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Barbara
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Remscheid

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Insgesamt 205 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2025
Wen, Lai

Himmlischer Frieden


sehr gut

Lai Wen wächst zusammen mit ihrem Bruder bei den Eltern und ihrer Großmutter in Peking auf. Sie ist ein schüchternes und scheues Mädchen, leidet unter der starken Zurückhaltung ihres Vaters und der Lieblosigkeit ihrer Mutter. Einzig die Großmutter ist ihr nahe und vertraut, ist ihre Bezugsperson in einer Welt, in der sie sich nicht wirklich zugehörig fühlt. An der Uni nimmt sie teil an der Freiheitsbewegung der Studenten, die in dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989 gipfelt.

Lai Wen schreibt in ihrem Brief am Ende des Buches, dass diese Geschichte fiktiv ist und auf ihr Leben in China basiert. Doch beschreibt sie die nach ihr benannte Protagonistin so intensiv und eindrücklich, dass es auf mich stark wie eine Wiedergabe der tatsächlichen Geschehnisse wirkt.

Stark berührt hat mich zum einen die Lieblosigkeit der Eltern. Ist die Zurückhaltung des Vaters, die fast an seine Nicht-Existenz grenzt, noch mit der eigenen Erfahrung der Gewalt in der Kulturrevolution zu erklären, erscheint mir die Mutter oft boshaft und ungerecht ihrer Tochter gegenüber. Was für eine traurige Kindheit unter einem Regime, das ebenfalls nur Angepasstheit und Gehorsam fordert. Wie erfrischend sich dagegen die unkonventionelle Großmutter benimmt, obwohl sie ihre eigenen Tochter, zu der sie ein denkbar schlechtes Verhältnis hat, wohl auch nicht immer besonders gut behandelt hat. Man fühlt mit Lai, als sie endlich einen Schritt in Richtung Freiheit gehen möchte, dass sie versucht, mutig zu sein. Dass der Tod der geliebten Großmutter sie so nachhaltig erschüttert ist nachvollziehbar.
Die dramatischen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking lesen sich zutiefst grausam und lassen mich hoffen, dass in der heutigen Zeit selbst in Diktaturen wie China solche Vorgehensweisen nicht mehr möglich sein würden.

Einerseits ist Lai ein normaler Teenager: die Eltern und der kleine Bruder nerven, sie hat das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, verliebt sich und fängt an sich zu ritzen, als der innere Druck zu groß wird. Andererseits ist da sehr viel Fremdes in diesem Roman, der vom Leben in der Volksrepublik China erzählt, das so ganz anders ist als man es in der westlichen Welt kennt. Die Beschreibungen über das Familienleben, die Nachbarn und die Gemeinschaft auf dem gleichen Wohnflur lesen sich witzig und ungewöhnlich. Die Erziehung der jungen Leute zeigt den Schwerpunkt auf Anpassung und Untertauchen in einem Heer von Menschen mit dem Ziel, nicht aufzufallen und nicht aus der Reihe zu tanzen. Die völlig übertriebene Härte und die körperliche Gewalt, mit der Lai nach dem Jugendstreich konfrontiert wird, löst eine tief verwurzelte Angst bei ihr aus und erfasst mich mit großem Grauen. Auch hier für mich unfassbar, dass man solche Taten einfach hinnimmt oder hinnehmen muss.
Ein Stück Zeitgeschichte, eindrücklich und fesselnd erzählt von einer Frau die damit versucht, die Gewaltexzesse vom Studentenaufstand am Platz des Himmlischen Friedens aufzuarbeiten.

Bewertung vom 12.05.2025
Hughes, Siân

Perlen


sehr gut

Mariannes gesamtes Leben ist geprägt davon, dass ihre Mutter plötzlich verschwand als sie 8 Jahre alt war. Die ungeklärte Situation belastet die ganze Familie, der Bruder Joe ist noch ein Baby, der Vater plötzlich überfordert mit der Erziehung zweier Kinder. Es sind die Erinnerungen an die Mutter, die Marianne ständig begleiten durch ihr eigenes Leben als Kind, Jugendliche und schließlich selber als Mutter einer Tochter.
Dieses Buch handelt von der Liebe zwischen Müttern und Kindern und der Kraft der Erinnerungen. In oft alltäglichen Situationen erinnert Marianne sich an die Lieder, die sie gemeinsam gesungen haben, an die Spiele, die sie gespielt haben und die Bücher, die sie gelesen haben. Die Frage nach dem Grund für das Verschwinden der Mutter bleibt immer belastend. Die Trauer lauert oft im Verborgenen und drängt immer wieder an die Oberfläche, ausgelöst durch Gerüche, Worte oder Bilder.
Siân Hughes beschreibt eindrücklich und intensiv, wie die einzelnen Familienmitglieder es schaffen, dieses Trauma zu bewältigen. Marianne schildert als Protagonistin und Ich-Erzählerin ihre Gefühlswelt, vor allem die Sicht des Vaters hätte mich hier zusätzlich noch sehr interessiert.
Unterlegt ist dieser Roman mit Gedichten und Liedzeilen, die jeweils am Anfang jedes Kapitels stehen. Es gibt dafür keine Quellenangaben und sie sind nicht aus dem Englischen übersetzt worden. Ich fürchte, dass ich nicht immer den Zusammenhang zwischen diesen Zeilen und dem folgenden Kapitel verstanden habe, sie haben mir aber trotzdem sehr gut gefallen und sind leicht zu übersetzen.
Ein leises Buch, dass mich sehr berührt hat. Dass es eine Wendung fast am Ende der Geschichte gibt, die alle Geschehnisse in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, ist eine Überraschung und eine große Bereicherung.

Bewertung vom 01.05.2025
Deitch, Hannah

Killer Potential


sehr gut

Die Lehrerin Evie Gordon gerät eines Tages unter Mordverdacht, als sie die Eltern ihrer Nachhilfeschülerin tot in deren Haus auffindet. Zusammen mit einer jungen Frau, die sie am Tatort gefesselt und verletzt auffindet, startet eine wilde Flucht und die Frage danach, was eigentlich in Wahrheit passiert ist.
Über einen großen Teil beschreibt dieses Buch einen klassisches Road-Trip. Die Flucht der beiden Frauen vor der Polizei beinhaltet alles, was man sich vorstellen kann: Lügen, Diebstahl, Angriffe und Zufälle.
Sehr interessant ist das Verhalten der beiden Frauen. Die hochbegabte Evie ist im Leben mehr oder weniger an ihrer Intelligenz gescheitert. Sie hat es nicht geschafft, sich beruflich oder privat ein wirklich glückliches Leben aufzubauen. Als sie mit der fremden jungen Frau Jae flieht, gerät sie in einen Strudel aus Kriminalität und Gewalt, der sie zutiefst verunsichert. Hin und her gerissen zwischen ihrem alten Leben, der Liebe zu ihren Eltern und der Gefahr und dem Reiz des Neuen muss sie sich entscheiden, welchen Weg sie zukünftig weiter gehen möchte. Jae hingegen ist knallhart. Ihre Geschichte entwickelt sich im Laufe des Buches ganz anders, als man am Anfang vermutet. Es ist spannend zu verfolgen, welche Entscheidungen die beiden treffen und wie ihr Leben daraufhin verläuft.
Das etwas wilde Cover passt gut zur Geschichte, ebenso wie der Titel, der zum Glück nicht durch einen weniger passenden deutschen Titel ersetzt werden musste.
Dieser Thriller ist spannend und unterhaltsam, der Schreibstil geprägt von einer lockeren und manchmal ein bisschen flapsigen Sprache, jung und dynamisch.
Der Fokus liegt in diesem Buch stark auf der Sprache. Da sich Evie als Nachhilfelehrerin auch viel mit Ausdruck und Grammatik auseinander setzt, arbeitet Hannah Deitch nicht selten mit Wortspielen. Auch die Berichterstattung der Medien ist immer wieder Thema. Die Empörung und die Hysterie, mit der vor allem über Evie gesprochen und geschrieben wurde, ist für mich sehr amerikanisch.
Ich mag das Ende dieses Buches, das für mich den beiden Protagonistinnen gerecht wird.
Ein interessantes Thriller-Debüt im Bonnie-and-Clyde-Stil, rasant und ein bisschen wild.

Bewertung vom 18.04.2025
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Als die 4jährige Ruthie plötzlich verschwindet ist ihre Familie am Boden zerstört. Geplagt von Schuldgefühlen, Wut und Ängsten verändert sich das Leben der Eltern und Geschwister für immer. Das kleine Mädchen wächst als Norma in einer gut situierten Familie auf, in der die überfürsorgliche Mutter sie fast erdrückt. Doch Norma hat Erinnerungen an ihre frühen Jahre, die jedoch als Albträume abgetan werden. Auch ihr Leben wird geprägt durch die große Lüge, die sie schwierige Entscheidungen fällen lässt.
Einfühlsam und sehr intensiv erzählt hier Amanda Peters in ihrem Debüt-Roman von Liebe und Familienbanden, von Hoffnung und Trauer, von Wut und Vergebung. Dabei erzählt sie die Geschichte abwechselnd aus der Sicht von Norma und ihrem Bruder Joe, die beide sehr ergreifend sind.
Die Trauer der Mi´kmaq-Familie über den Verlust der Tochter ist groß. Hilfe von der Polizei ist nicht zu erwarten, da 1962 die Indianer von den Weißen nicht wirklich akzeptiert oder respektiert wurden. Die abwertende Haltung gegenüber den Indigenen ist immer wieder Thema und zeigt sich häufig in kleinen Episoden im Verlauf der Geschichte.
Während der Vater seine Gefühle zu verbergen sucht, überwiegt bei der Mutter neben der Verzweiflung die Hoffnung. Der Bruder Joe erholt sich nie wieder ganz von dem Gefühl, dass er Schuld hat an Ruthies Verschwinden, da er zuletzt mit ihr zusammen war. Sein Schicksal berührt mich besonders, da sein ganzes Leben durch diesen Verlust geprägt wurde und ihn überwiegend einsam und unglücklich gemacht hat.
Normas Leben wird bestimmt von der klammernden Mutter, die immer wieder emotionalen Druck ausübt. Ihre Erinnerungen dürfen nicht thematisiert werden, trotz der innigen Liebe wächst sie einsam und angepasst auf, hat keine glückliche Kindheit. Sehr traurig, dass sie als erwachsenen Frau eine Entscheidung trifft, die sie mit den Erlebnissen ihrer falschen Mutter begründet.
Obwohl man von Anfang an weiß, dass Ruthie als Norma aufwächst und wie die Geschichte ausgeht, bleibt doch ein guter Spannungsbogen bis zuletzt erhalten. Die Figuren sind authentisch, das Thema Ethnie wird ganz unspektakulär und fast selbstverständlich in den 1960er Jahren behandelt.
Ein wunderbarer Roman über große Gefühle und mit intensiven Naturbeschreibungen, themenreich und in seinem Schreibstil angenehm zu lesen.

Bewertung vom 17.04.2025
Radau, Stefan

Frühlingssonate


gut

Johanna wächst in einem kleinen Alpendorf auf, in dem vor allem Traditionen herrschen. Ihre von der früh verstorbenen Mutter geerbte Musikalität wird etwas schräg beäugt, der Vater möchte sie gerne als seine Nachfolgerin im Uhrmachergeschäft binden. Doch es zieht Johanna in die Stadt, an die Musikhochschule und auf die Bühne, um ihre Musik zu leben und zu teilen.
Es beginnt eine Spirale aus Schuldgefühlen und Sehnsüchten, die Stadt gegen das Bergdorf, die Liebe zu ihrem Vater gegen die Musik. Es dauert lange bis Johanna versteht, wie sie beides vereinen kann und sie sich nicht zu entscheiden braucht.

Mit sehr viel Gefühl erzählt Stefan Radau von der Liebe zur Musik, vom Geigenspiel und Komponieren. Johanna gelingt es schließlich, Gefühle in Musik umzusetzen und die Dorfbewohner zu überzeugen. Doch ihre Zerrissenheit zwischen Pflicht und Freiheit macht es ihr schwer, den Richtigen Weg zu finden und wirklich glücklich zu sein.

Leider ist es zum einen die Spannungskurve, die mich in dieser Geschichte nicht vollständig überzeugen kann. Der ständige Wechsel zwischen Stadt und Land mit Johannas immer wiederkehrenden Gefühlen ermüdet mich zunehmend. Dazu kommen häufige Wiederholungen in den Ausdrücken, nach jedem Auftritt herrscht absolute Stille, dann bricht ein stürmischer Applaus aus, es gibt Tränen und Lachen im Publikum. Auf einer Doppelseite steht drei mal, dass der Weg vor Johanna nicht einfach sein würde (S. 214 + 215). So schön manche Formulierungen sind und so intensiv Radau es versteht, die Umsetzung von Gefühlen in die Musik zu schildern: es wird im letzten Drittel zu viel, zu dramatisch, zu wiederholend. Zum anderen gibt es für mich ein paar Ungereimtheiten in der Geschichte: was ist eigentlich mit Johannas Mutter passiert und wovon lebt Johanna in Berlin? Statt Wiederholungen hätten mich hier mehr persönliche Details und Hintergründe interessiert.

Sehr nett finde ich die handgeschriebene Widmung im Buch und den schönen Schlüsselanhänger als zusätzliches Geschenk. Leider fehlen mir Angaben zum Autor, ich lese gerne etwas über den Hintergrund ( z. Bsp. ob er selber Musiker ist? ).

Ein schönes Buch über die Liebe zur Musik und der Suche zu sich selbst, allerdings mit ein paar Schwächen.

Bewertung vom 13.04.2025
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


sehr gut

Es sind drei verschiedene Generationen von Müttern, die ein schwieriges Verhältnis zu ihren Töchtern haben. Da ist Lyudmila, die im 2. Weltkrieg von Polen in den Libanon flieht und die als Chemikerin versucht, sich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen. Ihre Tochter Daria lebt und arbeitet als Kinderärztin in Deutschland. Da sie ihre Kindheit als lieblos erlebt hat und sich selber als Störfaktor im Leben der Mutter wahrgenommen hat, möchte sie bei ihrer Tochter Lucy alles besser machen. Doch es kommt auch hier zum Bruch mit der Tochter, die den Kontakt zu ihren Eltern abbricht.

Alle drei Frauen kommen zu Wort, ihre Geschichte wird abwechselnd erzählt und lässt die Leser an drei verschiedene Generationen und ihren Lebensumständen teilhaben. Es gibt nicht nur Differenzen zwischen den Frauen, sondern auch Gemeinsamkeiten: alle haben einen für die Zeit eher untypischen Frauenberuf ergriffen, indem sie einen gewissen Ehrgeiz verfolgen. Ihre Männer sind eher Nebensache, auch wenn Lucy nicht verheiratet ist. Doch vor allem sind es die Probleme, die Mütter und Töchter umtreiben. Mangelnde Kommunikation bewirkt, dass es zum Bruch kommt, Missverständnisse verhärten die Fronten. Vieles aus dem Leben der Großmutter bleibt ungesagt, was Verständnislosigkeit auslöst. Und die erdrückende Liebe der Mutter schlägt die Tochter in die Flucht, die sich wiederum auf die Suche nach der Vergangenheit macht und einer großen Lüge auf die Spur kommt.

Es sind viele Emotionen, die Paola Lopez hier behandelt. Manchmal hätte ich mir etwas mehr Tiefgang gewünscht, gerade die Geschichte von Lyudmila bleibt am meisten an der Oberfläche. Doch es ist sehr interessant zu lesen, was passieren kann, wenn man nicht offen und ehrlich miteinander ist. Wenn man nicht nachfragt, nicht akzeptiert und nicht tolerieren kann, dass ein so nahe stehender Mensch wie die eigene Mutter oder Tochter ein ganz eigenes Leben hat. Und dass es für Verletzungen vielleicht auch einen Grund geben kann, gerade in einer Generation, in der man über schlimme Dinge nicht sprach, um sie zu vergessen.

Ein Roman vor allem für Mütter und Töchter, der die Summe unserer Teile noch einmal ganz neu zusammen setzt und damit vielleicht eine andere Sichtweise aufeinander vermittelt. Witziger Titel übrigens für diesen Debütroman, der den Haken schlägt zu der Autorin Paola Lopez, die selber Mathematikerin ist.

Bewertung vom 09.04.2025
Hope, Anna

Wo wir uns treffen


sehr gut

Dieses Buch beschreibt 5 Tage im Leben der Geschwister Frannie, Milo und Isa, die zur Beerdigung des Vaters auf dem großen Landsitz der Familie in England wieder zusammen gekommen sind. Schnell brechen alte Konflikte wieder auf, zumal außerdem die Erbschaftsfrage ungeklärt ist. Und es kommen Dinge aus der Vergangenheit ans Licht, mit denen niemand gerechnet hat.
Es fiel mir zunächst schwer, in die Geschichte hinein zu kommen. Zu Beginn wird häufiger auf Personen Bezug genommen, deren Bedeutung erst später erklärt wird. Doch nach dem ersten Drittel kommt man dieser verkorksten Familie näher und versteht immer mehr die Gefühle der einzelnen Personen.
Besonders beeindruckt hat mich Frannies Tochter Rowan, ein ungewöhnliches Kind. Sie hat eine Reife, die für ein Kind nicht einfach ist und sie spürt instinktiv viel von den unterschwelligen Gefühlen der Erwachsenen. Ihre Liebe zur Natur und den Tieren ist unerschütterlich, doch wird sie auch von Ängsten und Albträumen geplagt.
Frannie hadert mit allem und jedem, ist getrieben von der Arbeit, ihrem Perfektionismus, den Aufgaben auf dem Landgut, ihrer Rolle als alleinerziehender Mutter und der Entfremdung innerhalb der Familie. Milo ist ein Mann mit heftigen Exzessen in der Vergangenheit, unfähig zu lieben und mit wiederkehrenden depressiven Phasen. Auch die jüngste der Geschwister, Isa, hat ihre eigenen Probleme. Zunehmend entfremdet sie sich von ihrem Mann und seitdem sie wieder auf dem Landgut und mit ihrer Familie zusammen ist, treten ihre schlechtesten Seiten zu Tage.
Nach und nach erfährt man den Grund für die Differenzen, die Lieblosigkeit durch die Einsamkeit der Mutter, der Egoismus des Vaters. Immer war da das Streben der Geschwister nach der Anerkennung des Vaters, die bis zu dessen Tod ein Konkurrenzkampf war.
Interessant wird die Geschichte zusätzlich durch das Thema historische Verantwortung. Die letzten 3 Tage der erzwungenen Familienzusammenkunft sind sehr packend und emotional beschrieben.
Eine Geschichte mit vielen Facetten, interessant und sehr menschlich. Außerdem eine Mahnung daran, die Natur zu schätzen und die Zukunftsperspektiven für unsere Nachkommen nicht aus den Augen zu verlieren.

Bewertung vom 02.04.2025
Hall, Clare Leslie

Wie Risse in der Erde


sehr gut

Mit viel Liebe zur Natur beschreibt Clare Leslie Hall diese Geschichte um eine Frau und zwei Männer, die auf tragische Weise miteinander verknüpft sind.
Glücklich verheiratet mit dem Schaffarmer Frank trifft Beth nach Jahren ihre Jugendliebe Gabriel wieder. Hin und her gerissen zwischen Schuldgefühlen und Verlangen entsteht eine explosive Konstellation der Betroffenen vor dem Hintergrund eines ganzen Dorfes, das keine Heimlichkeiten duldet, geschweige denn verzeiht.
Diese Geschichte zieht einen sofort in ihren Bann, man leidet mit Beth, hat Mitleid mit ihrem tragischen Verlust in der Vergangenheit und versteht ihren inneren Zwiekampf. Das Ganze beschrieben vor der Kulisse einer Schaffarm, großartiger Natur und dem harten Alltag von Farmern. So schlägt dann auch der Titel eine Brücke zwischen dem Land und den Geschehnissen, die die Charaktere fast zu zerreißen drohen.
Die Geschichte wird aus der Sicht von Beth erzählt und teilt sich in Kapitel von früher, von heute und von einem Prozess. Sehr gut gefällt mir, dass bis zum letzten Viertel des Buches nicht klar wird, wer in dem Prozess vor Gericht steht und was eigentlich genau passiert ist. So baut sich eine Spannung rund um die Geschehnisse auf, die nur langsam ans Licht kommen. Und hinterher ist plötzlich doch alles ganz anders, als man als Leser*in erwartet hat. Diese überraschenden Wendungen machen das Buch noch einmal interessanter und abwechslungsreich.
Der Schreibstil ist einfach aber mitreißend, stilistisch kann dieses Buch mit dem am Ende vorgestellten "In den Farben des Dunkels" von Chris Whitaker jedoch bei Weitem nicht mithalten. Inhaltlich geht es in die gleiche Richtung, genau wie Delia Owens "Der Gesang der Flusskrebse". Es ist also kein Wunder, dass diese beiden Autoren mit einer Bewertung zitiert werden.
Diese Geschichte ist sehr leidenschaftlich und dramatisch, manche Dinge sind mir hier aber fast ein bisschen zu gut um realistisch zu sein. Frank zum Beispiel mit seiner grenzenlosen Geduld und seinem Verständnis, oder das Ende, das hier natürlich nicht verraten wird.
Ein mitreißender Mix aus Drama, Liebesgeschichte und Krimi vor einer naturgewaltigen Kulisse, das intensiv berührt und gut unterhält. Für Fans von "Der Gesang der Flusskrebse" unbedingt zu empfehlen.

Bewertung vom 19.03.2025
Engelmann, Gabriella

Der Gesang der Seeschwalben / Die Bücherfrauen von Listland Bd.1


sehr gut

Es sind durchweg starke Frauen, die Gabriella Engelmann in ihrem ersten Band der Bücherfrauen von Listland hier beschreibt. Und alle haben gemeinsam, dass sie unglücklich verliebt sind. Egal ob Anna, 55jährige Journalistin in der Gegenwart oder Lene in der Vergangenheit. Zwischen 1937 und heute erzählt dieses Buch, das mit seinen stimmungsvollen Beschreibungen der Insel Sylt Lust auf Urlaub macht.
Lene ist auf Grund des Nationalsozialismus nur eine kurze Liebe vergönnt, die jedoch nicht ohne Folgen bleibt. Es ist schon ein bisschen herzzerreißend von ihrem Schicksal zu lesen, aber auch dem ihrer Töchter, denen ebenfalls in der Liebe kein großes Glück beschieden ist. Die Männer in diesem Roman sind durchweg nur Nebensache, die Frauenpower ist das eigentliche Thema. Und natürlich auch, wie das Schicksal in Kombination mit Geheimnissen aus der Vergangenheit gnadenlos zuschlagen kann.
Die Geschichte von Anna schlägt den Bogen zu den Geschehnissen in der Vergangenheit, ihre Recherchen fördern viel Ungesagtes ans Licht und lassen in ihr eine Liebe zu Sylt entstehen, die noch zusätzlich mit einem Mann zu tun hat.
Leider sind mir manche Zufälle ein bisschen zu viel und damit die Story etwas zu konstruiert. Trotzdem hat dieses Buch einen hohen Unterhaltungswert und macht auch neugierig auf den zweiten Band.
Eine Leseempfehlung für Frauen, vor allem als entspannte Urlaubslektüre.

Bewertung vom 18.03.2025
Stern, Anne

Wenn die Tage länger werden


ausgezeichnet

Die alleinerziehende Lisa ist zum ersten Mal von ihrem 6jährigen Sohn Paul getrennt, und das direkt für die gesamte Zeit der Sommerferien. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich als Individuum völlig aus den Augen verloren hat. Anne Stern versteht es hervorragend, den Konflikt einer Frau darzustellen, die plötzlich keine Mutterpflichten mehr hat und sich gezwungen sieht, sich mit ihrem Leben und ihrer Vergangenheit auseinander zu setzten. Denn die Beziehung zu ihrer eigene Mutter Barbara ist sehr belastet. Und noch weiter zurück gehen die Probleme unter den Generationen, denn Barbaras Vater löste als Nazi die Schwierigkeiten in der Familie aus. Man spricht nicht über Vergangenes, Probleme werden unter den Teppich gekehrt. Mutig versucht Lisa, sich der Scham und dem Schweigen aus der Vergangenheit zu stellen und sich dabei selber zu finden.
Nicht nur um das Verhältnis von Lisa zu ihrer Mutter und ihrem Großvater geht es hier, sondern zugleich gibt es noch zwei interessante Nebencharaktere mit ähnlichen Problemen. Auch die ruppige Ute hat keinen Zugang zu ihrem Vater, der mit seinen eigenen Dämonen aus dem Krieg kämpft. Die Schicksale von Vater und Tochter sind mit ebenfalls beim Lesen stark unter die Haut gegangen.
In einem angenehmen Schreibstil und mit großer Empathie erzählt die Autorin von den Problemen einer gestressten Mutter, einer verschwiegenen Großmutter, der Schuld der Vorfahren und immer wieder von der Gefahr der fehlenden Kommunikation. Man leidet mit Lisa, ihrer Sehnsucht nach Paul und einem selbstbestimmten Leben. Genauso fühlt man mit Ute, schaut hinter die barsche und zornige Fassade. Die Charakter sind interessant und realistisch und damit weit entfernt davon, perfekt zu sein.
Ein toller Roman mit vielen Facetten, intensiv und berührend. Eine unbedingte Leseempfehlung für alt und jung, Frauen und Männer.