Wütend sein, traurig, verzweifelt, sprachlos, machtlos, verwirrt, verständnislos, distanziert. Suchen nach Gründen, nach Lösungen, nach Inseln, nach Rückzugsorten, nach Antworten, nach Wegen, nach Zeitsprüngen, nach der Zukunft, nach der Gegenwart.
Menschen sind schnell dabei, Schuld zuzuweisen und Rollen festzulegen. Es ist leicht, eine*n Täter*in zu bestimmen und ein Opfer. Der persönliche Schmerz übernimmt die Führung, das Handeln wird eine Reaktion, keine Aktion.
Und dann gibt es noch diejenigen, die, obwohl sie selbst betroffen sind, nach Antworten suchen, die hinter dem eigenen Horizont liegen. Sie wollen verstehen, das ganze Bild erfassen und urteilen, aber nicht verurteilen. Wie der Vater des Opfers und der beste Freund.
Mit #Eden liegt ein starker Roman vor. Unbequem, weitsichtig, sprachgewaltig ob der Sprachlosigkeit. Es geht um die ganz großen Themen: Diskursfähigkeit in Zeiten populistischer Phrasen. Annäherung, obwohl die Distanz unüberwindbar scheint. Die Sprache spielt immer wieder mit diesem Wechsel aus Nähe und Distanz, Lärm und Stille, Dunkelheit auf der einen Seite, Licht und Farben auf der anderen. Albträume, Stille und das Hilflose sind grau, das Bewusste und Interaktive ist bunt. Wer mittendrin ist, ist zu nah dran, um etwas erkennen zu können, muss Distanz schaffen.
Der Alkoholismus der Mutter, die Nazi-Parolen des Vaters sind hohl und zerstörerisch. Alles, was anders ist, bereichert und verstehen hilft, ist freudig und farbig.
In der Romanbeschreibung steht, es geht um Instrumentalisierung, politische Einflussnahme, gesellschaftliche Kluften. Ja. Aber es geht auch darum, dass es die 12-jährigen sind, die die Welt neu denken und das Miteinander verändern. Sie verstehen, dass dezidierte Debatten wichtig sind und ein soziales Miteinander, trotz aller Differenzen. Sie sind diejenigen, die sich erwachsen verhalten, während die Erwachsenen in den emotionalen Mustern von Kindern feststecken.
Eden ist ein ganz starker Roman, der mich an «Die spürst Du nicht» erinnert hat aber auch an Ferdinand von Schirach. Mit einer ganz eigenen Sprache und viel Schönheit im Angesicht des Grauens. Ich mochte ihn sehr und schätze seine aktuelle Relevanz sehr.
Marfutova, Yulia
Eine Chance ist ein höchsten spatzengroßer Vogel
… und Marina ergreift diese Chance. Sie möchte von Anfang an weggehen, und erst nach und nach lernt sie, dass die jüdische Herkunft ihrer Mutter ihr dabei helfen könnte. Es fallen Wörter wie Zionismus und Antizionismus, Perestrojka und und Sochnut.
Je nach Erzählperspektive wird die Sprache intellektuell, naiv, manchmal auch zum inneren Monolog. Die Sprache greift so virtuos ineinander wie die Zeitebenen. Denn Zeit ist ja niemals linear, es ist immer eine Gleichzeitigkeit. Das Vergangene ist nie vergangen, es ist immer bei uns. So wie die Geister in der Zeit, die Stimmen, die verschiedenen Akteure.
Da sind die Mäuse, sie erzählen die Geschichte. Denn wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen? (S. 97)
Sie erzählen, uns, 17, 16 und 10, von Marina und ihrer Mutter Nina, von Vera und ihrem Vater, der die Lampe genannt wird, weil er nicht sprechen und nicht aufstehen kann. Sie erzählen von den 1980er-Jahren in der Sowjetunion und der jüdisch-russischen Familiengeschichte. Die Mäuse müssen erzählen, denn Nina, Marinas Mutter, sagt kein Wort.
Ist alles wahr? Kann das alles so gewesen sein? Es gibt keinen kongruenten Erzählstrang, es sind Stückchen, die uns hingeworfen werden, aus denen sich ein Bild zusammensetzt. Aus desolaten Verhältnissen, Hoffnung, dem festen Glauben an die Träume und die Geister. Dazwischen ist eine junge Frau, die ihre Stimme und ihren Weg sucht, fest gewillt die spatzengroße Chance zu ergreifen, sobald sie sich zeigt.
Dieser kurze Roman ist Migrationsgeschichte, hohe Erzählkunst und Experiment. Wie kann die Erzählung der Vergangenheit funktionieren, wann ist es Fiktion und wann kann es wahr sein? Dabei entsteht so viel Raum für Assoziationen und Interpretationen, für Freude an der Sprache und fürs Recherchieren. Der Text fordert sogar explizit dazu auf.
Der Anfang war etwas hakelig, aber dann war ich voll im Buch. das ist die schönste Form von Sprache, Emotion, Magie und der Härte des Lebens. Traurig, humorvoll, hart, perspektivisch spannend und so vielschichtig, wie das Leben eben ist.
Arkadia Fink ist rebellisch und zart, voller Energie, Selbstbewusstsein und Schmerz. Ihre Mutter verschwand, und sie weiß, dass sie im Knabenchor singen muss, damit ihre Mutter sie hört und zurückkommt. Wie wahrscheinlich ist das im bayrischen Bergdorf?
Auf wieviel Widerstand stößt eine junge Frau, die mehr sein will, als die gesellschaftlichen Normen vorgeben? Das ist 1595, zu Zeiten von Molls Großmutter mit den 12 Urs genau das gleiche wie heute. Eine Frau, die mehr vom Leben forderte als andere - nicht nur als andere Frauen, sondern sogar als Männer. Eine solche Frau lebte gefährlich. Unser Dorf verstand sie nicht. 1595 endete die Hexenjagd mit dem Feuer.
Bei Arkadia, genannt Moll, sieht es anders aus. Sie stürzt sich in feinsinnige Ironie, umfassende Traurigkeit, die abgrundtiefe und unbändige Liebe zur Musik und in den inneren Widerstand. Sie erträgt die Hänseleien, de Gewaltausbrüche ihres Vaters, die Ignoranz der Pentatoniker und die Stumpfheit der anderen. Sie lebt für und durch die Musik.
Dabei geht sie ihren ureigenen Weg. Selbst die ihr Wohlgesonnenen suggerieren, sie würde sich daran gewöhnen, als Frau ihr Frausein zu verleugnen, um in einer Männerwelt anerkannt zu werden. Aber Moll geht den unbequemen Weg. Ohne sich selbst zu belügen und ohne Kompromisse. Auch dann, wenn es wehtut.
Die fünfte Sinfonie Beethovens birgt eine der wichtigsten Lektionen des Lebens: per aspera ad astra. Durch das Raue zu den Sternen. Die Entwicklung von c-Moll zum Finale in C-Dur. Aus etwas Kleinem kann etwas ganz Großes werden.
Moll ist klug, unabhängig, unbeugsam und voller Stolz. Sie ist die, die ich mit 13 gerne gewesen wäre und noch viel mehr. Durch das Raue zu den Sternen ist wunderbar, ließ mich lachen und weinen und hoffen und die ganze Schönheit der Welt umarmen. So unbeschreiblich wie die Kraft der Musik und die Kunst und die Sprache und das Licht in den Bäumen.
Die Probe lese ich, als der Roman auf der Longlist für den Booker Prize steht. Hier finden sich sprachlich anspruchsvolle Werke, die neue Perspektiven öffnen. Der Roman findet sich auf dieser Liste also zurecht.
In der Probe treffen vor allem Vorstellungskräfte aufeinander, Ideen, wie Wirklichkeit zu denken ist und wie flexibel wir mit unserer Vorstellung von der Welt umgehen können und wollen. Da geht es einerseits um Resilienz, vor allem aber um die Frage, wer wir innerhalb unserer Beziehungen füreinander sind.
Menschen spielen Rollen, sind Projektionsflächen für das Gegenüber, haben selbst Ideen von sich, wer sie sein wollen und wer sie glauben zu sein.
Die Vorstellungen von der Realität verschwimmen bei Kitamura mit der Fiktion, die Figuren haben klar umrissene Charaktereigenschaften, aber sie spielen auch Rollen. Und diese Rollen löschen die Persönlichkeit gewissermassen aus. Denn es sind Stereotype. Wer Stereotypen erfüllt, wird gesehen, weil die Person sich nur so der Allgemeinheit einprägen kann. Besonders, wenn es sich um eine Frau handelt.
Was ist also Fantasie? Was echt? Auch Beziehungen erweisen sich als Ideen, an die wir glauben. Ein Beziehungsgeflecht lebt von gemeinsamen Glaubenssätzen. Was verändert sich, wenn wir von anderen Voraussetzungen und Glaubenssätzen ausgehen?
Der/die Leser*in geht mit auf eine Gratwanderung zwischen Philosophie, Soziologie, kollektivem Bewusstsein und Wahrnehmung. Zwischen gesellschaftlichen Normen und individuellen Ansprüchen. Wie weit kann eine Frau gehen, wenn sie mehr vom Leben will?
Ganz nebenbei werden hier patriarchale Strukturen thematisiert und abstrakte Räume, die uns als feste Konstrukte nahegebracht werden, sinnentleert.
Das gelingt sprachlich beeindruckend, verstörend logisch, philosophisch weitsichtig, von einer starken Protagonistin getragen.
Lisa und Simon leben mitten im Schwarzwald, er ist Förster und sie arbeitet in der Touristeninformation. Nicht nur dort hilft sie den Menschen weiter, Lisa ist ein Mensch, dessen Berufung es scheint, anderen zu helfen. Bis zur Selbstaufopferung springt sie ein, wo Not am Mann ist und steht allen mit Rat und Tat zur Seite. Simon ist das längst zu viel, denn auch von ihrem Vater lässt Lisa sich nur zu gerne ausnutzen. Denn das familiengeführte Hotel läuft längst nicht mehr gut. Nur wenige Stammgäste kommen noch.
Und dann taucht Daniela auf. Sie ist eine Fremde, die schutzbedürftig wirkt und das Etikett «Opfer» wie einen Mantel trägt. Sie präsentiert sich als verletzlich, doch gleichzeitig umwittert die Frau ein Geheimnis. Lisa nimmt sich natürlich ihrer an.
Zeitgleich geschehen seltsame Dinge. Simon erhält mysteriöse Nachrichten von jemandem, der ihn gut zu kennen scheint.
Schnell blüht Daniela auf, breitet sich aus, nimmt für das Verständnis von Margret, die Lisas Vater schon lange innig zugetan ist und das Hotel am Laufen hält, schon bald zu viel Raum ein. Während Daniela Lisas Umfeld für sich einnimmt, wendet sich Lisas beste Freundin von ihr ab, sogar ihr Mann Simon geht auf Abstand. Genauso wie die Schatten länger werden und die Kälte in das Tal Einzug hält, scheinen Lisas Glaubenssätze komplett auf den Kopf gestellt zu werden.
Sind es wirklich die anderen, die sie brauchen? Oder ist es vielmehr sie, die ihre Bestätigung daraus zieht, dass sie meint, anderen helfen zu können? Ist alles kaputt oder war dies die entscheidende Zeit im Leben, die ein Weckruf sein kann, um alte Ängste abzulegen und die Geschichten, die wir uns erzählen, umzuschreiben?
Erneut greift Kristina Hauff zu klaren Sätzen und einer schnörkellosen Sprache, um das Unbehagen zu schüren. Die Sprache kommt ohne viele Adjektive aus und entwickelt schnell eine soghafte Spannung. Jeder Charakter ist vielschichtig angelegt und verfolgt entweder deutlich erkennbar oder ganz subtil seine eigenen Ziele. Es macht Spaß, der Interaktion zu folgen und immer tiefer in das toxische Geflecht einzutauchen.
Wer kennt sie nicht, diese Gäste, die sich von der Party verabschieden und dann noch eine halbe Stunde im Flur stehen und immer noch kein Ende finden. Genauso empfand ich leider den vierten Teil des Romans. Ich hätte mir mehr bleibende Verstörung beim Zuschlagen des Buches gewünscht und weniger Konkretisierung. Doch das ist vielleicht eine Frage der Erwartung an einen Thriller.
Hannah und Dinah hören Bucky aufmerksam zu, vielleicht entrückt wirkte und nur mit einem Fuß in der Gegenwart zu stehen schien, mit dem anderen Knie tief im Sumpf seiner Erinnerungen.
Dieses Zitat beschreibt Strandgut recht treffend. Es ist eine Hommage an den Soul, an die Musik, an Charaktere mit vielen Ecken und Kanten und die ewige Suche nach sich selbst, Identität und Vergangenheit. Das Thema Schuld können wir wohl alle, und deshalb fragt in dieser Roman, der grosse sind Fragen stellt, auch danach, wie wir uns selbst vergeben können.
Earlon Bucky Bronco ist am Tiefpunkt seines Lebens angekommen, und dann kommt die Einladung nach England, Scarborough, ob er beim Soul-Weekender auftrete würde. In Amerika ist der ehemalige Sänger längst in der Versenkung verschwunden, in England wird er als Legende gefeiert.
Soul, seine Seele ist es auch, die Rettung sucht. Der drogenabhängige Alkoholiker mäandert durch die Nächte. Etwas störend ist der Spannungsbogen, der darauf abzielt, ob er nun wirklich Drogen findet. Andererseits Saufen in Scarborough alle wie die Löcher. England ist eben die leidenden Nation. Wer schonmal in Scarborough war, weiss, dass es der Inbegriff des Verfalls ist, und deshalb passt es als Schicksalsort für Bucky.
Strandgut könnte vielleicht ein gutes Buch sein, doch die Übersetzung funktioniert überhaupt nicht. Die Dialoge fliessen nicht, die Sätze in den Erzähplassagen wirken holprig. Es scheint mir allerdings so, als dass es nicht an der Qualität der Übersetzung liegt. Intensiver amerikanischer und englischer Slang sind unübersetzbar. The Full Monty funktioniert auch nicht auf Deutsch.
Ich mag die gesellschaftlichen Fragen, die Strandgut aufwirft. Das Altwerden, die Auseinandersetzung mit dem Tod, mit der Trauer. Und mit dem System Amerikas, in dem jeder ohne Krankenversicherung sich selbst überlassen ist, in dem ein Miniprozentsatz die Sterne greifen darf und alle anderen Millionen in der Gosse landen. Die Sprache ist jedoch wirklich nahezu untragbar, und darunter leidet das Leseerlebnis sehr.
Das Haus der Türen ist ein hochliterarische Ansatz, der fiktives mit realem verweht. Im Zentrum steht der Schriftsteller William Somerset Maugham und seine Erzählung «Der Brief». Wir gehen mit ihm auf die Reise und kommen der Geschichte auf die Spur, wie er zu dem Inhalt seines Werkes gekommen sein könnte.
Virtuos verknüpft er hier die ganz grossen Themen. Es geht um die englische Gesellschaft zur Zeit der der Kolonialzeit in Malaysia, grosse politische Themen wie den chinesischen Widerstand gegen das Regime, die Gleichberechtigung der Frau und das grosse Damoklesschwert über den Randgruppen der Gesellschaft. Denn immer wieder geht es auch um Homosexualität, den Umgang mit den Einheimischen und die bedeutsamen Schatten Oscar Wildes.
Er beschreibt die Natur, wählt eine poetische Sprache, verbindet Mystisches mit kulturellen Akzenten. Die Ehefrau, die ihr gelangweiltes Leben lebt, erzählt Somerset Maugham ihre Geschichte. Sie findet Zerstreuung bei den Revolutionären, die von einer egalitären Gesellschaft träumen und engagiert sich für ihre des Mordes angeklagte Freundin.
Gekonnt spiegelt sich in diesem Prozess all das, was jenen droht, die nicht dem Ideal der Gesellschaft in dieser kleinen Enklave entsprechen. Verstörend aber auch verheissungsvoll, denn der Ausweg ist dort, wo die Insel verlassen wird, die die kleine Welt begrenzt. Nur ist der Weg zurück nach London nicht allen offen.
Ich mochte den Roman, das Thema, die historischen Figuren und die Sprache. Die Ankunft Somerset Maughams in Malaysia verschiebt das Personengefüge und wirft die grossen Fragen des Daseins auf. Nach Heimat, nach Reisen, Identität und Werten.
Dennoch plätschert Das Haus der Türen oftmals so dahin. Ich habe dennoch viel erfahren und Freude daran gehabt, diesen Lebensabschnitt von Somerset Maugham zu verfolgen, er ist so plastisch, dass er fast greifbar ist. Eine interessante Perspektive auf die Kolonialzeit, ein düsteres Kapitel, daher umso schöner, es in moderner Literatur wiederzufinden.
Ich empfehle das Buch gerne weiter und war gerne unter den Palmen von Penang im Jahr 1921.
So endet die Buchvorstellung, bevor die erste Seite beginnt:
Dieser (Roman) wurde nie veröffentlicht. 1932 auf der Schwelle zur NS Herrschaft verfasst, besteht Sebastian Haffners Abschied einmalig gewitzt und rasant auf Weltläufigkeit, Liebe und Überschwang. Für unsere Gegenwart ist er ein Ereignis.
Raimund ist verliebt in Teddy. Er fährt für ein paar Tage zu ihr nach Paris, entflieht dem bedrückenden Deutschland und taucht ein in die fröhliche Geselligkeit der Dreissigerjahre in der Metropole Frankreichs. Teddy ist Österreicherin, lebte in Berlin und wanderte nach Paris aus. Sie wird umgarnt von zahlreichen Herren, auf die Raimund eifersüchtig ist. Und doch kann er sich dem Charme, dem freundschaftlichen Umgang und der Leichtigkeit der Poeten, Studenten und herzlichen Weggefährten nicht entziehen.
Hier ist alles, was das Leben ausmacht. Freiheit, Fortschritt, Kunst, Savoir-vivre, ein enger Zusammenhalt und das Glück. Über allem schwebt die Melancholie des Abschieds. Der Roman von Sebastian Haffner zelebriert den Abschied in allen Facetten.
Der Text ist geprägt von Euphorie und unbeschwerte Leichtigkeit aber auch von Hoffnungslosigkeit und dem drohenden Unheil. Er ist weitsichtig und in seinen Andeutungen fast prophetisch. Gleichzeitig wird hier eine politische Denk- und Sichtweise deutlich, die unangepasster und diskursfreudiger nicht sein könnte. Die Jugend ist weltoffen, liberal, empfängt das Unbekannte mit offenen Armen und betrachtet andere Kulturen als Bereicherung. Und vielleicht gerade deshalb wurde die Bedrohung durch die Nationalsozialisten nicht ernst genug genommen, heisst es, vielleicht wurde sie zu lange als lächerlich rückständig abgetan.
Dieser posthum veröffentlichte Roman ist wirklich ein Ereignis. Er ist frech und witzig, voller literarischer Schönheit, vielschichtig und geradezu erschütternd in dem heutigen Wissen um den Aufzug des dunkelsten Kapitels der Geschichte.
Alain Delon, Ingrid Bergmann, Jacqueline Kennedy Onassis, Steve McQueen. Referenzpunkte und leuchtende Sterne. Vor uns entfaltet sich die Welt der amerikanischen Oberschicht, der Schickeria, die Welt der Reichen und Schönen. Aber es ist auch die Welt derjenigen, die fast ganz oben sind und es nie wirklich schaffen.
Teddy von Emily Dunlay ist eine Studie einer Frau in ihrer Zeit, aber es ist vor allem ein Gesellschaftsportrait.
Es ist etwas passiert. Am Abend des 4. Juli 1969. Teddy wird von zwei Diplomaten verhört und lässt ihr bisheriges Leben Revue passieren. Sie ist seit ihrer Kindheit von den politischen Ambitionen ihrer Familie bestimmt. Die texanische Familie ist erzkonservativ, alles, was liberal, weltoffen oder fortschrittlich ist, ist automatisch auch kommunistisch. (Hallo, Gegenwart).
Teddy soll sich benehmen, sie soll ein respektables Mitglied der Gesellschaft sein und natürlich darf sie ihrer Familie keine Schande bereiten. Aber sie ist gerne unterwegs, heiratet nicht, hat Sex und gibt das Geld mit vollen Händen aus. Als sie dann doch den Diplomaten David heiratet, ziehen sie nach Rom. Immer wieder spricht sie davon, hier die Person werden zu können, die sie werden wollte. Sie will perfekt werden. Eine gute Gattin, elegant, stilvoll, vorbildlich. Doch Teddys wilde Seele lässt sich nicht bändigen. Was mag geschehen sein? Als sie die Dinge selbst in die Hand nimmt?
Wir begleiten eine Frau auf der Suche nach sich selbst. Eine Frau an diesem Ort und zu dieser Zeit lebt in klaustrophobischen Verhältnissen. Teddy ist naiv, kann nicht mit Geld umgehen, wird immer wieder limitiert. Wie kann sie einen selbstbestimmten Weg finden?
Der Roman ist leicht zu lesen und eingängig erzählt. Ich musste mich erst darauf einlassen, um dann aber auch wütend zu werden - ob der reaktionären Männer, der dekorativen Frauen, des Rassismus, der Frauenfeindlichkeit, der Lethargie und des schmerzhaften Luxus in der Welt des schönen Scheins. Ein absolut lesenswertes Buch für Sommertage und neue Perspektiven. Und irgendwie auch brandaktuell.
Englische Bücher haben oft einen ganz bestimmten Tonfall, eine eloquente Distanz, die seltsam losgelöst von den eigenen Gefühlen der Protagonist*innen erscheint. Dadurch entsteht die Fähigkeit, sich selbst aus der Ferne zu betrachten und das eigene Verhalten genau zu sezieren.
Und so untersucht Helen sich selbst, taucht ein in ihre psychologischen Muster, ist sich nicht zu schade, zu konstatieren, dass es doch schöner wäre, wenn sie sich in eine andere Richtung entwickelt hätte, nachdem der Horror der initialen, traumatische Erfahrung verebbt.
Stimmt. Sympathisch ist sie nicht. Das ist keine der Figuren. Ich konnte keine der Entscheidungen nachvollziehen und viele der Wendungen sind in meinen Augen so seltsam, dass ich ihre Relevanz für den Plot einfach nicht verstehe.
Ein Thriller ist Ocean nicht. Es ist Psychostudie, Familienstück, Kammerspiel, Experiment. Erst nach der Hälfte des Buchs kommen wir aufs Meer. Die Geschichte ist komplex, der Stil ziemlich literarisch.
Ein paar lose Enden bleiben jedoch liegen. Der Roman spielt mit dem Thema der verschiedenen Realitäten, doch diese Idee wird nicht konsequent zu Ende geführt, da gerade in der zweiten Romanhälfte der Actionanteil zunimmt und die psychologischen Projektionen in den Hintergrund geraten.
Trotzdem gibt es kein Entkommen. Sich selbst nicht und der Familie nicht. Wir verfolgen, wie hinter dem delikaten sozialen Gefüge das Unheil lauert. Hier widerspreche ich vehement. Vieles lässt sich verändern. Nur schafft sie es eben nicht, auch wenn sie ihre Hoffnungen in das Schiff gesetzt hatte, mit dem die Familie in See sticht. Aber, wie sie selbst beobachtet, trotz der Bewegung bleibt die Position, wie in einer kardanischen Aufhängung an Bord, die gleiche.
Und so erwarten wir den Showdown.
Polly Clark spielt mit popkulturellen Referenzen, Walter Mitty läuft ebenso durchs Bild wie Gleis 9 3/4. Die Sprache ist cool, englisch und eloquent, die Einsichten in die Köpfe der Figuren detailliert. Aber am Ende bliebt ich etwas ratlos zurück. Die zwei Teile des Buches fügen sich nicht richtig zusammen, etwas fehlt mir die ganze Zeit. Vielleicht Stringenz, vielleicht Verwundbarkeit, etwas zum Anknüpfen. Sind denn hier alle Soziopathen?
Ich empfehle das Buch allen, die gerne segeln, das Setting stimmt, die Aufbruchsstimmung auch.
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