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Hennie
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Chemnitz

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Insgesamt 274 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2018
Lemaître, Pierre

Opfer


sehr gut

NICHT NUR EIN OPFER
Es beginnt mit einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft und Anne Forestier befindet sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Die Brutalität, mit der die Männer gegen sie vorgehen, ist Aufsehen erregend. Sie wird zum willfährigen Spielball von gewalttätigen Kerlen, da Anne mit ihrer plötzlichen, unvorhergesehenen Anwesenheit ihren gut organisierten Plan durcheinander zu bringen drohte. Wie in Zeitlupe erlebt man mit, was mit der schon schwerverletzten, blutüberströmten Anne weiter passiert. Schwer zu ertragen auch die Passivität der Zuschauer. Es ist nicht zu fassen! Keiner hilft ihr. Es grenzt an ein Wunder, dass Anne diese Tortur überlebte. Camille Verhoeven, Chef der Pariser Mordkommission, sichtet die Überwachungsbänder und erkennt in der Frau, die ihn anzuflehen scheint, seine Lebensgefährtin.
Das ist die Handlung in der Leseprobe, die bis zur Seite 44 (gesamt 329 Textseiten) reichte. Es berührte mich sehr und ging mir unter die Haut. Bis dahin sehr gut und leicht verständlich erzählt.

»Vertrauen Sie auf Lemaitre. Er weiß, was er tut.« Sydney Morning Herald

Ich vertraute auf Pierre Lemaitre und las das Buch. Doch so einfach wie die ersten Seiten, ließ sich die Geschichte dann doch nicht lesen. Die Geschehnisse umfassen nur drei Tage, werden aber in minutiöser Abfolge erzählt. Es wurde für mich teilweise sehr anstrengend. Der Autor wechselt zudem oft die Erzählsituationen. Die auktoriale Sicht ist die vorherrschende Erzählstruktur, dazu kommt die Ich-Perspektive und die direkte Ansprache des Lesers (mit „Sie“ und „Ihr“) sowie die wörtliche Rede.
Sehr zeitig bemerkt Camille, dass irgendetwas mit dem Tatablauf so gar nicht stimmt. Einer der Täter versucht mit einer unerbittlichen Verbissenheit, Ausdauer und Hartnäckigkeit Anne zu töten.Warum? Das erfährt man erst ungefähr ab dem letzten Drittel des Buches. Nichts ist so, wie es scheint.
Jedenfalls übernimmt Camille die Ermittlungen, obwohl er das wegen der Nähe zum Opfer nicht dürfte. Er steckt recht bald so richtig in der Zwickmühle, da er nicht bekanntgegeben hat, wie nah ihm Anne steht. Die Summe seiner Lügen gegenüber den Vorgesetzten macht ihn fast handlungsunfähig. Doch der nur 1,45m kleine Camille ist sehr zäh und bleibt dran, setzt sich gegen alle Widerstände durch. Das Ende überraschte mich dann doch. Der Verlauf der Story war gut durchdacht. Ich könnte es mir sogar als Verfilmung vorstellen!

Fazit:
Pierre Lemaitre hat einen Schreibstil, der dem Leser einiges abverlangt, hauptsächlich Aufmerksamkeit. Evtl. kann einiges auch der Übersetzung aus dem Französischen geschuldet sein. „Opfer“ ist nicht leicht zu lesen.
Titel und Cover harmonieren, nehmen Bezug auf den Inhalt. Man sieht ein Einschussloch in eine Glasscheibe. Den Titel würde ich so interpretieren, dass es nicht nur ein Opfer (bezogen auf Anne), sondern viele Opfer im Verlauf der Handlung gibt.

Ich vergebe vier von fünf Sternen.

Bewertung vom 15.07.2018
Baier, Hiltrud

Helle Tage, helle Nächte


sehr gut

DIE SCHÖNHEIT NORDSCHWEDENS
Anna Albinger zweiundsiebzigjährig und an Lungenkrebs erkrankt möchte im Angesicht des endlichen Lebens reinen Tisch machen, ihr Gewissen erleichtern. Sie bittet ihre Nichte Frederike unbedingt nach Jokkmokk ins schwedische Lappland zu reisen, um einem gewissen Petter Svakko einen Brief von ihr zu überbringen. Frederike fragt sich, was kann so wichtig sein, dass sie ihn persönlich übergeben muss? Die 51jährige hat eigentlich gar keine Muße, da sie ihr Leben nach der Scheidung neu ordnen muss. Ihre Tochter Paula wiederum weilt gerade weit weg in Australien. Schließlich macht sie sich, nicht gerade enthusiastisch, mit ihrem roten Kleinbus auf die lange Reise nach Nordschweden. Was sie dort erlebt, ist mit viel Herzenswärme, wunderbaren Einblicken in das Land und das Leben der Leute, mit viel Lokalkolorit erzählt.

Abwechselnd erfährt der Leser aus der Sicht Annas und aus der Sicht Frederikes vom Stand des Gesundheitszustandes bzw. der Reise. Dabei reflektieren Tante und Nichte ihre Vergangenheit. So setzt sich nach und nach Stück für Stück die gesamte Geschichte wie ein Puzzle zusammen. Ich musste mich auf die Person Annas bewußt konzentrieren. Sie ist eine komplizierte, oft schwermütige und melancholische Person, die in ihrem gesamten Leben alles hinterfragte. Sie besitzt einen verschlossenen Charakter, der eine eigene Familie verhinderte. Es fällt mir schwer ihre Entscheidungen und Beweggründe über den riesigen Zeitraum von über 50 Jahren nachzuvollziehen. Aber sicher gibt es solche Menschen, die sich meiner Meinung nach selbst im Weg stehen. Sie spricht ständig von einer Wiedergutmachung ihrer Schuld, von ihrer Lebenslüge. Ich war eigentlich auf einer ganz falschen Fährte, aber egal, die Geschichte las sich recht unterhaltsam. Dazu trugen die herrlichen Landschaftsbeschreibungen sowohl im schwäbischen als auch im samischen Umfeld bei.
Durch Frederike, die sich bald einsam in völliger Abgeschiedenheit in einer Berghütte befindet, erfährt der Leser die einzigartige Schönheit der Natur Lapplands. Er ist dabei, wie der Frühling erwacht in den Bergen, erhält Einblicke in die Traditionen der Samen, ihre Kultur. Ich nutzte die Gelegenheit und habe mir die wunderschönen Klänge der Musik des samischen Künstlers Nils-Aslak Valkeapää angehört. Diese Musik transportiert einen großen Teil der einzigartigen Stimmung, die ich glaubte, in der Natur Nordschwedens herausgelesen zu haben. Den Titel des Buches finde ich sehr stimmig. Helle Tage, helle Nächte ist gut gewählt. Dazu paßt wiederum das freundliche, klare Cover. Als sehr angenehm empfand ich die Schriftgröße.

Fazit:
Ein optimistischer Ausklang in der Schönheit der nordschwedischen Natur. Am Ende sind alle glücklich und das ist ja die Hauptsache.

Nicht nur für Schwedenliebhaber eine angenehme Urlaubslektüre. Ich vergebe vier von fünf Sternen.

Bewertung vom 10.07.2018
Bijan, Donia

Als die Tage nach Zimt schmeckten


ausgezeichnet

PERSISCHE FAMILIENGESCHICHTE
Das Buch beginnt in Teheran im April 2014. Wie jeden Tag wartet Zod im Glyzinienhof vor seinem Café Leila auf einen Brief von seiner geliebten Tochter Noor, die seit 30 Jahren im fernen San Francisco lebt. Noor, die ausgebildete Krankenschwester, führte eigentlich ein glückliches Leben mit ihrem Mann Nelson, ein gefragter Herzchirurg, und der gemeinsamen Tochter Lily bis sie eine Entdeckung macht, die ihre Ehe in Frage stellt. Sie beschließt deshalb nach Teheran zu ihrem Vater zu reisen und will ihre Tochter mitnehmen. Lily soll ein wenig persisch lernen und die andere Hälfte ihrer Wurzeln kennenlernen. Noor, so um die 50 und Teenager Lily werden sehr unterschiedlich mit den Eindrücken im heutigen Teheran umgehen. Mich erstaunte letztendlich der Ausgang der Geschichte. Damit hatte ich nicht gerechnet...

Donia Bijan beschreibt sehr anschaulich hauptsächlich mit Hilfe ihrer zentralen Figur Behzod (Zod) Yadegar den Werdegang einer iranischen Familie und stellt damit auch das Land vor.
In den 1930er Jahren eröffneten Yanik Yadegar und seine Frau Nina eine Konditorei mit Gartencafé. Die Eltern von Zod (Jahrgang 1940) und seinen beiden Brüdern waren aus Rußland gekommen. Das Café Leila wurde sehr bald ein geselliges Zentrum mit wunderbarem Essen, mit himmlischen Genüssen und herrlichen Düften, mit Gesang und Tanz. Ein Ort der prallen Lebensfreude! Das alles fand statt in dem Persien vor der Gewaltherrschaft. Auf der Seite 27 findet sich ein bemerkenswerter Satz, der das politische Dilemma im folgenden ganz gut beschreibt:
„Sie boten ihren Kindern ein gutes Leben in einem Land, in dem sie nicht aufgewachsen waren und das sie nie verlassen würden, doch ihren Enkeln sollte diese friedliche Existenz einmal verwehrt verbleiben.“
In vier Teilen, in 30 Kapiteln und auf 379 Textseiten wurde ich als Leserin mitgenommen in eine fremde Welt. In Rückblenden erfuhr ich vieles über das Leben im Iran. Es fiel mir schwer, die Unterdrückung, die Kontrolle, die Düsternis, die Gewalt und vor allem die Gründe dafür zu verstehen. Warum tut man das seinem Volk an? Zod ist für mich ein Held. Wie er es verstanden hat, seinen Kindern die wahren, grauenhaften Umstände des Todes seiner über alles geliebten Frau, ihrer fürsorglichen Mutter, zu verschweigen. Und wie er seine Tochter und seinen Sohn dazu bringt in Amerika zu studieren und dort zu bleiben. Das hat Größe! Es zeugt von tiefer Menschlichkeit, Zärtlichkeit und grenzenloser Liebe. Er bleibt ja allein zurück.

Fazit:
„Als die Tage nach Zimt schmeckten“ ist ein feinfühliges, emotionales, warmherziges Werk mit erschütternden Hintergründen. Es beinhaltet alles das, was mir in „Häuser aus Sand“ von Hala Alyan (Buch mit palästinensischer Flüchtlingsthematik) fehlte.
Über vier Generationen ist die Familie Yadegar fest mit dem Ort der kulinarischen Gaumenfreuden verbunden, mit ihrem Café Leila. Es ist wie eine paradiesische Oase inmitten einer Gesellschaft, die sich unter strenger Kontrolle befindet und vor allem äußerst frauenfeindlich ist. Mir gefiel Donia Bijans Erzählung sehr gut und ich kann bestätigen, dass sie ein wirklich offenes Herz als Autorin hat. (Teil ihrer eigenen Aussage im hinteren Klappentext)

Ich empfehle diese berührende Geschichte, die eindrucksvoll das Familienschicksal der Yadegars widerspiegelt und Einblicke gibt in das uns fremde Land Iran.
Meine Höchstbewertung: Fünf Sterne!

Bewertung vom 02.07.2018
Shepherd, Catherine

Der Flüstermann / Laura Kern Bd.3


ausgezeichnet

Welche zweite Chance?

Das ist nun der dritte Band mit der Berliner Spezialermittlerin Laura Kern, den man durchaus für sich allein lesen kann. Doch besser ist es der Reihe nach: Krähenmutter und Engelsschlaf.
Ich war sofort mit Laura und Max wieder vertraut. Laura erinnert sich noch immer an die schlimmen Erlebnisse in ihrer Kindheit und auch Max Probleme scheinen noch die gleichen zu sein. Schon die ersten Zeilen des Prologes nahmen mich gefangen. Ein grausamer Mörder tötet ohne Erbarmen mit einer perfiden Methode eine junge Frau. Von Anfang an werden geschickt die Handlungsfäden gezogen.
Der Flüstermann ist ein heimtückischer Psychopath, der sich durch kreative Tötungsarten auszeichnet und per Video im Internet die Welt daran teilhaben läßt. Im Zusammenhang mit den skrupellosen Morden finde ich das Wort kreativ eigentlich unpassend, aber er will damit etwas dokumentieren, auf etwas hinweisen. Besonders perfide ist sein Vorgehen, indem er seine Opfer erst testet, bevor er sie tötet.

Siehe S. 12:
„Jeder verdient eine zweite Chance, aber die meisten ändern sich nicht...“ so flüstert er seinen wehrlosen Todeskandidaten ins Ohr.

Die Autorin läßt nichts unversucht den Leser ständig auf falsche Fährten zu setzen. Sie erfindet intelligente Lösungen, z. B. statt Klarnamen finden Spitznamen Verwendung. Dazu gibt es viele Verdächtige. Ein vorbestrafter Sexualtäter, sadistisch und sexuell abweichend veranlagte Menschen und der Exfreund eines Opfers werden ins Spiel gebracht. Das stiftet zusätzliche Verwirrung. Catherine Shepherd legt Spuren wie Puzzleteile, die richtig zusammengesetzt werden müssen. Des Weiteren erfolgt immer wieder ein abrupter Szenenwechsel mit Rückblenden in die Vergangenheit.
Laura erkennt lange Zeit keinerlei Zusammenhänge zwischen den einzelnen Morden. Wo ist das verbindende Element? Was wird übersehen? Zusammen mit Taylor ermittelt sie nach Max verletzungsbedingtem Ausfall in verschiedene Richtungen bis sie hinter das Rätsel kommt, dass die Lösung bedeutet. Bleibt nur die Frage, ob sie den Täter noch vor Vollendung seiner nächsten Bluttat aufhalten können...

Fazit:
Auch dieser Thriller hat mir wieder sehr gut gefallen. Ich fühlte mich hervorragend unterhalten. Catherine Shepherd ist eine Meisterin der Spannung und der Täuschung. Wie gekonnt sie falsche Fährten legt, beweist sie ein um das andere Mal. Der Flüstermann ließ mir keine Ruhe.
Meine Empfehlung und Warnung: Am besten erst mit dem Lesen beginnen, wenn man viel Freizeit hat. Unterbrechungen können reizbar machen und schlechte Laune verursachen!
Ich hoffe sehr, dass es einen weiteren Band geben wird mit Laura, Max (der hier ja nicht so viel in Erscheinung trat) und Taylor!

Meine Empfehlung für alle Thrillerfans. Von mir gibt es die Höchstbewertung.

Bewertung vom 01.07.2018
Schweikert, Ulrike

Hoffnung und Schicksal / Die Charité Bd.1


ausgezeichnet

EINBLICKE IN DIE CHARITÉ DER 1830ER JAHRE
Schon von der ersten Seite an ist man mitten im Geschehen. Wir befinden uns im Jahre 1831 an einem sehr heißen Augusttag an der Spree in Berlin.
Überall wird gemunkelt, dass die Cholera im Ausland umgeht, aber die Bewohner fühlen sich sicher. Angeblich wurden wirksame Vorkehrungen getroffen an den Grenzen zum Osten. Doch den Schiffer Hans Mater ereilte die asiatische Cholera an seinem freien Tag. Er geht an Land in eine naheliegende Kneipe. Binnen kurzem fühlt er sich schlecht und dann geht es rasend schnell. Trotz ärztlicher Hilfe verstirbt er qualvoll innerhalb weniger Stunden. Die Leiche schafft man in die Charité zur Obduktion. Bald herrscht Ausnahmezustand in Berlin. Die Seuche wütet und fordert hauptsächlich ihre Opfer in den ärmsten Schichten der Bevölkerung.

Ulrike Schweikert zeichnet ein einprägsames, lebendiges Bild der gesellschaftlichen Umstände in Berlin der 1830er Jahre und im speziellen eine realistische Beschreibung der Zustände in der Charité. Die Personen, die zum Teil authentisch sind, läßt sie ganz natürlich miteinander agieren. Ich entwickelte beim Lesen große Sympathien für die Stadthebamme und spätere Totenfrau/Sektionsassistentin Martha Vogelsang und deren Sohn August, für die Krankenwärterin und spätere Diakonisse Elisabeth Bergmann, für Professor Johann Friedrich Dieffenbach (1792 – 1847) und für die Gräfin Ludovica von Bredow. Ebenso große Antipathien empfand ich für den hypochondrischen Grafen von Bredow und für Professor Rust, der trotz Altersschwäche und damit verbundenem Unvermögen zu operieren, nicht von seinem leitenden Posten weichen wollte und damit viel Unheil anrichtete.
Viel Beachtung schenkt Ulrike Schweikert in ihrer Story den drei weiblichen Protagonisten aus unterschiedlichen Gesellschaftschichten. Dabei gelingt es ihr hervorragend den Zeitgeist einzufangen und die Stellung der Frau, ihre stark eingeschränkten Rechte zur damaligen Zeit herauszuarbeiten. Schön fand ich auch die beiden Liebesgeschichten, die nicht aufgesetzt, sondern natürlich wirken.
Professor Dieffenbach beklagt die elenden Verhältnisse in Berlin, wie die Menschen leben müssen. Er gehört zu den fortschrittlichen Medizinern und setzt sich mit der fiktiven Gräfin für die Gründung einer Krankenpflegeschule ein. Das qualitative Niveau in der Krankenversorgung ist ihm wichtig. Die hygienischen Zustände in der Charité sind eine Katastrophe. Die Beschreibung der Situationen in den Krankensälen, bei den Operationen und bei den Obduktionen gelingt der Autorin sehr anschaulich. Für sensible Menschen ist das nichts. Die Gerüche, ja der Gestank, die eitrigen, brandigen, schwärigen Wunden, die Überbelegung, die lieblose Versorgung und Pflege der Patienten durch die ruppigen, ungebildeten Krankenwärter - ich konnte mir das alles lebhaft vorstellen. Operationen, Amputationen erfolgen ohne Betäubung. Ärzte, die soeben noch Tote sezierten, kehren zum lebenden Kranken zurück, helfen den Frauen beim Gebären. Die Sterblichkeitsrate ist immens hoch. Dass überhaupt jemand geheilt die Charité wieder verließ, grenzte an Wunder. Teilweise fühlte ich mich ins Mittelalter versetzt. Um die Miasmen zu vertreiben, geht täglich eine Räucherfrau durch die Krankenräume des Hauses. Das war alles an Desinfektion!
Auch in der Psychiatrie ein beklagenswertes Bild, ein regelrechtes Horrorszenario!

Auf 491 Seiten, in 31 Kapiteln und in drei Teilen wird ein wunderbar stimmiges Stück Zeitgeschichte über das berühmte deutsche Krankenhaus in einer anschaulichen Art beschrieben. Fiktive und realistische Persönlichkeiten bilden eine Einheit. Das Buch ist voller interessanter Informationen. Durch intensives Quellenstudium, Recherchearbeit und durch die perfekte Verflechtung von Fantasie und Wirklichkeit gelang es der Autorin dem Leser eine Zeit nahezubringen, in der die moderne Medizin noch in den Kinderschuhen steckte.

Von mir gibt es die Höchstbewertung und eine unbedingte Lese-/Kaufempfehlung!

Bewertung vom 26.06.2018
Barnett, David M.

Miss Gladys und ihr Astronaut


sehr gut

Hoffnung durch den blauen Engel

Was mir an „Miss Gladys und ihr Astronaut“ als erstes auffiel war das handwerklich gut gestaltete Cover, sowohl außen als auch innen. Die Farben harmonieren hervorragend. Leider hat das geschmackvolle Äußere sehr wenig mit dem Inhalt zu tun.

Ich habe schnell in die Geschichte reingefunden. Der Schreibstil ist angenehm.
Es beginnt am 11. Februar 1978 mit dem kleinen, 8jährigen Thomas Major, dem zukünftigen Astronauten, in einem Kino. Es ist sein Geburtstag. Er schaut sich ganz allein „Star Wars“ an. Sein Vater hat Wichtigeres zu tun und die Folgen werden den sensiblen Jungen sein ganzes Leben negativ beeinflussen.
In der Gegenwart begegnen wir Gladys Ormerod, einer bald 71 jährigen Dame (so betont sie gern ständig) mit ihren beiden Enkeln James und Ellie. Sie soll sich eigentlich kümmern, weil die Mutter gestorben ist und der Vater wegen Diebstahls im Gefängnis sitzt. Da Gladys aber unter beginnender Demenz leidet, bringt sie vieles durcheinander und richtet ungewollt ein großes Unheil an. Die kleine Familie sitzt ordentlich in der Patsche und braucht dringend Hilfe. Die kommt ausgerechnet von dem grummligen, miesepetrigen Major Tom aus dem All. Der befindet sich als erster Mensch auf dem langen Weg zum Mars und wollte nochmal mit seiner Exfrau Kontakt aufnehmen und hat stattdessen Miss Gladys an der Strippe...

Es gibt zwei Erzählperspektiven, d. h. es erfolgt ein ständiger Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Auf 410 Seiten mit aussagekräftigen Überschriften, in 3 Teilen und 67 Kapiteln wird eine herzerwärmende, berührende Geschichte um Freundschaft, Nächstenliebe und Zusammenhalt erzählt, die eindrucksvoll zeigt, dass selbst in aussichtsloser Lage nicht aufgegeben werden sollte. Sogar astronomische Entfernungen scheinen keine Rolle zu spielen.
Die Story endet mit einem fast vollständigen Happy-End wiederum an einem 11. Februar. Das ist der 11. Februar 2017. Damit schließt sich der Kreis. Thomas fliegt mit der zu späten Erkenntnis in die Weiten des Alls, dass er durchaus ebenfalls sein Glück hätte auf der Erde finden können.
Von Gladys hatte ich gehofft mehr zu lesen. Sie spielte wider Erwarten laut Titel nicht die Hauptrolle. Diese hatten eindeutig die 15jährige, arbeitsame Ellie und ihr unverwüstlicher, liebenswerter Klassenkamerad Delil inne. So einen Freund kann man sich nur wünschen.

Fazit:
Es ist eine abwechslungsreiche, amüsante, aber auch manchmal traurige Geschichte. Irgendwie Tragikomödie! Dass ein „Blauer Engel“ eine große Rolle bei der Rettung der Familie aus ihren Sorgen spielen wird, sei hier schon mal verraten. Schwarzer britischer Humor vom Feinsten!
Ich empfehle das Buch mit vier von fünf Sternen!

Bewertung vom 23.06.2018
Nast, Michael

#EGOLAND


gut

Social Medias und ihre fatalen Folgen

Diese als wahr genannte Geschichte um den literarischen Rockstar Andreas Landwehr hat mich nur schwer erreicht. Ein ums andere Mal wollte ich abbrechen. Eigentlich tat es mir leid um meine Lesezeit, doch ich kämpfte mich durch. Die Probleme sind künstlich erzeugte, fies eingefädelte Intrigen, deren Saat am Ende noch aufging. Landwehr erntete die Früchte seiner hinterhältigen Lügengebilde nicht, da er sich das Leben nahm. Er wird ein Opfer seiner Egozentrik. Michael Nast übernimmt es, das Buch zu vollenden, indem er mit allen Beteiligten spricht.
Andreas Landwehr hatte bereits einen Bestseller geschrieben, war ziemlich berühmt geworden. Doch nach einiger Zeit ebbte der Rummel ab und er musste sich nach neuen Ideen umsehen. Er steckte mitten in einer Schreibblockade bei seinem neuen Projekt. Er schrieb an einem Buch über den Zustand der Gesellschaft, ein Großstadtroman, eine Mischung aus psychologischem und Liebesroman. Wie durch Zufall lernt er Christoph kennen, der ihm durch seine direkte Offenheit eine Story frei Haus liefert. Um der ganzen Angelegenheit noch mehr Emotionalität zu verleihen, analysiert, manipuliert, intrigiert der Schriftsteller den jungen Mann und sein Umfeld. Er fädelt weiterhin die Zufälle ein. Was für ein fieser Typ, dieser Andreas Landwehr! Er plante regelrecht strategisch, um die Konflikte zu schüren und arbeitete akribisch bis ins Detail.
Die Idee für diesen Roman fand ich nicht schlecht, aber die Umsetzung langweilte mich auch durch die Charakterisierung der Protagonisten. Sie befanden sich fast ausnahmslos in einer „Tristesse der Mittelmäßigkeit“ (eine treffende Überschrift im Buch).
Ich fragte mich, sind die geschilderten Verhältnisse unter der jüngeren Generation in Berlin wirklich so? Furchtbar! Für mich war dieses Buch (ich las die E-book-Version) überhaupt nichts. Fast alle der Charaktere fand ich unsympathisch, in irgendeiner Weise dem Leben überdrüssig. Vieles ist nur Schein, nicht einmal schöner Schein!
Was soll man von solchen Aussagen nur halten?
„OHNE INSTAGRAM - PROFIL EXISTIERTE MAN NICHT.“
Es werden ständig bei xbeliebigen Zusammenkünften Oberflächlichkeiten ausgetauscht. Ich vermißte die Frage nach dem Sinn des Lebens. Ich vermißte die Struktur in dem Leben der jungen Menschen. Ich vermißte Selbstbewußtsein u. v. m. Wo sind die Ziele? Was ist mit Hobbys? Was macht Freude?...

Fazit:
Der Gesellschaft wird ein Spiegel vorgehalten, in dem das Wort EGO eine Riesenrolle spielt. Ist es z. B. wirklich notwendig in den Social Medias überall präsent zu sein?
Eins hat Egoland bei mir bewirkt, ich habe nachgedacht und mir viele Fragen gestellt. Am Ende bleibt für mich das Resümee – mit niemandem der jungen Leute möchte ich tauschen!
So ein tristes Leben hatte ich zu keiner Zeit und ich bin immerhin im siebten Lebensjahrzehnt.

Ich vergebe drei von fünf Sternen!

Bewertung vom 12.06.2018
Korten, Astrid

Gleis der Vergeltung (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

ÄUSSERST WICHTIG IM ANLIEGEN UND IN DER AUSSAGE
Was für ein entsetzliches Szenario schon zum Beginn des Buches. Das war ein furioser Start in die Geschichte! Der Bräutigam ist mit seinem Motorroller auf dem Weg zu seiner Braut. In Gedanken und voller Vorfreude ist er schon bei ihr. Aber er weiß auch, dass er mitnichten der Traumschwiegersohn ist. Die Familie seiner Braut mag ihn nicht. Sie sind voller Dünkel. Keine guten Voraussetzungen. Lynn wird am Tag der Hochzeit vergeblich warten. Er kommt nicht. Benedikt verunglückt tödlich.
Sieben Jahre später bekommt die sehr zurückgezogen lebende und noch immer in Trauer gefangene Lynn-Elisabeth von Raaben die Nachricht, dass es kein Unfall, sondern Mord war. Sie wird durch Hinterlist und Tücke zu einem niederträchtigen Rachefeldzug verleitet, den sie ohne moralische Bedenken zunächst mitträgt und lange Zeit nicht hinterfragt...

Diese Geschichte wurde von Astrid Korten nach einer wahren Begebenheit geschrieben und wie sie das tut, sucht seinesgleichen. Sie hat einen aufwühlenden, fesselnden Schreibstil, der in seiner scheinbaren unterkühlten Distanziertheit eine Wirkung erzielte, die mich emotional tief berührte. Durch den ständigen Wechsel der handelnden Personen in kurzen Kapiteln und dem kursiv geschriebenen Text, der mit „Sie“ betitelt wird, erzeugt die Autorin eine besondere, oft beklemmend wirkende Dramaturgie. „Sie“ nehmen erst zum Ende hin Gestalt an. Die beteiligten Personen und ihre Rolle im Geschehen ließen mich bis fast zum Schluss des Buches rätseln, manchmal schier verzweifeln. Ich ahnte und vermutete und lag dann doch wieder falsch. Diese Rachegelüste, diese Widersprüche, diese Lügen, die Abgebrühtheit, die Eiseskälte, die Gefühllosigkeit, der Haß, die Wut und so vieles mehr! Alles wird in den Handlungssträngen, die scheinbar zunächst nichts miteinander zu tun haben, sehr geschickt eingefädelt und miteinander verwoben. Also, nichts ist so, wie es scheint! Zusätzliche Verwirrung stifteten bei mir die Zeitsprünge. Die Handlung wird von 1965 bis 2017 geführt. Das ist eine große Zeitspanne von über fünf Jahrzehnten. Es wird eine grenzenlose Spannung aufgebaut, die am Ende in einer unfaßbaren, unbegreiflichen Wahrheit eskaliert. Ich hatte Gänsehaut vor Entsetzen.

Noch nie hat mich ein Psychothriller nur ansatzweise so ergriffen wie dieser. Mich erschütterte das Gelesene zutiefst und ich bedanke mich bei Astrid Korten, dass sie dem Thema Kindesmißbrauch mit einer neuen Facette Gehör verschafft. Mit diesen hier im Buch hervorragend herausgearbeiteten Aspekten und Fakten gibt sie dem Verbrechen eine neue Dimension, die den meisten Menschen (ich schließe mich mit ein) so noch nie bewußt geworden ist.
Ich empfehle „Gleis der Vergeltung“ mit der brisanten Thematik und wünsche dem Buch, dass es viele Leser erreicht. Von mir gibt es die Höchstbewertung. Fünf von fünf Sternen!

Bewertung vom 11.06.2018
Alyan, Hala

Häuser aus Sand


gut

DIE LEBENSWEGE DER FAMILIE JAKOUB
„Häuser aus Sand“ von der palästinensich-amerikanischen Autorin Hala Alyan beschreibt die Generationen der Familie Jakoub. Ein um das andere Mal müssen sie ihre Häuser verlassen und fliehen. Jaffa, Nablus, Kuwait-Stadt, Amman, Beirut sind ihre Lebensstationen bis die jüngste Generation auch in Europa und Amerika ansässig wird. Der zeitliche Rahmen umfasst eine Spanne von 1963 bis 2014.
Meine Meinung:
Meine Vorstellungen und Erwartungen von diesem Buch waren andere. Ich wollte gern verstehen, warum die Menschen vertrieben werden, warum sie flüchten müssen. „Häuser aus Sand“ war weitgehend ein Bericht über den Werdegang der Familie Jakoub, von der nur Salma jemals in Palästina lebte.
Die ersten Seiten mit Salmas Lesen aus dem Kaffeesatz fand ich ja noch ganz amüsant, aber bald darauf hatte ich die Lust am Buch verloren. Der ständige Personen- und Ortswechsel über 50 Jahre in verschiedenen Ländern und auch Kontinenten konnte mich nicht fesseln. Vor allem die weiblichen Personen erschienen mir austauschbar. Die Jakoubs leben in einer abgehobenen Welt. Sie haben keinen Zugang zum normalen Leben der Palästinenser, die in ärmlichen Verhältnissen oder in Lagern leben müssen.
S. 21 „Parallelexistenzen, denkt Salma manchmal. Die eine isst zum Abendessen Lamm, die andere Gurken, und wer die eine, wer die andere ist, entscheidet das Schicksal aufs Geratewohl.“
Einige der Hauptpersonen erscheinen mir wie aus der Zeit gefallen und Alia, die Vertreterin der zweiten Generation der Palästinenser auf der Flucht, bezeichnet u. a. Länder wie Frankreich oder Amerika als „Hurenländer“. Akzeptanz, Toleranz für andere Lebensweisen? Wie stehts damit? Die Jakoubs leiden nie materielle Not. Sie sind reich. Viele Frauen leben in ihren traditionellen Rollen, bleiben dort verhaftet, die Welt dreht sich um die Kinder, ums Aussehen, die Mode, um die Wohnungsausstattung. Für die Hausarbeit allerdings gibt es Bedienstete, die z. B. aus Indien kommen und ihre Familie nur aller zwei Jahre sehen. Mir erschien das wie Stillstand, gepflegte Langeweile, Tristesse. Die Sichtweisen sind oberflächlich und rückwärts gewandt, nicht zielführend. Es ist nur die logische Konsequenz, dass die Kinder ausbrechen und ihre Zukunft im Westen sehen...
Die politischen Konflikte im Nahen Osten werden kaum thematisiert oder so erwähnt, dass ich sie googeln musste (Sechstagekrieg, Invasion in Kuwait...). Dann störten mich die vielen fremden Wörter im gesamten Buch. Sie werden zwar im Anhang erklärt, aber mich brachten sie immer wieder zusätzlich aus dem Konzept. Weiterhin erschloß sich mir der Sinn nicht, warum der Originaltitel „Salt Houses“ nicht beibehalten wurde, zumal im Text, wenn auch fast zum Schluß Bezug darauf genommen wird.
Ich kann diesem Buch nur drei von fünf Sternen geben.