibt einfache Kindheitsgerichte, legendäre Jagdessen, Internationales und vieles mehr. Ein Gault Millau-Experte gibt zu jedem Rezept eine Weinempfehlung. Doch leider trifft nur wenig meinen Geschmack, die Rezepte sind insgesamt sehr fleischlastig und oft wird Alkohol zur Zubereitung verwendet. Einiges ist etwas aus der Zeit gefallen, etwa in Mayonnaise "ertränkter" Waldorf- oder Geflügelsalat - schade, dass die mitwirkenden Sterneköche hier keine zeitgemäßen Variationen präsentiert haben. Gar kein Verständnis bringe ich dafür auf, dass Foie gras verwendet wird. Gänse und Enten zu stopfen ist eine Tierquälerei, die in Deutschland zu Recht seit Jahrzehnten verboten. Wieso ausgerechnet Gänseleberparfait noch in diese Rezeptsammlung aufgenommen werden musste, ist mir schleierhaft.

Die Ausstattung dieses hochwertigen Hardcovers hingegen lässt nichts zu wünschen übrig. Nicht nur die biografischen Fotos, sondern auch die Abbildungen der Gerichte sind eine wahre Augenweide. Ein besonderes Detail: Viele Speisen wurden auf original Porzellan aus der Burda-Villa in Szene gesetzt.

Fazit: Das Buch ist ein luxuriöser Band voller Erinnerungen an die große Unternehmerin und Persönlichkeit Aenne Burda und eine Reminiszenz vor allem an die Küche der 1960er und 70er Jahre.

Bewertung vom 31.03.2021
Sajath-Nova

Die ganze Welt


sehr gut

Der 1712 in Tiflis geborene Arutin Sajadjan (auch: Sayadan) wurde unter seinem Künstlernamen Sayat Nova bekannt und ist in Armenien bis heute sehr populär. Sein Werk zeugt von enormer Kreativität: Der Sänger, Dichter und Komponist (und spätere Geistliche) soll mehrere tausend Lieder verfasst haben, von denen jedoch lediglich 220 überliefert sind. Sayat Nova dichtete nicht nur in seiner Muttersprache Armenisch, sondern auch auf aserbaidschanisch und georgisch, zudem sprach er persisch und arabisch.

Nun ist mit "Die ganze Welt" ein erstes Liebeslied ins Deutsche übertragen und publiziert worden. Übersetzer ist Ondřej Cikán, der sich mit seinem Verlag Ketos auf deutsch-tschechische Prosa und Poesie spezialisiert hat. Cikán hat für diese Nachdichtung eigens Armenisch gelernt, im Selbststudium und in nur drei Wochen. Kann das für eine gelungene Übersetzung ausreichen?

Ich muss gestehen, meine ersten Gedanken dazu waren: "Wie anmaßend, zu glauben man könne sich eine fremde Sprache in weniger als einem Monat so gut aneignen, dass man ein Lied übersetzen kann! Bei Prosa mag das ja noch angehen, aber vertonte Poesie, bei der Sinn und Klang, Rhythmus und Versmaß eine ästhetische Einheit ergeben und nah am Original bleiben sollen?" Meine Zweifel waren groß, aber unberechtigt: Denn erstens erklärt Cikán bereits im Vorwort, dass mit diesem Buch vor allem ein Anfang gemacht und das Interesse für Sayat Nova im deutschsprachigen Raum geweckt werden soll. Und zweitens hat mich der schmale Band auch inhaltlich positiv überrascht. Gar nicht mal so sehr aufgrund des Liebesliedes, das für meinen Geschmack eine Idee zu schwärmerisch daher kommt und mich in seiner Fremdartigkeit nicht wirklich tief berühren konnte. Aber Dichtung ist eben immer auch Geschmackssache. Das wiegen jedoch die umfangreichen Zusatzinformationen und die liebevolle Gestaltung auf.

Im Anhang finden sich Erläuterungen zu unübersetzbaren Worten, Anmerkungen zu kulturellen Besonderheiten ebenso wie die Noten zur ersten Strophe, so dass der musikalisch geneigte Leser die Melodie intonieren kann. Der Text ist im Original, in der deutschen Übersetzung und in zwei Transkriptionen des Armenischen abgedruckt, einmal in der üblichen englischen, und außerdem noch in einer eigens von Cikán entwickelten. Dies mag für den nicht sprachwissenschaftlich vorgebildeten Leser etwas zu viel des Guten sein - für mich ist es ein Zeichen, dass der Übersetzer seine Profession nicht nur ausübt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass er eine immense Leidenschaft für Sprache hegt.

Ein Lebenslauf Sayat Novas, Hinweise auf verschiedene Versionen des Liedes, von klassischen Interpretationen über Pop-Musik bis hin zum Jazz, und stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Illustrationen geben einen überraschend detaillierten und umfangreichen ersten Eindruck in das Schaffen Sayat Novas. Ich schließe mich der Hoffnung Cikáns an, dass sich bald weitere Übersetzer mit dem Werk des "Königs des Gesangs" beschäftigen, mein Interesse ist geweckt.

Bewertung vom 26.03.2021
Ach, Marianne

Der Atem deines Landes


ausgezeichnet

Es ist eine Geschichte, wie es sie tausendfach gibt: Der Sohn eines griechischen Olivenbauern lässt seine Eltern allein zurück, um sein Glück in Deutschland zu suchen. Was er findet ist eine große Liebe, und nach einigen Jahren Ehe und mit zwei kleinen Kindern wagen seine Frau und er einen erneuten Neuanfang und ziehen ins Dorf der Eltern.

Autorin Marianne Ach macht diese Story jedoch zu etwas ganz Besonderem, Einzigartigem. Sie wurde durch zahlreiche eigene Aufenthalte und persönliche Begegnungen in der hellenischen Republik zu diesem Roman inspiriert, und ich fühlte bei der Lektüre auch schnell eine große Nähe zu den Figuren, ganz so als ob ich sie selbst kennen würde.

Der Stil Achs ist sehr eigen, weit davon entfernt, "mainstream" zu sein. Mitunter sehr knapp und dennoch präzise, geprägt von abrupten Sichtwechseln und gleichzeitig voller Poesie schafft die Autorin eine individuelle, unverwechselbare Sprache. Eine Sprache, die auf mich eine regelrechte Sogwirkung entfaltet, so dass ich den Roman kaum zur Seite legen konnte.

Die Sprache ist nicht nur Handwerkszeug, sondern spielt auch eine große Rolle in der Geschichte. So zum Beispiel für Protagonistin Irene, die das Griechische zum Erstaunen ihres Mannes Spiros zwar wie im Fluge zu lernen scheint, die jedoch auch feststellt: "In einer fremden Sprache bist du nie ganz du selbst." Und dann sind da Irenes Schwiegereltern, zu denen sie - über sämtliche Sprachbarrieren hinweg - in Windeseile eine von tiefen Empfindungen geprägte Beziehung aufbauen kann.

Die Liebe wird in vielen Facetten skizziert: die Liebe zum Ehepartner, Liebe zwischen Eltern und Kindern, Liebe mit Ansprüchen und bedingungslose, akzeptierende Liebe, Treue und Affären, Ehrlichkeit und Geheimnisse, große Fragen, auf die keine Antworten gegeben werden.

Es ist ein kurzer Roman, aber in dem schmalen Büchlein steckt unendlich viel. Marianne Ach ist für mich eine Sprachvirtuosin, die den Leser an ihrer großen Lebenserfahrung teilhaben lässt. Ich verneige mich in großem Respekt und hoffe auf mehr!

Bewertung vom 10.03.2021
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


ausgezeichnet

Journalistin Alena Schröder legt mit ihrem Romandebüt einen sehr interessanten Plot vor, der laut eigener Aussage autobiografische Anteile trägt.

Die Geschichte dreht sich um vier Generationen einer Familie, genauer gesagt um vier Frauen: Protagonistin Hannah, deren Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Allen gemeinsam ist, dass sie alleinerziehend sind bzw. ohne Vater aufwachsen. Es geht also um Mutterschaft, glücklich und unglücklich, erfüllend oder bedauernd. Schröder legt den Finger in die "Rabenmutter"-Wunde und zeigt auf, dass nicht jede Frau automatisch mit dem Kind auch die nötige Portion positiver Gefühle mitgeliefert bekommt, um in ihrer Mutterrrolle aufzugehen. Und umgekehrt, dass man nicht biologisch Mutter sein muss, um die Rolle der sorgenden Mutter liebevoll auszufüllen.

Der Stil ist keineswegs so kompliziert, wie der sperrige Titel befürchten lässt. Zwar ist man als LeserIn gefordert, denn das Erzähltempo ist enorm schnell, aber die Story entwickelt rasch eine große Sogwirkung. Sehr gut gefallen hat mir, dass die Infos auf ganz unterschiedliche und intelligente Weise an den Leser gebracht werden. Kein peinliches Infodumping, indem sich Protagonisten gegenseitig einander hinlänglich Bekanntes erzählen, nur weil dem Autor kein anderer Weg einfällt, um den Leser mit den nötigen Informationen zu versorgen. Nein, Schröder löst dies eleganter. Etwa wenn sie uns über Hannas Vater (eine heimliche Affäre ihrer Mutter) und das Techtelmechtel mit ihrem Doktorvater aufklärt, indem sie Hannah sich im Halbschlaf ein skurriles Proseminar ausdenken lässt namens "Wie man sich nicht für eine Affäre mit einem älteren Mann empfiehlt". Das ist nicht nur witzig und intelligent gemacht, sondern zugleich von einer Dichte, dass einen schwindeln könnte.

Eine weitere Stärke des Romans ist die hervorragende Beschreibung der Figuren. Wie ein talentierter Porträtmaler mit nur wenigen Strichen wichtige Merkmale eines Gesichts festhalten kann, so gelingt es der Autorin, ihre ProtagonistInnen wie auch Nebenfiguren schnell und doch scharf mit Worten zu skizzieren. Ein wahrer Lesegenuss!

Sehr berührend sind die unfassbaren Gräuel des Nazi-Terrors beschrieben. Anhand von Tagebucheinträgen macht Schröder die Vergangenheit greifbar. Dies ist nicht innovativ, aber dennoch sehr gut gelungen.

Der Universitätsbetrieb wird schonungslos entlarvt, samt Studierenden, die so vor sich hin studieren, weil sie nichts anderes mit sich anzufangen wissen, und anderen, die absolut berechnend an der eigenen Karriere stricken, als ob es daneben nichts anderes gäbe.

Außerdem beeindrucken mich die zahlreichen historischen Details, etwa dass Osaka 1926 die größte japanische Stadt war.

Fazit: Ein starker Generationenroman, den ich regelrecht verschlungen habe!

Bewertung vom 08.03.2021
Missiroli, Marco

Treue


sehr gut

Von jedem noch so kleinen Italienklischee sollte man sich vor der Lektüre dieses preisgekrönten Beziehungsromans tunlichst verabschieden. Zwar spielt die Geschichte in Mailand und Rimini, zwei italienischen Städten also, die seit langem ausgewiesene Touristenmagnete sind. Doch wer sich die Leichtigkeit des von Federico Fellini auf die Kinoleinwand gebannten "La Dolce Vita" erhofft, der wird schnell ernüchtert.

Nein, süß ist an dieser Story nichts, von den Creme-Schnitten abgesehen, die die Schwiegermutter des Protagonisten regelmäßig verzehrt. Vielmehr hadert jede der Figuren auf ihre ganz persönliche Art mit dem Schicksal, jeder scheint auf seine Art unglücklich oder zumindest unzufrieden zu sein. Und so fühlte ich mich bei der Lektüre oftmals in einen Claude-Chabrol-Film versetzt. Wie Chabrol zeichnet auch Missiroli ein Bild der brüchigen Bourgeoisie seines Landes: Die männliche Hauptrolle spielt Carlo, ein von Selbstzweifeln zerfressener Sohn aus reichem Hause. Zwar fühlt er sich als Literat berufen, hat aber noch nie einen Roman geschrieben. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mehr schlecht als recht als Werbetexter und Teilzeitdozent, wobei er die Stelle an der Universität durch Beziehungen seines übermächtigen Vaters bekommen hat. Nun also versucht Carlo sein angeschlagenes Selbstwertgefühl durch Sex mit einer Studentin aufzupimpen und gibt dabei eine recht armselige Figur ab. Auch für seine Ehefrau Margherita klaffen der erträumte Lebensentwurf (Architektin) und ihr reales Berufsleben (Immobilienmaklerin) weit auseinander. Unzufrieden flüchten sich beide in träumerische Sehnsüchte und projizieren ihr Verlangen auf Dritte. Die Untreue beginnt im Kopf - wird sie umgesetzt werden?

Dramaturgisch geht Missiroli sehr geschickt vor: Der Roman fließt dahin, ohne Einteilung in Kapitel, die diesen Fluss unterbrechen könnten. Das vielschichtige Beziehungsgeflecht der Figuren spiegelt sich literarisch in abrupten Szenewechseln wieder, die anfangs noch durch Absätze erkennbar sind. Je weiter sich die Lebensläufe ineinander verschlingen, je mehr die Personen umeinander mäandern, desto unkenntlicher trennt der Autor die Szenen von einander. Bald wechselt die Perspektive auch innerhalb eines Absatzes, zum Ende des Romans sogar innerhalb eines Satzes.

Der Roman hat es mir nicht leicht gemacht, anfangs mochte ich die Geschichte gar nicht. Zu kaputt erschienen mir die Figuren, fast schon gewollt unglücklich und verkorkst. Aber dennoch entwickelt das Buch eine Eigendynamik, einen starken Sog. Und ich wurde daran erinnert, dass es keine Sympathieträger für einen guten Roman braucht, sondern vor allem eine gut erzählte Story. Und das kann Missiroli.

Bewertung vom 08.03.2021
Spranger, Roland

A Kind Of Blue


sehr gut

Der Titel dieser Kurzgeschichtensammlung - eine Reminiszenz an das gleichnamige Album des Jazztrompeters Miles Davis - lässt es bereits erahnen: Die hier auftretenden Protagonisten sind "blue", also traurig, depressiv, ziemlich schlecht drauf.

Das war es aber auch schon an Gemeinsamkeiten. Autor Roland Spranger präsentiert - trotz der miesen Grundstimmung - ein erfreulich vielfältiges, buntes Panoptikum. Da gibt es etwa den frustrierten Pizzaboten, der jede Pizza Hawaii (in seinen Augen eine kulinarische Todsünde) grundsätzlich kalt ausliefert, quasi als pädagogische Maßnahme. Wir begleiten den völlig abgedrehten Anhänger von Verschwörungserzählungen, der sich aus Angst vor Chem-Trails nur im Ganzkörperschutzanzug auf seinen Aufsitzrasenmäher wagt. Es wird gemetzelt und gemordet, über Leben und Tod philosophiert. Und zwar intelligent und unterhaltsam, tiefgründig und skurril.

Besonders angetan hat es mir Sprangers Sprache. Bei ihm ist ein nächtlicher Park nicht einfach nur bedrohlich, nein: "Auf der anderen Seite der Gleise macht der Park auf dicke Hose. Still, starr, dunkel. Als wäre er soeben für eine Fortsetzung von Herr der Ringe gecastet worden."

Das ist Gegenwartsliteratur ganz nach meinem Geschmack, bitte mehr von diesen Momentaufnahmen der menschlichen Psyche!