Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Circlestonesbooks.blog
Über mich: 
Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

Bewertungen

Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 26.05.2021
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Proust, Marcel;Heuet, Stéphane;Brézet, Stanislas

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit


ausgezeichnet

Marcel Proust als Graphic Novel

„Ich war nicht alt genug und noch zu empfindsam, als dass ich schon auf das Verlangen hätte verzichten können, anderen zu gefallen und sie für mich zu gewinnen. Ich besaß nicht die noblere Gleichgültigkeit eines Mannes von Welt gegenüber den Personen im Speisesaal oder den jungen Herren und Damen auf der Strandpromenade …“ (Zitat Seite 13)

Inhalt
Um Marcels durch Asthma angegriffenen Gesundheit zu verbessern, fährt seine Großmutter mit ihm auf Sommerfrische in das Seebad Balbec. Endlich kann er im Ort Balbec selbst die Kirche besichtigen, von der ihm Swann erzählt hatte. Sie wohnen im Grand-Hotel von Balbec direkt am Meer und ordnen sich in den Tagesablauf der gesellschaftlichen Unterhaltungen, Ausflüge und gegenseitigen Einladungen ein.

Thema
1998 begann der französische Autor und Zeichner Stéphane Heuet, fasziniert vom Originalwerk von Marcel Proust, an einer Comic-Adaption zu arbeiten. Inzwischen liegen sieben Bücher auch in einer deutschen Ausgabe vor.

Umsetzung
Diese Graphic Novel orientiert sich an Band 2 „Im Schatten junger Mädchenblüte“ des Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Stéphane Heuet wählt bewusst die beiden wichtigsten Themen aus dem literarischen Vorbild aus, einerseits die impressionistischen Stimmungen des Meeres und der Landschaft des Seebades Balbec, andererseits die genauen, interessierten Beobachtungen des jungen Marcel. Detailliert wird das Verhalten der einzelnen Personen im Rahmen der strengen gesellschaftlichen Normen geschildert, die Mahlzeiten im Hotel, die Einladungen und der Tratsch. Bei diesen belebten Szenen mit vielen Figuren bleibt Stéphane Heuet dem Stil der Ligne claire treu.

Fazit
Dieser siebente Band der Graphic Novel nach „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust macht besonders durch seine Authentizität, die Vielfalt der Themen und Zeichnungen Spaß, da es immer wieder neue Details zu entdecken gibt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.05.2021
Der Himmel ist hier weiter als anderswo
Pauling, Valerie

Der Himmel ist hier weiter als anderswo


sehr gut

Neubeginn im Alten Land

„Fee dachte auf einmal, dass sie gern an ihrer Stelle wäre, befreit von den Vorgaben eines Orchesters, von Druck und Hierarchie und frei von der Vergangenheit.“ (Zitat Seite 117)

Inhalt
Felicitas „Fee“ ist eine Künstlerin auf ihrer Geige. Dann stirbt ihr Mann Jan, erst neununddreißig Jahre alt, zu Hause an einem Herzinfarkt, während sie ihren Solopart in einem Konzert spielt. Traumatisiert kann sie nicht mehr Geige spielen und auch zwei Jahre später verharrt sie noch in ihrer Trauer. Als sie ihren Job als Musiklehrerin verliert und gleichzeitig ihre Wohnung in Hannover gekündigt wird, trifft sie eine Entscheidung. Sie kauft ein großes, altes Haus, umgeben von einem weiten, verwilderten Grundstück, und zieht mit ihren vier Kindern nach Kirchenfleth in der Nähe von Hamburg, im Alten Land. Früher war das Haus ein Gasthof und so hat ihre vierzehnjährige Tochter Rieke die Idee, wieder Ausfluggäste zu bewirten. Denn es stehen wichtige Reparaturen an und Fee hat ihre finanziellen Rücklagen aufgebraucht. Nach einem gefährlichen Zwischenfall im Garten stürzen sich die Sozialen Medien und die Zeitungen auf die Geschichte, und obwohl alles gut gegangen ist, schildern sie Horrorszenarien und das ist das Ende des „Jardin de menthe“. Soll sie aufgeben und das Haus an den örtlichen Bauunternehmer und Investor verkaufen, der schon seit Jahren an dieser Immobilie interessiert ist?

Thema und Genre
Dieser Roman spielt im Alten Land, es geht um das Leben in einer Dorfgemeinschaft auf dem Land, den Jahreslauf in der Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit. Kernthemen sind Familie, Trauer, Traumata, doch die Geschichte handelt auch von Freundschaft, Zusammenhalt, Entscheidungen, Aufbruch, dem Mut, neue Wege zu gehen.

Charaktere
Die Geigerin Felicitas tut alles für ihre Kinder und übersieht, dass sie mit ihrer an Egoismus grenzenden Trauer, die sie und ihr Leben steuert, auch die Kinder blockiert, für die das Leben weitergehen sollte. Sie will alles richtig machen, trifft die Entscheidungen allein, ist aber für ihr Alter erstaunlich vertrauensselig und naiv. Sie will das Beste für ihre Kinder, überfordert sie aber gleichzeitig. Eine zögerliche Figur, die manchmal nicht nur ihre Kinder, sondern auch uns Leserinnen nervt. Liebenswert sind dagegen die Kinder, die dem jeweiligen Alter entsprechend authentisch beschrieben sind und die Handlung beleben.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt im Lauf eines Jahres und ist in die Abschnitte Frühjahr, Sommer, Herbst, … Und wieder Frühjahr gegliedert, diese in einzelne Kapitel. Im Mittelpunkt der Handlung steht Felicitas. Die Ereignisse werden ergänzt durch interessante Schilderungen der dörflichen Gemeinschaft, beeindruckende Beschreibungen der Schönheit der Landschaft und Natur, dieser Weite, die langsam auch die Gedanken lösen und befreien kann. Natürlich spielt auch die Musik eine wichtige Rolle und ein Roman wie dieser kommt nicht ohne Gefühle und Liebe aus.

Fazit
Ein unterhaltsam zu lesender Roman über Verlust, Trauer, ein lebhaftes Familienleben, Aufbruch und Neubeginn. Das Alte Land als Ort der Handlung lädt zum Träumen ein.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2021
So offen die Welt
Hahn, Ulla

So offen die Welt


sehr gut

Moderne Lyrik

„Noch müssen wir es / einander nicht antun / dieses eine einzige / Nimmermehr / Wenn nur eines / meins oder deines / weiterschlägt“ (Zitat aus „Ruhig“, Seite 25)

Inhalt
Neue Gedichte, in vier übergeordnete Kapitel eingeteilt, die jeweils sechzehn bis einundzwanzig Gedichte enthalten.

Themen und Sprache
Themen des ersten Kapitels sind Liebe, Ehe, zeitlose Gefühle und Erinnerungen, Sehnsucht, auch hier beginnt in manchen Zeilen schon die Vorahnung des Alterns, leise Gedanken an Abschied schwingen mit.
Im zweiten Kapitel geht es vor allem um die Sprache, darum, Gedanken in Worte zu fassen, das Schreiben, eine Lesung und Geschichten.
Im dritten Kapitel schwingen mit den Gedanken zum Älterwerden auch die Beobachtungen des Lebenslaufes mit, Wehmut und Veränderungen. „Ja früher“, „Altern lernen“.
Im vierten Kapitel finden sich Texte und Gedanken, die ein kritisches Resümee ziehen über aktuelle Themen unserer Zeit „That’s life.
Immer wieder verbinden sich die Gedanken aus dem Leben und die eigenen damit verbundenen Erfahrungen mit Beobachtungen in der Natur, im ersten Teil ist es der Frühling, im zweiten Teil der Sommer, im dritten Teil lesen wir über einen „Tag im Herbst“ und im vierten Teil schließlich findet sich ein Text über einen „Vogel im Winter“.
Die Sprache probiert immer Neues aus, mal darf sie sich ganz traditionell reimen, dann wieder überrascht sie mit scheinbar willkürlich gesetzten Umbrüchen, lässt Satz- und Gedankenfragmente durch den Text wirbeln, spielt mit allen Möglichkeiten.

Fazit
Der vorliegende Gedichtband enthält Texte zwischen Lebensfreude, Erfahrung des Älterwerdens, Sehnsucht und Wehmut. In manchen Gedichten überwiegt die Neugier der Lyrikerin auszuloten, welche Möglichkeiten Sprache noch bieten kann, alles wird ausprobiert, und so unterliegen beim Lesen manchmal die Aussagen den kreativen Wortgefügen. „Alles fließt und Nichts an seinem Platz.“ (Zitat aus „Standort, Bestimmung“, Seite 68)

Bewertung vom 23.05.2021
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 5)
Proust, Marcel;Heuet, Stéphane

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 5)


ausgezeichnet

Proust als Graphic Novel

„Meine Mutter jedoch verstand das sehr gut; sie wusste, dass ein großer Teil des Vergnügens, das eine Frau daran findet, in ein anderes Milieu als ihr bisheriges einzudringen, ihr abgehen würde, wenn sie nicht ihre alten Bekanntschaften von den verhältnismäßig glänzenden Beziehungen, die an ihre Stelle getreten sind, in Kenntnis setzen könnte.“ (Zitat Seite 41)

Inhalt
Marcel erinnert sich an seinen ersten Theaterbesuch. Mit seiner Großmutter sah er eine Aufführung mit der berühmten Schauspielerin Mme Berma als Phädra. Im Mittelpunkt dieses fünften Buches der Umsetzung des Werkes von Proust als Graphic Novel steht jedoch der kultivierte Herr Swann, der frühere Freund von Marcels Eltern, der durch seine Ehe mit Odette auf seinen gesellschaftlichen Status verzichtet hatte und vor allem das Mädchen Gilberte, die Tochter des Paares. Denn Marcel ist in Gilberte verliebt. Auch die gesellschaftspolitischen Schwerpunkte, die der junge Marcel sehr genau beobachtet und den vielen Gesprächen mit seinen Eltern und deren Gästen entnimmt, sind hier grafisch und textlich umgesetzt.

Thema
1998 begann der französische Autor und Zeichner Stéphane Heuet, fasziniert vom Originalwerk von Marcel Proust, an einer Comic-Adaption zu arbeiten. Inzwischen liegen sieben Bücher auch in einer deutschen Ausgabe vor.

Umsetzung
Diese Graphic Novel orientiert sich an den Bänden 1 und 2 des Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Auch in dieser Graphic Novel überzeugt Stéphane Heuet durch die Auswahl der Themen und Szenen und gibt es ein interessantes Zeitbild der gehobenen Gesellschaft des Fin de siècle in Frankreich. Der Stil der Zeichnungen passt in diese Zeit, die Vorbilder sind die Impressionisten, vor allem die Sammlungen des Musée d’Orsay, die jedoch im Stil der Ligne claire umgesetzt werden.

Fazit
Auch dieser fünfte Band der Graphic Novel nach „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust macht viel Freude und überzeugt.

Bewertung vom 23.05.2021
Schilf im Wind
Deledda, Grazia

Schilf im Wind


ausgezeichnet

Ein klassischer Sardinien-Roman

„Und mit einem Mal hatte Efix das Gefühl, dass seine unglückseligen Herrinnen endlich eine Stütze, einen Beschützer gefunden hatten, der mehr wert war als er selbst.“ (Zitat Seite 229)

Inhalt
Schon zu Lebzeiten ist der despotische Vater von Donna Ester, Donna Ruth und Donna Noemi gezwungen, nach und nach seine umfangreichen Ländereien zu verkaufen. Nach seinem Tod leben die unverheirateten Schwestern in ihrem längst restaurierungsbedürftigen Haus von dem Ertrag des einzigen sich noch in ihrem Besitz befindlichen kleinen Landgutes, das seit vielen Jahren von ihrem alten Knecht Efix bewirtschaftet wird. Als der Neffe Don Giacinto, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester Lia, die einst aus dem strengen Vaterhaus geflüchtet war, seinen Besuch ankündigt, hat Efix große Hoffnung, dass sich nun alles zum Besseren wenden und der Neffe sich in Zukunft um seine Tanten kümmern wird. Doch so wie der Wind die Schilfrohre zu brechen versucht, bringt das Schicksal Ereignisse, denen sich Ester, Ruth, Noemi und auch Efix stellen müssen.

Thema und Genre
Dieser Roman, erschienen 1913, handelt von Schicksal, Schuld, Buße, Liebe, der Gesellschaftsstruktur auf der traditionsverhafteten Insel Sardinien am Beginn des 20. Jahrhunderts, Religion, Mythen, Aberglaube, und dem einfachen Leben in der herben, kargen Landschaft Sardiniens.

Charaktere
Efix lebt ein sehr genügsames Leben umgeben von der Natur seiner Heimat. Seinen langjährigen Dienst für die Schwestern Pintor sieht er als Sühne und selbst auferlegte Strafe für eine tief in der Vergangenheit liegende Schuld. Giacinto, der Neffe der Damen Pintor, ist ein junger Mann mit guten Vorsätzen, doch labil und korrumpierbar. Die einzelnen Figuren dieses Romans sind klar und naturalistisch geschildert und zeigen ein authentisches Gesellschaftsbild auf dieser in sich abgeschlossenen, fest in den alten Traditionen verankerten Insel am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Handlung und Schreibstil
Es werden die Ereignisse im Leben der Damen Pintor und ihres treuen Knechts Efix in der Gegenwart, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geschildert. Erklärende Rückblenden ergänzen die aktuelle Handlung, die aus dem personalen Blickpunkt von Efix geschildert wird. Die Beschreibung der Denkweise und Gefühle der einzelnen Charaktere, der unterschiedlichen Konflikte, erinnert in ihrem sprachlichen Überschwang an die Rührstücke, die im deutschen Sprachraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also hundert Jahre früher, entstanden sind. Interessant machen diesen Roman die vielschichtigen Einblicke in das damalige Leben auf Sardinien, die Armut, die einfachen Lebensumstände, die Situation der Frauen, den Niedergang des Landadels verbunden mit dem Verlust der Güter, der Aufstieg der Kaufleute. Sehr treffend beschrieben ist auch die Geisteshaltung der Menschen zwischen der strengen katholischen Gläubigkeit mit vielen religiösen Festen und Pilgerfahrten, doch gleichzeitig tief in der alten Magie und dem Aberglauben verwurzelt, mit Kobolden und Geisterwesen. Zahlreiche Anmerkungen von Jochen Reichel erleichtern das Verständnis der einzelnen Begriffe. Dennoch zeigt auch die überarbeitete, sehr genaue Übersetzung meiner Meinung nach einige Schwachstellen, man hätte die damals typischen Bezeichnungen in der italienischen Originalform belassen sollen. Das älteren Menschen gegenüber als Zeichen des Respekts verwendete „Zio“ und „Zia“ ist keine verwandtschaftliche Bezeichnung und die Übersetzung mit „Onkel“ und „Tante“ mag in den vielen Fällen, wo es zum Beispiel nicht tatsächlich um die Tanten von Giacinto geht, verwirrend sein (ich habe beide Fassungen gelesen, die italienische und die deutsche).

Fazit
Ein interessantes Gesamtbild des Lebens auf der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer abgeschiedenen und den eigenen Regeln folgenden Insel Sardinien. Besonders beeindruckend an diesem Roman der sardischen Nobelpreisträgerin sind vor allem die poetischen, einprägsamen Schilderungen der Na

Bewertung vom 19.05.2021
Viktor
Fanto, Judith

Viktor


ausgezeichnet

Ein facettenreicher Generationenroman

„Tief in mir keimte die Hoffnung, dass ich durch ein Missverständnis – auf welche Weise auch immer – im falschen Leben gelandet war und dass mein eigentliches, mein echtes Leben irgendwo unberührt geduldig auf mich wartete.“ (Zitat Seite 73)

Inhalt
Geertje van den Berg studiert 1994 in Nimwegen Jura. Obwohl ihre Mutter Pauline aus einer wohlhabenden wienerisch-jüdischen Familie stammt, werden in der Familie keine jüdischen Traditionen mehr gepflegt. Für Geertje bedeutet dieses bewusste Verheimlichen des Judentums einen Konflikt, denn sie fühlt sich nicht als Geertje. Andererseits kennt sie auch ihre Wurzeln nicht, die Vergangenheit ihrer Familie, in der es einige sehr gut gehütete Geheimnisse gibt, über die nie gesprochen wird. Geertje ändert bewusst ihren Vornamen in Judith und begibt sich auf die Suche, die sie zurückführt in die Stadt Wien nach dem ersten Weltkrieg, wo ihr Großvater aufgewachsen ist, und besonders zu seinem geheimnisvollen, unkonventionellen Bruder Viktor.

Thema und Genre
In diesem Generationenroman geht es um die Nachkommen einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie, um die Schuldgefühle jener jüdischen Menschen, die überlebt haben, ihr Schweigen und die sich aus diesem Schweigen ergebenden Identitätsprobleme der heutigen Generation. Ein sehr interessantes Thema, das in dieser Form selten so eindrücklich geschildert wird.

Charaktere
Die einzelnen Personen der Handlung, die Mitglieder der Familie Rosenbaum und ihre Nachkommen, sind mit Humor und großem Einfühlungsvermögen für ihre Eigenheiten und ihre Verhaltensweisen beschrieben.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte der Familie wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die einander abwechseln. Geertje-Judith schildert als Ich-Erzählerin ihr Leben im Jahr 1994, ihre Familie, ihr Studium in Nimhagen und ihre Recherchen. Parallel dazu erfahren wir die Geschichte ihrer Vorfahren in Wien, beginnend im Jahr 1914, bis zur Flucht von Geertje-Judiths Großeltern Felix und Trude im Jahr 1939 nach Belgien. Notizen über spätere Ereignisse schließen diesen historischen Teil ab, in dessen personalem Mittelpunkt Viktor steht, der Bruder von Felix. Die Sprache erzählt packend und die Handlung und Personen haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Besonders beeindruckt mich die Mischung aus Ernst, Tiefgang und gleichzeitig lebhafter Leichtigkeit, mit der diese Geschichte geschrieben ist.

Fazit
Ein großartiger Familienroman mit einer interessanten Problematik, klug, eindrücklich und humorvoll.

Bewertung vom 18.05.2021
Sturmvögel
Golz, Manuela

Sturmvögel


gut

Ein Frauenleben

„Sie hatte nichts Besonderes getan, um alt zu werden. Sie hatte einfach nur gelebt und immer versucht, sich selber treu zu bleiben. (Zitat Position 2045)

Inhalt
Emmy Seidlitz stammt aus sehr einfachen, armen Verhältnissen. Sie wäre gerne länger in die Schule gegangen, aber schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges wird sie wieder freigestellt, weil ihre Mithilfe zu Hause gebraucht wird. Mit vierzehn Jahren kommt sie als Dienstmädchen zu einer vermögenden Familie in Berlin-Charlottenburg. Dort lernt sie Hauke kennen, der trotz des großen Standesunterschiedes ihr Ehemann wird. Nun, 1994, sind ihre drei Kinder längst erwachsen, am 20. November wird Emmy siebenundachtzig Jahre alt und lebt ein einfaches, zufriedenes Leben. Hilde und Otto, die beiden älteren Kinder, entdecken inmitten des alten Gerümpels im Keller einen Aktenordner mit Dokumenten, welche Emmy als Besitzerin von Grundstücken in Potsdam ausweisen. Sie müssen dringend mit ihrer Mutter darüber reden, denn offensichtlich hat sie keine Ahnung, was diese Immobilien wert sind. Vielleicht ergibt sich an ihrem Geburtstag eine Gelegenheit?

Thema und Genre
In diesem Frauen- und Familienroman wird ein Frauenleben geschildert, welches vom Beginn des 20. Jahrhunderts, durch zwei Weltkriege und wechselvolle Zeiten, bis zum Ende des Jahrhunderts reicht. Es geht um Verlust, Familiengefüge und die Liebe.

Charaktere
Emmy ist humorvoll, vorlaut und eigenwillig, und hat sich trotz zweier Weltkriege ihre positive Lebenseinstellung bewahrt. Keksbrösel bedeuten für sie, dass es auch Kekse gegeben hat. Leider gleitet diese Hauptfigur teilweise ins Klischeehafte ab, auch alle weiteren Charaktere der Geschichte passen in unterschiedliche, aber zu gewollt typische Raster.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte wird in mehreren Handlungssträngen erzählt, die einander abwechseln. Der aktuelle Erzählstrang umfasst einige Monate zwischen 1994 und 1995, die zweite Ebene erzählt das Leben Emmys in den Jahren 1911 bis 1945. Nicht immer halten die einzelnen Kapitel den Zeitablauf chronologisch ein und werden ergänzt durch Ereignisse in den Jahren 1974 und 1981. Jedes Kapitel trägt als Überschrift die jeweilige Zeitangabe, sodass es einfach ist, den Überblick zu behalten. Die gesamte Handlung bewegt sich im belletristischen Wohlfühlbereich und bleibt vorhersehbar. Auch die einfache Erzählsprache bringt keine Überraschungen. Auf Grund des Klappentextes hatte ich mehr erwartet.

Fazit
Ein leichter, positiver, manchmal etwas rührseliger Frauenroman, teilweise in die üblichen Klischees abgleitend, unterhaltsam zu lesen.

Bewertung vom 18.05.2021
Das Haus der Winde
Frank, Sylvia

Das Haus der Winde


gut

Sommer 1934 auf Hiddensee

„Sie schloss für einen Moment die Augen und spürte dem Windhauch nach, der direkt von der See herüberwehte und sich auf ihre erhitze Haut legte. Er brachte Kunde von den Verlockungen, die der Sommer auf Hiddensee in den nächsten Wochen für sie bereithalten würde.“ (Zitat Seite 67)

Inhalt
Am 3. Juni 1934 ist Asta Nielsen zusammen mit ihrer Schwester Johanne auf dem Weg auf die Insel Hiddensee. Gerade hat sie sich nach mehr als zehn Jahren von ihrem Lebensgefährten, dem Schauspieler Grigori Chmara, getrennt. Sie will sich in ihr gemütliches Haus Karusel zurückziehen und zur Ruhe kommen, einfach den Inselsommer genießen. In Stralsund, knapp vor der Abfahrt des Dampfers, trifft sie Kai Henning zum ersten Mal. Kurze Zeit später haben sie und Johanne einen Bootsunfall und werden von Fischern gerettet. Einer von Ihnen ist Kai Henning, Fischer und Tischler. Sie verlieben sich, doch sie leben in unterschiedlichen Welten. Kann diese Liebe eine Zukunft haben?

Thema und Genre
In diesem Frauenroman geht es um Asta Nielsen, das Leben auf Hiddensee, die politische Situation 1934 und natürlich um die Liebe

Charaktere
Einige Personen in diesem Roman sind real, andere fiktiv. Die berühmte Stummfilmdiva und Schauspielerin Asta Nielsen, eine selbstbewusste, leidenschaftliche und empathische Frau, wird in diesem Roman sehr gut und authentisch beschrieben.

Handlung und Schreibstil
Die personale Erzählform stellt Asta Nielsen in den Mittelpunkt. Die Handlung findet im Sommer 1934 statt, beginnt mit einem Rückblick auf die Kindheit von Asta Nielsen als Prolog, und einem kurzen ersten Kapitel in Berlin. Die eigentliche Geschichte spielt dann auf der Insel Hiddensee, wobei der Schwerpunkt auf den Personen, dem gesellschaftlichen Leben und der Liebesgeschichte liegt. Leider kommen die einzigartige Schönheit und Flair der Insel Hiddensee dabei etwas zu kurz, andererseits schildert das Autorenteam Alltägliches sehr ausführlich, so wird zum Beispiel eine halbe Seite lang beschrieben, wir man Sonnenblumen hochbindet. Daneben erfahren wir aber auch sehr interessante Details über die Fischereitechnik in dieser Zeit und das Leben der Menschen auf Hiddensee.
Die Sprache ist einfach, leicht zu lesen, gleitet leider öfter ins Rührselige ab.

Fazit
Eine ambitionierte, ansprechende Idee für eine Geschichte, die eine elegantere Umsetzung verdient hätte.

Bewertung vom 15.05.2021
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 1)
Heuet, Stéphane;Proust, Marcel

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 1)


ausgezeichnet

Eine interessante, sehr gelungene Umsetzung

„Es ist verlorene Liebesmühe, unsere Vergangenheit heraufbeschwören zu wollen. Alle Anstrengungen unseres Geistes sind vergeblich, Sie verbirgt sich außerhalb seiner Reichweite, in irendeinem unvermuteten Gegenstand.“ (Zitat Seite 13)

Thema
1998 begann der französische Autor und Zeichner Stéphane Heuet, fasziniert vom Originalwerk von Marcel Proust, an einer Comic-Adaption zu arbeiten. 2012 waren sechs Bände als Graphic Novel in französischer Sprache erschienen, die seit 2014 auch in einer deutschen Ausgabe vorliegen.

Inhalt
Viele Jahre lang erinnert sich Marcel, wenn er nachts aufwacht und nachzudenken beginnt, nur an sein Zimmer in Combray, die abendlichen Rituale des Zu-Bett-Gehens. Bis er eines Tages seine Mutter besucht, ein Stückchen einer Madeleine in seinen Tee taucht und plötzlich kehren die Erinnerungen an seine Jugendzeit lebhaft und mit allen Gefühlen und Gerüchen zurück.

Umsetzung
Diese Graphic Novel orientiert sich an Band 1 des Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Durch seine Auswahl der für ihn wichtigen Kernszenen, die er textlich und zeichnerisch umsetzt, und auch den Aufbau der Bildfolgen, gelingt es Stéphane Heuet, die Stimmung des Originalwerkes einzufangen. In der berühmten Szene, als Marcel plötzlich durch den Geruch und dann Geschmack eines in Tee getauchten Stückchens einer Madeleine auch in die Erinnerungen an seine Kindheit eintaucht, fühlen auch wir uns sofort in diese besondere Situation versetzt. Der Stil der Zeichnungen erfasst die damalige Zeit bis in das kleinste Detail, ist gleichzeitig modern und einfühlsam und verbindet sich mit dem Text zu einer Einheit, die mich von der ersten Seite an begeistert hat.

Fazit
Eine sprachlich und zeichnerisch überzeugende, interessante und lebendige Umsetzung des Originaltextes, in deren Bildersprache man sofort eintaucht, immer wieder neue Details entdeckend. Für mich ist es gleichzeitig eine späte Anregung, mich doch noch auf das Originalwerk einzulassen, denn diese Graphic Novel macht auch neugierig.

Bewertung vom 15.05.2021
Eine kurze Geschichte des Romans
Russell, Henry

Eine kurze Geschichte des Romans


ausgezeichnet

Ein unterhaltsamer Streifzug und ein praktisches Handbuch

„Das Buch, das Sie hier beginnen, in dem Sie schmökern, in das Sie hier und da eintauchen werden, ist ein Schnappschuss des Romans in Form einer Kurzgeschichte.“ (Zitat Vorwort Prof. Peter Boxall, Seite 6)

Thema und Inhalt
Dieses Buch ist ein Streifzug durch die Geschichte des Romans, am Beispiel von 67 ausgewählten Werken als besondere Beispiele zu der Vielfalt der unterschiedlichen Genres, Themen, Stil und Techniken. Der weite Zeitrahmen von eintausend Jahren beginnt mit „Die Geschichte vom Prinzen Genji“ von Murasaki Shikibu aus dem Jahr 1010, und endet mit „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante, 2012.

Umsetzung
Die Einteilung in vier Teile ist präzise, logisch und sehr übersichtlich. Nach einer kurzen Einführung folgen die Kapitel GENRES, WERKE, THEMEN, TECHNIKEN, wobei die Werke den Hauptteil bilden. Jedem dieser Hauptkapitel ist ein Kreis mit einer bestimmten Farbe zugeordnet, der dann auch als Hinweis dient, worauf sich die Querverweise in den Fußzeilen beziehen. Das Buch endet mit einem Register, alphabetisch nach Autoren, dazu das oder die jeweils besprochenen Werke, immer mit Angabe der entsprechenden Seite, und einem Bildnachweis, denn es enthält im Kapitel WERKE zu jedem Buch eine meist farbige Abbildung des Covers und in den anderen Kapiteln finden sich Bilder der Autoren, entweder als Fotografie oder als Bild eines entsprechenden Gemäldes.
In den Fußzeilen von jeder Seite finden sich Querverweise auf alle anderen Kapitel, immer mit Angabe der entsprechenden Seite, was dieses Buch auch zu einem sehr vielseitigen, rasch und praktisch einzusetzenden Nachschlagewerk macht.
Jeder vorgestellte Roman beginnt mit einem Infoteil mit Autor, Verlag, Sprache, Erscheinungsjahr, weitere wichtige Werke des Autors, Hintergrundinformationen zum Autor. Dann folgt eine Inhaltsangabe, jedoch selbstverständlich ohne zu viel zu verraten.
Im Kapitel Genres werden 36 unterschiedliche Genre besprochen, mit den entsprechenden Hauptvertretern unter den Schriftsteller:innen. Nach den im Hauptteil besprochenen 67 Werken, die sich unterhaltsam wie eine Sammlung von Kurzgeschichten lesen, beschäftigt sich das Kapitel Themen mit 24 Kernthemen, die oft in den Konflikten und Problematik von Romanen zu finden sind. Das Kapitel Techniken schließlich umfasst insgesamt 26 Abschnitte, beginnt mit Romananfängen und Romanenden und endet mit Überarbeitung.

Fazit
Dieses Handbuch wird man wohl zunächst mit großem Vergnügen von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Man ist gespannt, welche der Bücher, die man schon gelesen hat, in dieser Auswahl von 67 Werken besprochen werden, andererseits wird man sicher angeregt, den einen oder anderen der vorgestellten Romane zu lesen, von dem man bisher noch nie gehört hatte. Die klare, übersichtliche Strukturierung mit den praktischen Querverweisen macht dieses Buch aber auch zu einem genialen Nachschlagewerk.