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clematis

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Insgesamt 267 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2024
Welsh, Renate

Johanna


ausgezeichnet

Die Dirn

Die dreizehnjährige Johanna, unehelich geboren, bei einer Ziehfamilie aufgewachsen, verlässt um 1930 das kleine Dorf nahe Güssing im Burgenland, um über den Semmering nach Niederösterreich zu fahren und dort Schneiderin oder einen anderen Beruf zu erlernen. Tatsächlich jedoch landet sie als Dirn (Magd) auf einem Bauernhof und wird gegen ein Bett in der Kammer der Bauerstochter und ein karges Mahl zu allerhand anstrengenden Arbeiten in Haus und Stall herangezogen.

Nüchtern im Schreibstil handelt Renate Welsh diesen Roman ab und vermag es dennoch, mit jedem Satz, mit jeder Szene, das Herz des Lesers zu berühren. Aber genau so war es damals, vor hundert Jahren, als uneheliche Kinder nichts zu wollen hatten. „Das wäre ja noch schöner, wenn ledige Kinder schon was wollen dürften!“ (kindle, Pos. 259). Ungern fügt sich Johanna in ihr Schicksal, hadert damit, dass sie von der Mutter „hergeschenkt“ worden ist, irgendwann nur noch ein „so was“ ist für die Nachbarn, nicht einmal mehr „so eine“ (Uneheliche). Trostlos, aber doch voller Lebendigkeit, schildert Welsh, wie es Johanna und Ihresgleichen ergangen ist, zeigt Bilder von blutigen Händen durch schwere Arbeit, Bilder von schweren Herzen durch die Einsamkeit. Ausgezeichnet gelingt eine sehr realitätsnahe Darstellung des Lebens in den 1930er-Jahren, welche überschattet ist von Standesdenken, hartem Schaffen und Entbehrungen. Trotz allem Ungemach kann Johanna durchhalten, kann sich ihre Träume und Ziele stets vor Augen bewahren, auch wenn es nicht immer einfach ist.

Ein willensstarkes Mädchen in schwierigen Zeiten, eine einfache Dirn am Rande der Gesellschaft, eine, der nichts zusteht, die aber allen Widerständen zum Trotz ihren Platz sucht. Ein lesenswertes Buch, nicht nur für Jugendliche! Ich empfehle „Johanna“ nach bewegenden Lesestunden sehr gerne weiter und bin natürlich neugierig auf den Folgeband „Die alte Johanna“. Fünf von fünf Sternen!

Bewertung vom 09.07.2024
Läckberg, Camilla; Fexeus, Henrik

Nachtwasser / Dabiri Walder Bd.3 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

U-Bahn

In den Tunneln der Stockholmer U-Bahn werden Knochen gefunden, menschliche Knochen, fein gesäubert. Ein Finanzier wird genannt im Zusammenhang mit dem Skelett und der Justizminister bekommt einen Drohbrief. Aber auch Vincent Walder, der Meistermentalist, wird mittels Rätselaufgaben immer weiter in die Enge getrieben. Wie soll sich Kommissarin Mina Dabiri verhalten?

Teil Drei beginnt – zumindest für mich – mit einer grandiosen Überraschung. Und auch später gibt es immer wieder völlig unerwartete Zusammenhänge und Verknüpfungen. Läckberg und Fexeus sorgen zum wiederholten Mal für einen spannenden Handlungsverlauf, der den Leser in Atem hält. Die Personen sollten schon bekannt sein (ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Quereinstieg in die Trilogie das volle Lesevergnügen bietet) und entwickeln sich realistisch weiter, die Stockholmer Tunnelwelt im U-Bahnsystem ist ein außergewöhnlicher Schauplatz für das aktuelle Geschehen. Mina und Vincent sind mir trotz ihrer ganz speziellen Eigenheiten – oder gerade deswegen? – mittlerweile ans Herz gewachsen, ihre privaten Verstrickungen im Gesamtgeschehen sind kaum absehbar und berühren mich schlussendlich sehr. Wie wunderbar das Autorenteam den Kreis schließt über alle drei Teile – ich bin beeindruckt.

Ein empfehlenswerter Abschluss der überaus spannenden Dabiri und Walder – Trilogie, welche interessante Kriminalfälle mit viel Persönlichem verknüpft. Gerade diese ausgewogene Mischung mit Figuren, welche nicht auswechselbar sind, hat mich sehr stark angesprochen. Ich empfehle die komplette Serie sehr gerne weiter.

Bewertung vom 09.07.2024
Beer, Christina

Kiss me, Fräulein


sehr gut

Shake, Rattle and Roll

In der Bayrischen Oberpfalz ist eine große Kaserne mit amerikanischen Besatzern stationiert. Die dortige Micky Bar ist auch für „deutsche Fräulein“ ein anziehender Ort, wo man den Alltag hinter sich lassen kann und ein paar wenige Stunden dem Vergnügen und dem Tanz frönen kann. Mitreißende neue Musik aus Amerika, Rock’n‘Roll, wird hier gespielt und die jungen Soldaten haben durchwegs gute Manieren, oft sogar bessere als die heimischen Bauernsöhne. Wie all das die drei Freundinnen Jule, Ingrid und Gerda beeinflussen wird? Ami-Liebchen sind ja nicht gerade gerne gesehen unter den Deutschen …

Abwechselnd erzählt Christina Beer aus dem Blickwinkel der drei Mädchen, welche anfangs zwischen 17 und 19 Jahren alt sind. Dabei wechseln nicht nur die Szenen, sondern auch immer gleich einige Jahre, sodass weniger Wichtiges übersprungen wird. Alsbald feiern auch die beiden Jüngeren ihren 21. Geburtstag und damit ihre Volljährigkeit. Dass sie damit aber von ihren Eltern unabhängig sind, das ist in den 1950er-Jahren nicht der Fall. Und es gibt immer noch Vorbehalte gegen Amerikaner, insbesondere „Neger“ (was aufgrund des Realitätsbezuges auch so ausgesprochen wird). Aber auch Geschiedene und Evangelische bringen Schande über die selbsternannten „ehrbaren Katholiken“. Viel Konfliktpotential liegt in dieser Geschichte, Christina Beer greift etliche Punkte davon auf und arbeitet sie so in eine durchaus glaubwürdige Handlung ein, welche sich da oder dort ähnlich zugetragen haben könnte. Manchmal fehlen mir beim Lesen etwas die Emotionen der Hauptfiguren, fügen sie sich vielleicht zu schnell in ihre jeweilige Situation ein. Ein wenig Schwung, der zum Ende hin aufkommt, hätte schon früher gut getan. Nichtsdestotrotz ist die Zeit gut dargestellt, die Atmosphäre schön eingefangen. „Was der Vater sagt, das wird gemacht.“ „Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst, wirst du gehorchen.“ Ältere Leser haben das möglicherweise noch selbst gehört, jüngere aus Erzählungen mitgenommen. Ebenso die „g’sunde Watschen, die noch keinem geschadet hat.“ Während Jule, Ingrid und Gerda sich früher immer am Badesee getroffen haben, gehen sie mittlerweile ganz unterschiedliche Wege. Wohin sie diese führen? Lest selbst!

Deutschland in den 1950ern, Abhängigkeit der Frauen von ihren Eltern und später ihren Ehemännern, Ami-Liebchen unter schrägen Blicken der Einheimischen oder die aufstrebende Mode- und Filmszene – vielfältige Themengebiete fließen ein in diesen Roman. Auch wenn er etwas ruhiger gehalten ist, durchaus lesenswert.

Bewertung vom 08.07.2024
Heine, Heinrich

Reise nach Italien (eBook, ePUB)


sehr gut

Unterwegs

Von München bricht Heinrich Heine im Jahre 1828 nach Italien auf, um der – wie er es beschreibt – einengenden Tätigkeit im Cotta-Verlag zu entkommen. Mit den Augen des Signor Enrico (italienisch Herr Heinrich) beschreibt er seine Eindrücke für die Daheimgebliebenen.

Erst ein wenig gewöhnungsbedürftig, bald aber durch ihre Poesie und Punktgenauigkeit beeindruckend, zieht Heines Sprachgewandtheit den Leser in den Bann. Über Trient geht es nach Verona und Mailand, Brescia, Genua und Lucca. Aus familiären Gründen muss er Rom, den gedachten Höhepunkt seiner Reise, auslassen und in seine Heimat zurückkehren. Mit einem Blick auf das reale Leben im schönen Italien, im Land der Sehnsucht der Deutschen, schildert Heinrich Heine die Obstfrau mit ihren saftigen, glänzenden Früchten, erzählt von Statuen, welche Abbild sinnlicher Damen sind und von der Liebe unter dem südlichen Sternenhimmel. In jeder Zeile spürt man, wie Heine seine Tage des Vergnügens genießt, die Vorzüge des fremden Landes zu nützen weiß. Aber auch Kritik lässt er nicht missen, so zum Beispiel an der Kirche oder an heuchlerischer Kunst. So wird aus diesen Reisememoiren ein ganz persönliches Werk, das auch heute, knapp zwei Jahrhunderte später, noch spannend zu lesen ist.

Bei diesem Büchlein handelt es sich um eine Zusammenstellung des Verlags aus Heines Buchreihe „Reisebilder“. Fast könnte man meinen, es sei ein Aperitif auf weitere Eindrücke von Heines Auslandsaufenthalten, welche man nun gerne noch weiter vertiefen möchte. Heines Detailgenauigkeit und Scharfsinnigkeit begeistert mich auch diesmal wieder, ebenso wie früher schon mit „Ich rede von der Cholera“.

Bewertung vom 08.07.2024
Läckberg, Camilla; Fexeus, Henrik

Finsternebel / Dabiri Walder Bd.2 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Kindergarten

Aus dem Kindergarten entführt wird der fünfjährige Ossian aus Södermalm. Mina Dabiri und ihr Team begeben sich auf eine fieberhafte Suche, fieberhaft im wahrsten Sinne des Wortes, denn Stockholm wird von einer unerträglichen Hitzewelle heimgesucht.

Fall Zwei der Trilogie hält die Ermittler ebenso wie den Leser in Atem, schließlich geht es um ein Kinderleben. Aufgrund eines ähnlichen Falles wird die Ermittlergruppe aufgestockt, um rasch zu einem Ergebnis zu kommen, aber so einfach ist es natürlich nicht. Verärgerte und verängstigte Eltern begegnen Mina, eine politische Partei versucht, Kapital aus dem Thema zu schlagen, die flirrende Hitze lähmt jede einzelne Bewegung – lebhaft und bildreich stellen Läckberg und Fexeus das Geschehen dar, der entstehende Sog nimmt jeden mit. Auch wenn dieser Band für sich allein stehen kann, empfiehlt es sich, die Trilogie in richtiger Reihenfolge zu lesen, zu interessant sind die Figuren und deren Entwicklung. Anders als bei „klassischen“ Krimis geht es hier ja nicht nur um die Lösung eines Falles, sondern um ganz persönliche Verstrickungen unter den Ermittlern.

Diesmal gibt es zwar einige konstruierte und nicht ganz glaubhafte Szenen, dennoch beeindruckt die Handlung durch viele raffiniert untergebrachte Details. Sämtliche Charaktere werden überaus lebendig durch die Zeilen des Autorenteams, Stockholm als Stadt ruft sich mir schnell wieder ins Gedächtnis, obwohl ich schon länger nicht mehr da war. Das Zusammenspiel von aufregender, ermüdender Ermittlungsarbeit und persönlichen Abrechnungen ist sehr gut gelungen. Ich werde alsbald Band Drei aus dem Regal holen …

Bewertung vom 06.07.2024
Kilcher, Andreas

Kafkas Werkstatt (eBook, ePUB)


sehr gut

Lesen - Schreiben

Wie entsteht Weltliteratur wie zum Beispiel das Werk von Franz Kafka? Mit den Hintergründen von Erzählungen und Romanen beschäftigt sich Andreas Kilcher in zwanzig Jahren akribischer Arbeit und legt die Quintessenz in „Kafkas Werkstatt“ vor.

Übersichtlich gegliedert und in logische Kapitel eingeteilt geht Andreas Kilcher verschiedensten Fragen nach und beschreibt anschaulich, wie Franz Kafka sich durch Lesen von Büchern, Zeitschriften, Katalogen inspirieren lässt. Des Weiteren sind es Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, welche Ideen anstoßen und verschiedenste gesellschaftspolitische Themen, mit welchen sich der Schriftsteller befasst. Anhand der sonderbaren Figur Odradek aus der sehr kurzen Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ erklärt Andreas Kilcher eindrücklich, wie auch Sozialismus und Marxismus, Zionismus, die Psychoanalyse von Freud oder okkulte Gespenstergedanken in der Geschichte zu finden sind und auch in Kafkas anderen Texten aufscheinen. Interessant sind besonders die kurzen Tagebucheinträge Franz Kafkas und Begegnungen mit zeitgenössischen Persönlichkeiten.

Zuweilen ist Andreas Kilchers Blick auf Kafkas Werk mit zu vielen Fachbegriffen aus der Literaturwissenschaft gespickt, sodass der Laie sich mitunter schwer tut, den komplizierten Gedankengengen zu folgen. Dann wieder wird die Betrachtung zugänglicher, wenn Vergleiche gebracht werden, zum Beispiel, wie Odradek mit Gespenstern und Dachböden von Synagogen in Zusammenhang gebracht werden kann. Die zahlreichen Illustrationen und Abbildungen runden den Text entsprechend ab, vieles wird noch besser vorstellbar.

Vom Lesen zum Schreiben, vom Ereignis zum Text, mit Leib und Seele ein Literat, ohne Literatur kann er nicht sein – Andreas Kilcher hat eine hochwertige und interessante Dokumentation verfasst über die unterschiedlichsten Einflüsse auf Franz Kafka und sein Werk. Wenngleich die Lektüre mitunter herausfordernd und anstrengend ist, so ist sie doch empfehlenswert, wenn man sich für Literaturgeschichte interessiert. Möglicherweise geben sich Schriftsteller aber gar nicht so vielen Gedankengängen hin während sie schreiben, wie Jahre und Jahrzehnte später von Wissenschaftlern unterstellt wird? Egal, ich werde schon bald wieder eine Erzählung Kafkas aus dem Regal nehmen und mich einfach am Text erfreuen.

Bewertung vom 06.07.2024
Läckberg, Camilla; Fexeus, Henrik

Schwarzlicht / Dabiri Walder Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Illusionen

In einer Illusionenkiste wird eine junge Frau tot aufgefunden, brutal durchbohrt von zahlreichen Schwertstichen. Die Stockholmer Kommissarin Mina Daibiri tritt auf der Stelle und zieht schließlich den Meistermentalisten Vincent Waldner zu Rate. Erst im Laufe der monatelange andauernden Ermittlungen bemerken sie ihre ganz persönliche Verstrickung darin. Eine überaus spannende Trilogie beginnt.

Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite ist Teil 1, Schwarzlicht. Trotz der über 600 Seiten und oftmaligem Abschweifen vom eigentlichen Kriminalfall wird die Handlung für den Leser jedoch niemals langweilig oder träge, im Gegenteil, die vielen persönlichen Szenen nehmen einen wichtigen Platz ein im Gesamtgeschehen. Auch der tausendste Hinweis auf Minas zwanghafte Gewohnheit ist nicht lästig, auch die millionste mathematische Überlegung Vincents nicht öde. Läckberg und Fexeus schaffen es glänzend, die beiden Hauptfiguren so lebendig wie möglich darzustellen und sie dem Leser überaus realistisch zu präsentieren. Mit detaillierter Recherche zu Illusionenkisten und anderen „zauberhaften“ Materialien – im wahrsten Sinn des Wortes – schaffen die beiden Autoren einen ganz speziellen, sehr interessanten Hintergrund zum Mordfall. Sowohl die Ermittlergruppe im Kommissariat als auch Mina und Vincent selbst sind außerordentlich gut getroffen, die sich erst sehr zögerlich offenbarende Vergangenheit bringt schlussendlich Licht ins Dunkel.

Ein großartiger, sehr vielschichtiger Fall, der klug aufgebaut ist und quer durch sämtliche Kapitel faszinieren kann. Ich bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung, welche bereits in meinem Bücherregal wartet. Auf alle Fälle vergebe ich fünf von fünf Sternen und eine Leseempfehlung!

Bewertung vom 03.07.2024
Claire, Anna

Die Kraft der Bücher / Die Glücksfrauen Bd.2 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Maria

Die drei Freundinnen Luise, Maria und Anni reagieren ganz unterschiedlich auf den zunehmenden Antisemitismus im Berlin der 1930er-Jahre. Auf den Spuren Marias, einer Jüdin, geht es im zweiten Band dieser wunderbaren Trilogie von Berlin nach Rio de Janeiro. Wiederum auf zwei Zeitebenen begleiten wir Maria auf der Flucht ab dem Jahre 1939 und ihre Enkelin Sandra auf einem ähnlichen Weg knapp 85 Jahre später.

Anna Claire hat aufgrund ausgiebiger Recherchen kurzerhand aus einer Vielzahl an historisch belegten Episoden einen aufregenden und authentischen fiktiven Roman erschaffen. Durch ihre detaillierte Beschäftigung mit dem schrecklichen Stoff von Judenverfolgung und Nazi-Gräueln wird jede einzelne Szene so lebendig, so berührend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Zu spannend, zu aufwühlend ist die Handlung, der man von einem Kapitel zum nächsten, von einer Zeitschiene zur anderen folgen möchte. Gekonnt sind die Wechsel von Maria und ihrer Familie zu Sandra und deren neu gewonnenen Freundin June angebracht, abrupte Kapitelenden steigern die Dramatik immer wieder. Besonders schön mitanzusehen ist es, wie mutig die Frauen in dieser Geschichte sind, wie stets neue Wege gefunden werden und die Flamme der Hoffnung, sei sie auch noch so klein, niemals erlischt. Als Leser darf man mitfiebern mit all den Figuren, die man bald liebgewonnen hat, jetzt heißt es noch, das letzte Geheimnis der damaligen drei Freundinnen Luise, Maria und Anni aufzuspüren.

Authentisch und lebendig ist auch Band Nummer Zwei der Glücksfrauen, ich bin schon sehr neugierig darauf, was Anni während der Kriegsjahre und danach widerfahren ist.

Bewertung vom 02.07.2024
Sila, Tijan

Radio Sarajevo (eBook, ePUB)


sehr gut

Mit den Augen eines Kindes

Mit den Augen eines Kindes erzählt Tijan Sila vom Krieg, mit seinen Augen, die im zarten Alter von nur zehn Jahren das Verbrechen gesehen haben. Plötzlich herrscht in Bosnien Krieg, Sarajevo wird bombardiert, während man gerade noch genüsslich sein Ohr am Radio hatte und Bon Jovi lauschte. Eindringlich beschreibt der Autor, wie es ihm damals ergangen ist und wie man sich automatisch angepasst hat an die schreckliche Situation.

Dieses Buch spiegelt keine Szenen am Schlachtfeld wider, zeigt keine typischen Kampfhandlungen, nein, dieses Buch erzählt von einem Zehnjährigen, den der Geruch von Sprengstoff ebenso überrascht wie seine Eltern und Nachbarn, den der ohrenbetäubende Lärm ebenso in Aufruhr versetzt wie seine Freunde. Aber – er lernt damit zu leben, lernt, durch Tauschhandel an Essen zu gelangen, lernt, seine Tränen zurückzuhalten, fast fünfundzwanzig Jahre lang, denn der Krieg in einem drinnen, der hört nicht einfach auf, nur weil man nach Deutschland flieht. Sehr authentisch, wenn auch immer wieder eher sachlich und distanziert, lässt uns Tijan Sila teilhaben an seiner Freundschaft mit Sead und Rafik, Burschen, die im selben Grätzel wohnen und daher wie selbstverständlich einer gemeinsamen Bande angehören. Aber der Leser trifft auch auf väterliche Gewalt und schnelles Erwachsenwerden mit der Bürde, den kleinen Bruder zu hüten und sich in Krisenzeiten seinen Platz zu sichern. Traurig und bewundernswert zugleich, welche Strategien zum Zug kommen, wie man das Unvermeidliche zu akzeptieren sucht und zwischendrin noch Platz hat für Humor.

Ein Roman des Verarbeitens, ein Roman zum Erinnern, ein Roman zum Aufrütteln. Kindliche Naivität trifft hier auf ganz plötzlich veränderte Anforderungen, denen man sich stellen muss. Ein erschütterndes Bild aus der Sicht eines Kindes, das viel zu schnell erwachsen wird – lesenswert.

Bewertung vom 01.07.2024
Claire, Anna

Der Geschmack von Freiheit / Die Glücksfrauen Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Luise

Berlin, 1936: Drei Freundinnen, Luise als Widerstandskämpferin, Maria als Jüdin und Anni als Freundin eines Gestapo-Mannes halten zwar eng zusammen, denken aber ganz unterschiedlich über die Auswirkungen des Nazi-Regimes. Luise entscheidet sich, nach New York auszuwandern und möchte dort, mit Anteilen ihrer Freundinnen, ein Restaurant eröffnen. Erst rund 85 Jahre später erfährt ihre Enkelin June von Maria und Anni und begibt sich aufgrund von Luises Testament auf Spurensuche.

In unregelmäßiger Abfolge wechselt die Geschichte zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 2023. Beide Zeitstränge sind wunderbar zu lesen, werden Anna Claires warmherzige Worte zu lebendigen Erinnerungen an Geschehnisse, welche sich tatsächlich so ähnlich ereignet haben und die Autorin bei ihrer intensiven Recherche inspiriert haben. Ihre Figuren legt die Autorin vielschichtig an, stets sind diese glaubwürdig in ihren Gedanken und Handlungen. Sehr schön kann der Leser auch mitverfolgen, wie sich durch verändernde Situationen die jeweilige Person verändert, wie sich jede für sich arrangiert mit den neuen Gegebenheiten. Der Fokus liegt dabei zum Glück nicht auf detaillierten Nazi-Gräueltaten, sondern auf der Hoffnung, auch wieder eine bessere Welt und schönere Zeiten zu erleben.

Ein sehr herzlicher und lebensbejahender Roman mit vielen sympathischen Figuren, ich bin gespannt, wem ich in Brasilien (Band 2 der Trilogie) begegnen werde.