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YukBook
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München

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Insgesamt 313 Bewertungen
Bewertung vom 12.12.2018
Uchida, Yoshiko

Das Lager in der Wüste


ausgezeichnet

Hätte ich dieses Buch nicht gelesen, hätte ich wohl nie etwas über das Schicksal der Issei und Nisei erfahren. Die Eltern der Autorin zählen zu den Issei – so bezeichnet man die erste Generation der Japaner, die in die Vereinigten Staaten auswanderten – und ließen sich in Kalifornien nieder.

Uchida beschreibt zunächst ihre Kindheit und schildert sehr offen ihren Zwiespalt als japanischstämmige Amerikanerin. Sie fühlt sich wie eine Amerikanerin und möchte als vollwertiges gesellschaftliches Mitglied akzeptiert werden, ist aber durch die Erziehung auch durch japanische Werte geprägt. In beiden Nationalitäten fühlt sie sich wegen der ausländerfeindlichen Haltung minderwertig und flüchtet sich in die Gesellschaft und studentischen Aktivitäten der Niseis, um möglichst wenig anzuecken.

Das arglose Leben hat mit dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor 1941 ein jähes Ende. Yoshiko Familie wird – wie weitere etwa 120.000 japanischstämmige Amerikanner/innen– als feindliche Ausländer eingestuft. Innerhalb weniger Tage müssen sie ihre Wohnung ausräumen und werden in ein Sammellager in Tanforan verfrachtet und in Pferdeboxen untergebracht.

Da die Autorin aus erster Hand berichtet, kommt es einem vor, als wäre man selbst vor Ort. Sie schildert die menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die dürftigen Lebensmittel, mangelnden Waschplätze und die permanente Wehrlosigkeit. Ich hatte befürchtet, dass mich die Lektüre so schockiert und deprimiert, dass ich nicht mehr weiterlesen kann. Doch das Gegenteil war der Fall: Ich war sehr betroffen, aber auch voller Respekt, wie die Erzählerin es schafft, das Beste aus der Situation zu machen, das Lagerleben so sinnvoll wie möglich zu gestalten und sogar einige glückliche Momente zu genießen.

Man könnte meinen, dass sich die Lage kaum verschlimmern kann, doch genau das trifft ein, als die Internierten von Tanforan in ein anderes Lager in Utah überführt werden. Hier werden sie zusätzlich durch Sandstürme geplagt. Auch hier schreibt Yoshiko Uchida wieder so lebendig, dass ich förmlich die Sandkörner auf meiner Haut spüren konnte.

Die Autorin vermittelt durch ihren Bericht den nachfolgenden Generationen nicht nur eine sehr wichtige historische Begebenheit in der japanisch-amerikanischen Geschichte, sondern verdeutlicht auch, wieviel Menschlichkeit und Gemeinschaftsgeist in größter Not bewirken können.

Bewertung vom 09.12.2018
Heidenreich, Elke

Alles fließt: Der Rhein


ausgezeichnet

Eine Sache haben Elke Heidenreich und ich gemein: Wir sind beide am Rhein aufgewachsen. Was ihre Beobachtungen und Kenntnisse rund um den Fluss betrifft, ist sie mir jedoch weit voraus. Wie schön, dass sie uns in diesem Hörbuch an den vielfältigen Geschichten teilhaben lässt.

Ihre Entdeckungsreise mit dem Fotografen Tom Krausz per Schiff und mit Auto beginnt an den beiden Quellen im Kanton Graubünden und führt flussaufwärts über Liechtenstein, den Bodensee, Basel, Straßburg, Speyer, Wiesbaden und Koblenz bis zum Mündungsdelta an der Nordsee. Ihre Beobachtungen, Reflexionen und Hintergrundinformationen über die Städte und Regionen am Rhein und den Fluss selbst sind so abwechslungsreich wie die Landschaft, die an ihnen vorbeizieht.

Mal spannt sie einen geschichtlichen Bogen bis zu den Eroberungszügen der Römer und den Reformationskriegen; dann wieder stellt sie die Bedeutung des Rheins als riesigen Industriezweig und als Touristenattraktion heraus oder wirft einen kritischen Blick auf die Umweltproblematik. Die Tier- und Pflanzenwelt in den Rheinauen finden in ihren Geschichten ebenso Platz wie die vielfältige Architektur von Kirchen, Burgen, Schlössern und Fachwerkhäusern sowie dichterische Zitate.

Geschickt verwebt Elke Heidenreich historische, politische, wirtschaftliche und geografische Besonderheiten mit Mythen und Sagen, die sich um den Strom ranken. Dadurch, dass sich Elke Heidenreich von ihrem unmittelbaren Eindruck leiten lässt, sind die Geschichten für den Hörer sehr greifbar. Während der Reise kommt sie selbst ins Staunen, zum Beispiel über die zahlreichen Schleusen oder eine Straße in Straßburg voller Storchennester, und wir staunen mit. Sie erzählt auch von ihrer ganz persönlichen Beziehung zum Rhein und bringt uns mit ihrem gewohnten Witz und Ironie oft zum Lachen. In solchen Momenten dachte ich mir, wie gut, dass die Autorin selbst liest. Und wer die Bilder, die in unseren Köpfen entstehen, noch visuell unterstützen möchte, kann sich im schön gestalteten Booklet die Aufnahmen und vielseitigen Gesichter des Rheins in Ruhe zu Gemüte führen.

Bewertung vom 20.11.2018
Mengewein, Alexander

Halbe Arbeit - ganzes Leben


ausgezeichnet

Das Titelbild dieses Buches ist sehr treffend: Es zeigt die Silhouette eines Mannes, dessen eine Hälfte einen Anzug und einen Aktenkoffer, die andere Hälfte Shorts und einen Cocktail in der Hand trägt. Hier werden aber nicht etwa Arbeit und Urlaub gegenübergestellt, sondern eine ausgewogene Work-Life-Balance, die Axel Mengewein für erstrebenswert und durchaus realisierbar hält. Wie, das zeigt er in seinem Ratgeber und Plädoyer für mehr Teilzeitarbeit.

Zunächst nennt der Autor und Fernsehredakteur eine Reihe von Gründen, die in unserer heutigen Zeit für diesen Trend sprechen, sowohl aus Sicht des Arbeitnehmers als auch Arbeitgebers: zum Beispiel dass Teilzeitarbeiter laut Studien glücklicher und produktiver leben, dass unsere fortgeschrittene Technik flexible und standortunabhängige Tätigkeiten ermöglicht und dass sich immer mehr Nachwuchsführungskräfte für flexible Arbeitszeitmodelle interessieren. Damit möchte er besonders bei den Lesern, die schon länger damit liebäugeln, ihre Arbeitszeiten zu reduzieren, sich jedoch aus beruflichen, persönlichen oder finanziellen Gründen nicht trauen, Ängste und Bedenken ausräumen.

Doch wie kann man sich diesen Wunsch konkret erfüllen? Diese Frage beantwortet Mengewein umfassend, indem er zunächst verschiedenste Formen von Teilzeitarbeit – darunter die Brückenteilzeit, die ab 2019 eingeführt wird – und ihre Besonderheiten erläutert. Da er einige dieser Möglichkeiten selbst erprobt hat, kann er die Fakten durch interessante Erfahrungsberichte bereichern und nennt auch Beispiele aus seinem Bekanntenkreis und aus Großkonzernen. Bei aller persönlicher Begeisterung und Überzeugung weist er auch auf mögliche Nachteile und Gefahren hin, die es zu umschiffen gilt: zum Beispiel als Teilzeit-Trojaner ausgenutzt zu werden, in einen völlig unproduktiven Teilzeit-Müßiggang zu geraten oder die Schwierigkeit, in Teilzeit Karriere zu machen.

Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen, nicht nur, weil mich das Thema sehr interessiert, sondern weil es so unterhaltsam geschrieben ist. Axel Mengewein vermittelt verständlich und lebendig viel Wissenswertes über Teilzeitarbeit und ermutigt den Leser nicht nur dazu, so frei und selbstbestimmt wie möglich zu leben und zu arbeiten, sondern auch aktiv eine moderne Arbeitswelt mitzugestalten.

Bewertung vom 13.11.2018
Trigg, David

Die Kunst zu lesen


sehr gut

Menschen, die in Bücher vertieft sind, sieht man im Zeitalter von Smartphones und eBook-Readern immer seltener. Umso mehr Freude bereiten Bildbände wie dieser, die die Schönheit der Bücher und den Reiz des Lesens zelebrieren. Über 300 Werke aus verschiedensten Epochen und Stilrichtungen sind darin abgebildet und thematisch locker sortiert. Sie stammen von namhaften Malern wie Botticelli, Spitzweg, Cézanne, Magritte und Lichtenstein, aber auch von unbekannteren Künstlern.

Zunächst erinnerte mich das Buch an Bände wie "Frauen, die lesen, sind gefährlich" oder "Frauen und ihre Bücher". Doch das Themenspektrum ist hier weitaus größer. Dargestellt sind nicht nur Leser, sondern auch das Buch allein in vielfältigen Formen und Arrangements: als brennende Objekte, von der Decke oder von Ästen abgehängt, zu einem Turm aufgestapelt oder als durcheinander geworfener Haufen. Viele Gemälde und Installationen würde man gern einmal live sehen. Genauso interessant ist die Botschaft, die dahinter steckt und bei manchen Werken kurz erläutert wird.

Auch inhaltlich erfüllen Bücher ganz unterschiedliche Zwecke, wie der britische Kunstkritiker durch seine Auswahl verdeutlicht: Sie dienen der Bildung und Aufklärung, der Unterhaltung und Ablenkung vom Alltag, der Kontemplation oder erotischen Fantasien. Am Anfang kam ich mir vor wie in einer Galerie, in der ich ein Bild nach dem anderen mit einer gewissen Distanz wahrnahm, doch im Laufe der Lektüre tauchte ich immer tiefer ein in die einzelnen Bilderwelten, hörte förmlich die spielenden Kinder hinter der lesenden Frau am Strand oder fragte mich, welche Geschichte die Magd wohl derart in Bann zieht.

Der Bildband ist eine spannende Zeitreise quer durch verschiedene Kulturen und Schichten, die uns nicht nur die Bedeutung von Büchern durch die Epochen, sondern auch die Vergänglichkeit menschlichen Wissens vor Augen führt. Das einzige Manko ist die zu klein geratene Schrift, die das Lesevergnügen trübt. Eine etwas großzügigere Gestaltung hätte dem Buch gut getan.

Bewertung vom 07.11.2018
Raymond, Midge

Die Liebenden vom Ende der Welt


ausgezeichnet

Der Roman erzählt die Geschichte einer Biologin, die zwei Berufe unter einen Hut bringen muss: Sie ist Reiseführerin auf einem Kreuzfahrtschiff, das den südlichen Polarkreis überquert und zugleich Naturforscherin, die den Lebensraum von Pinguinen erforscht.

Die Überschrift des ersten Kapitels „Eine Woche vor Schiffsuntergang“ lässt bereits Dunkles erahnen und baut so einen Spannungsbogen auf. In mehreren Rückblenden lässt uns die Ich-Erzählerin Deborah an verschiedenen Phasen ihres Lebens teilhaben: wie nach dem Studium ihr Interesse für Pinguine geweckt wurde, wie sie auf der Forschungsstation in der Antarktis ihre große Liebe Keller Sullivan kennenlernte bis hin zur Gegenwart.

Obwohl ich mich mehr für Geistes- als für Naturwissenschaften interessiere, konnte ich mich sofort mit der Hauptfigur identifizieren. Ihre Begeisterung für die Schönheit der Antarktis und ihr Zwiespalt sind allgegenwärtig und gut nachvollziehbar: Einerseits möchte sie die Touristen für den Naturschutz sensibilisieren, andererseits ist ihr bewusst, dass trotz größter Vorsicht auch diese Schiffsreisen die Tier- und Naturwelt gefährden.

Mit viel Sachkenntnis stellt uns die Autorin die Eigenheiten verschiedener Pinguinkolonien und die ökologischen Veränderungen des Lebensraums vor. Zwischenmenschliche Krisen unter den Passagieren, die sich zuspitzen, und Deborahs Bemühen, ihre Beziehung und ihren Beruf in Einklang zu bringen, sowie die unbarmherzige Härte der Natur, die sich gegen den Eroberungsdrang der Menschen rächt, haben mich bis zum Schluss in Bann gehalten und zutiefst berührt.

Bewertung vom 01.11.2018
Meijer, Eva

Das Vogelhaus


ausgezeichnet

Drops, Putzi, Sternchen – so lauten die niedlichen Namen der Nebenfiguren dieses Romans. Beschrieben werden sie wie Menschen, doch es handelt sich um Vögel, die die Protagonistin Gwendolen („Len“) Howard in ihrem Cottage in Sussex erforscht. Wie es dazu kam, erzählt diese fiktionalisierte Lebensgeschichte über eine ungewöhnliche Aussteigerin und Ornithologin.

Lens Interesse für Vögel wurde schon als Kind durch ihren Vater geweckt, der verletzte Vögel zu Hause gesund pflegte. Sie wächst in einer wohlhabenden Familie auf, die sich mit Literatur- und Musikabenden die Zeit vertreibt, spielt mit großer Leidenschaft Geige und bekommt die Chance, in London in einem Orchester zu spielen. Das städtische Leben und die Konflikte und Machtkämpfe im Orchester nerven sie jedoch zunehmend. Auch in der Beziehung zu ihrem Freund Thomas findet sie keine Erfüllung.

Das einzige, was ihr am Herzen liegt, sind die heimischen Vögel, deren Gesang und Verhalten sie studiert. 1939 macht sie den entscheidenden Schritt, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen: Sie kauft ein Cottage im ländlichen Ort Ditchling und erforscht die wilden Vögel der Gegend, ihre Sprache, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften.

Lens Lebensgeschichte wird immer wieder unterbrochen durch die Studie über ihre Lieblingskohlmeise „Sternchen“. Durch den Wechsel zwischen den zwei Erzählsträngen vergleicht man ganz unwillkürlich das Verhalten von Lens Familie und Freunden mit denen der Vögel. Eva Meijer ist sehr talentiert darin, sowohl den individuellen Charakter der Menschen als auch der Tiere sehr treffend zu beschreiben. Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie Kohlmeisen und Spatzen, Rotkehlchen und Drosseln in ihrem Haus ein- und ausfliegen und sich in Kartonverpackungen einnisten.

Ich war vor allem fasziniert von Lens Geduld, mit der sie das Vertrauen der Vögel gewinnt und ihrer Entschlossenheit, das Terrain vor unerwünschten Besuchern und Baumaßnahmen zu schützen. Von der Kritik, ihre Arbeit sei nicht wissenschaftlich fundiert, ließ sie sich nicht beirren und schrieb zahlreiche Artikel und Bücher über ihre Beobachtungen. Eva Meijers rhythmischer Erzählstil, der sich stellenweise wie ein Gedicht liest, passt wunderbar zu dieser Hommage an die bemerkenswerte Naturforscherin und an die Vogel- und Musikwelt.

Bewertung vom 24.10.2018
Cognetti, Paolo

Sofia trägt immer Schwarz


gut

Ich war sehr gespannt darauf, Sofia kennenzulernen, die immer schwarz trägt. Gemeint ist die Protagonistin dieses Romans, die in Mailand aufwächst, nach Rom zieht, um Schauspielerin zu werden und schließlich in Brooklyn landet. Hinzu kommt, dass mich der Roman „Acht Berge“ so begeistert und meine Erwartungen an den italienischen Autor entsprechend hochgeschraubt hatte. Nun habe ich das Buch ausgelesen und weiß nicht so recht, was ich von den Erzählungen halten soll.

Der Anfang las sich sehr vielversprechend. Mir gefiel, wie Sofia ihre Erinnerungen an die Kindheit in Mailand und in der Neubausiedlung Lagobello beschrieb. Schöne Erlebnisse wie wilde, fantasievolle Piratenspiele mit Freunden zählten ebenso dazu wie leidvolle Phasen, bedingt durch den ständigen Ehestreit der Eltern, den Depressionen der Mutter und Verlustängste. Doch dann verliert sich zunehmend der rote Faden – nicht nur durch die vielen Zeitsprünge, sondern auch inhaltlich.

Der Autor beleuchtet beispielsweise die Ehe der Eltern, die Arbeitsbedingungen des Vaters bei Fiat oder das Verhältnis zu Sofias Tante, die sich politisch engagiert. Ich hatte gehofft, dass durch die fast eigenständigen Erzählungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Sofias Persönlichkeit allmählich Gestalt annimmt, doch sie spielt meist nur am Rande eine Rolle. So blieben für mich viele interessante Charaktere wie die fürsorgliche Caterina in ihrer WG in Rom oder die Geliebte ihres Vaters nur an der Oberfläche, und auch zu der Hauptfigur konnte ich bis zum Schluss keinen richtigen Zugang finden.

Interessant fand ich dagegen, wie Paolo Cognetti durch seinen ungewöhnlichen Erzählstil Schlaglichter auf die italienische Gesellschaft der 80er Jahre und die typischen Konflikte in einer bürgerlichen Familie wirft. Auch sprachlich versteht er sein Handwerk und schafft es, mit scharfer Präzision die Dinge auf den Punkt zu bringen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2018

Walking in the Rain


sehr gut

Ich komme gerade von einem Spaziergang und habe einmal versucht, einige Anregungen aus diesem Buch umzusetzen. Ganz bewusst einen Schritt nach dem anderen setzen, sich mit allen Sinnen auf die Umgebung einlassen, Geräusche, Stimmen und Gerüche wahrnehmen… dies und vieles mehr empfehlen die Autoren in dem kleinen, aber feinen Büchlein.

Dass Gehen an der frischen Luft den Körper in Schwung bringt, den Kopf freimacht und die Gesundheit fördert, ist allgemein bekannt. An diesem Buch gefiel mir vor allem, wie vielseitig die Erfahrungen der Autorinnen und Autoren zu diesem Thema sind. Kate Peers zum Beispiel lässt sich beim Gehen am liebsten von der Natur ermutigen, die ihr den ewigen Kreislauf des Lebens vor Augen führt und ihre alltäglichen Probleme nichtig erscheinen lässt. Für die Künstlerin Antonia Thompson ist das regelmäßige Gehen wie Tagebuch führen und ein Weg zur kreativen Freiheit. Eine sehr extreme Form des Gehens ist das Pilgern, das auch Blinden ermöglicht wird. Gert-Jan de Horn berichtet, wie er den „Camino Walking Blind“ ins Leben rief und lässt einzelne Teilnehmer von ihren persönlichen Eindrücken berichten.

Als Stadtmensch konnte ich mich am meisten mit der Geschichte von Clare Barry identifizieren. „Switched on but disconnected“ – so beschreibt sie den Zustand vieler Großstadtmenschen, die bestens vernetzt und erreichbar, aber nicht mehr empfänglich sind für sinnliche Eindrücke in unmittelbarer Nähe. Tatsächlich laufen einem in der Stadt ständig Leute über den Weg, die auf ihr Handy starren. Barry möchte Abhilfe schaffen und bietet in London „Urban Curiosity Walkshops“ an, bei denen man mit Gleichgesinnten eine Stadttour zu Fuß unternimmt.

Ob in der Stadt oder Natur – das Buch macht Lust, von der Couch aufzuspringen, in bequeme Schuhe zu schlüpfen und sich auf den Weg zu machen.

Bewertung vom 17.10.2018
Kallert, Tamina

Mit kleinem Gepäck


ausgezeichnet

Die Reihe „Wunderschön“ im WDR zählt zu den Reisesendungen, die ich mir besonders gern ansehe. Das liegt auch an der sympathischen Moderatorin Tamina Kallert, die so eine natürliche und herzliche Ausstrahlung hat. Ich hätte nicht gedacht, dass sich mein Eindruck durch ihr Buch „Mit kleinem Gepäck“ derart bestätigt.

Als Zuschauer fragt man sich ja, wieviel in der Sendung gespielt und wieviel „echt“ ist. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Reisejournalistin ständig in den Genuss leckerer Süßwaren und regionaler Spezialitäten kommt und werde ganz neidisch. Da ahne ich natürlich nicht, wieviel mühsame Arbeit dahinter steckt, bis ein gedeckter Tisch in einer heimeligen Teestube perfekt in Szene gesetzt und ein kurzes Gespräch mit der Gastgeberin im Kasten ist.

Tamina Kallert berichtet von berührenden Begegnungen mit Einheimischen, abenteuerlichen Dreharbeiten, von typischen Konflikten im Filmteam und dem anstrengenden Wechsel zwischen ständiger Präsenz und Stand-By-Modus. Die Autorin gewährt dabei nicht nur einen vielfältigen Blick hinter die Kulissen, sondern auch in ihr persönliches Leben und ihre berufliche Entwicklung. Besonders gut gefiel mir, dass sie immer wieder selbstkritisch ihre Einstellung und ihr Verhalten reflektiert, sich mit ihren Schwächen auseinandersetzt und versucht, aus ihren Erfahrungen dazuzulernen.

Ihre Gedanken und Einsichten dürften nicht nur für ihre Berufssparte, sondern für jeden eine Bereicherung sein, der sich mit der Frage beschäftigt, wie er seinen Berufs- und Lebenstraum verwirklichen kann. Ich fühlte während der Lektüre eine immer stärkere Verbundenheit mit Tamina Kallert, nicht nur, weil sie so lebendig, sprachlich einnehmend und leidenschaftlich aus ihrem aufregendem Alltag erzählt, sondern dem Leser auch eine sehr wichtige Empfehlung mit auf den Weg gibt: mit Neugier, Offenheit und unvoreingenommen, also „kleinem Gepäck“, durchs Leben zu gehen.

Bewertung vom 11.10.2018
Pachl-Eberhart, Barbara

Wunder warten gleich ums Eck


sehr gut

Wer in der heutigen Zeit an Wunder glaubt, wird schnell für verrückt erklärt oder naiv gehalten. Und wer sich aktiv auf die Suche nach Wundern begibt wahrscheinlich erst recht. Trotzdem wagte Barbara Pachl-Eberhart vor fünf Jahren ein Experiment: Statt auf ein Wunder zu warten, ging sie auf Entdeckungstour und schrieb ein Buch darüber. „Man findet jederzeit ein Wunder, wenn man mit offenen Augen spazieren geht“, so ihre Überzeugung.

Dabei ist alles eine Frage der Definition, wie der Leser bald feststellen wird. Dass sie es sich bei dem Experiment nicht zu einfach machen will und nicht jede Kleinigkeit als Wunder durchgehen lässt, macht sie sympathisch. Sie zeigt aber auch, dass Eigenschaften wie Offenheit, Neugier und Achtsamkeit das Unterfangen wesentlich erleichtern.

Das Spektrum an Wundern, von denen uns die Autorin erzählt, reicht von herzerwärmenden Beobachtungen in der U-Bahn über Staunenswertes in der deutschen Sprache bis hin zu Phänomenen in der Natur. Manches ist nur schwer nachvollziehbar wie ihr spirituelles Erlebnis beim Tod ihrer Tochter – manch anderes Beispiel schien mir etwas weit hergeholt. ‚Wunder‘ hat einen magischen Klang, ist aber auch ein dehnbarer Begriff, der schnell schwammig werden kann.

Staunend durch die Welt zu gehen, ist eine Haltung, die ich sehr schätze und gern viel öfters einnehmen würde, doch der auf Effizienz getrimmte Alltag macht es einem nicht leicht. Das Büchlein hat mich wieder daran erinnert, im Alltag den Blick für die Kostbarkeiten im Leben zu schärfen und nicht alles als selbstverständlich anzusehen.