Benutzer
Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 246 Bewertungen
Bewertung vom 21.06.2025
Murasov, Andrej

Der Himmel ist so laut


ausgezeichnet

Tiefgründige, wunderbar erzählte Coming-of-Age, Coming-to-life Geschichte.

Wie treffend kann ein Titel sein? - Hier passt es zu 1000 Prozent. Der Himmel so laut ist eine tiefgehende coming-of-age und coming-to-life Geschichte über die Liebe, tiefe Freundschaften mit all ihren hellsten und dunkelsten Facetten, über Identität und Verlust. Es ist hauptsächlich der Verlust eines jungen Menschen, um den sich dieser Roman dreht.
Nejla und Arthur haben einander gefunden, haben ihre Liebe zueinander gerade erst entdeckt, als Arthur in Sarajevo, zehn Jahre nach dem Krieg, von einem Auto erfasst wird.
Es ist nun schon das zweite Mal, dass Nejla in dieser Stadt einen geliebten Menschen verliert. Ihre Freunde Dilek und Bobby, selbst ein Paar, brechen ihren Urlaub sofort ab, und fahren mit einem klapprigen Transporter zusammen mit dem Rapper Kazim nach Bosnien.
Alle fünf Personen stammen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Ethnien. Alle haben mit ihrer Umwelt, ihrem Leben zu kämpfen, müssen sich behaupten in einer Welt voller Gewalt und Rassismus.
Aus den verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen erzählt uns der Autor davon. Mal einfühlsam, mal mit der vollen realen Brutalität. Es gibt Familienbande, die es gilt zu halten, wie bei Kazim, ein Jeside. Es gibt aber auch das Gegenteil davon. Sie alle haben ihr spezielles Leben, und ihre Art, damit umzugehen.
Um mit ihrer Trauer fertig zu werden, versucht Nejla, die Musik-Arbeiten von Arthur fortzusetzen, bzw. zu beenden. Mit tatkräftiger Unterstützung von Arthurs Rap-Partner Kazim. Doch was für sie als Therapie gilt, mag für andere als Einmischung oder Selbstbehauptung gelten. Die Welt prasselt auf alle nieder, manchmal ist es nur Regen, manchmal sind es dicke Steine. Und was zählt am Schluss? Der eigene sprichwörtlich nähere Rock oder ist das Band einer Freundschaft doch dicker? - Lest es und findet es heraus.
Die Freunde sind wie Passagiere auf einem Karussell, das sich mal langsam, aber meistens schnell um die eigene Achse drehend, die Sitze nach außen drückt. Sie greifen mit ihren Händen nacheinander, versuchen den Halt zu finden, den sie tagtäglich glauben zu verlieren.
Der Autor hat es hier mit viel Insider-Wissen und Recherche geschafft, verschiedene ethnische und kulturelle Grundsätze mit großem Fingerspitzengefühl in das Buch einfließen zu lassen, sei es die Religion der Jesiden oder auch die tiefen Weisheiten des Schamanismus'.

Es ist ein Roman, der intensive Eindrücke hinterlässt, und den ich sehr gerne gelesen habe. Es gibt einen Vorgängerroman der Protagonist*innen mit dem Titel „Alles Gold“, den man, so wie ich, für dieses Werk nicht zwingend kennen muss, aber ganz gewiss lesen sollte.
Eine Playlist der Songs von Arthur und Kazim rundet dieses Buch für alle Rap-Begeisterte perfekt ab.
Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.06.2025
Schulte, Birgitta M.

Ruhrgemüse, polnisch


ausgezeichnet

Bewegende Zeitgeschichte über das Erstarken der sozialistischen Arbeitnehmerbewegungen, eingepackt in einen fesselnden Familienroman

Adam und Zuzanna emigrieren Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Westpreussen nach Dortmund. Es gibt dort viel Arbeit, die Zechen und metallverarbeitende Betriebe laufen auf Hochtouren. Sie sprechen polnisch, obwohl sie sich ja eigentlich auch als Deutsche sehen. Dennoch haben sie keinen leichten Stand, und werden trotz Namensänderung und bester Eingliederung immer Menschen zweiter Klasse bleiben. Adam ist ein guter Meister, doch ein unverschuldeter Arbeitsunfall, der ihn ein Auge kostet, ändert alles. Sein Posten ist begehrt, und Adam gerät in einen Kampf, den er nicht will und dennoch ausfechten muss. Er ist ein guter (für manche zu gut), gerechter Mann, steht zu seinen Schützlingen und sieht manchmal weg oder zeigt Verständnis, und das wird ihm zur Last gelegt. Er engagiert sich für die Arbeitnehmerinteressen, auch nachdem er seinen Job endgültig verloren hat. Im Spar- und Bauverein sieht er seine Aufgaben, genauso wie in der Gewerkschaft. Er schafft vieles, darunter auch eine größere Wohnung für die ständig wachsende Familie. Zuzanna tut was sie kann, damit genug Geld zum Leben hereinkommt. Als Näherin ist sie talentiert und bekommt zum Glück aller bei einer guten Familie, sie sehr sozial eingestellt ist, eine Beschäftigung.
Der Roman ist nicht nur eine Familiengeschichte, er erzählt uns auch vieles über das Erstarken der sozialen Bewegungen in jenen Zeiten (ca. 1890-1932). Es wurden damals schon viele Grundlagen für bessere Arbeitsbedingungen geschaffen, wie zum Beispiel der Acht-Stunden Tag aus dem Jahr 1918.
Auch geht es viel um die eigene Identität und das Andenken an die Herkunft. So bemühen sich Adam und Zuzanna sehr, sich zu integrieren. Sie wollen sich zwischen gelebtem Katholizismus und ihren polnisch-preussischen Wurzeln als Deutsche sehen und nennen, doch das Leben ist und bleibt ungerecht, der Rassismus scheint in den meisten Fällen in den Genen verankert zu sein. Und das macht diesen Roman aktueller denn je.
Sehr gerne gelesen und nebenbei viel dabei gelernt. Große Leseempfehlung für dieses schön aufgearbeitete Stück Zeitgeschichte.

Bewertung vom 04.06.2025
Lazar, Maria

Viermal ICH


ausgezeichnet

Eine intensive, feministische Auseinandersetzung anhand von vier weiblichen Charakteren in den 1920er Jahren

Der in den Jahren 1928/29 verfasste, bislang unveröffentlichte Roman der Autorin wurde 2023 im Verlag „Das vergessene Buch“ erstmals anhand der Original-Typografie, und nun in ungeänderter Form als Taschenbuch im btb-Verlag veröffentlicht.
Die Ich-Erzählerin berichtet von vier Frauen, denen die Unterschiede zueinander stärker verbindet, als sie wahrhaben. Die Erzählerin selbst berichtet natürlich von sich, beginnt damit, wie sie als zwölfjährige biologisch zur Frau wurde – nicht direkt, aber in Andeutungen. Sie ist sehr sensitiv, versucht sich in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden, doch der Blick auf ihre Freundinnen nagt an ihrer Zellwand.
Grete, eine behütete Tochter eines Professors mit hellem, durchscheinenden Teint, verletzbar. Anette ist sinnlich, hübsch, erscheint freizügig, um nicht zu sagen frech. Und Ulla wird als unattraktiv beschrieben, dafür als äußerst klug.
Es sind verschiedenste Eigenschaften von vier Frauen, die sich in einer männerdominierten Welt behaupten wollen und müssen. Die Erzählerin sieht mit lachendem und weinenden Augen auf ihre drei Freundinnen, die sich durch die Zwanzigerjahre kämpfen. Vieles möchte sie haben, was die anderen haben, manches nicht. Sie schreibt es auf, oftmals in Rückblicken, manchmal forsch, manchmal peinlich berührt von ihrer eigenen Gedankenwelt. Sensitiv und mauernd. Beides steckt in ihr. Und vor allem eines: der Drang, der ungeheuerliche Druck zur Selbstverwirklichung. Doch die Schranken der Gesellschaft sind stark. Die Themen wie Liebschaften, Untreue, Eifersucht, oder Schwangerschaftsabbrüche beherrschen den Roman. Die Gedanken wild und sprunghaft – und genau so präsentiert die Autorin die Welt der Erzählerin. Wenn sie sich schon selbst nicht im klaren ist, was die Welt für eine heranwachsende Frau nach dem Krieg bereithält, wie kann, ja wie dürfen es dann die Leser*innen wissen. Und noch dazu mit dem Hintergrund der politischen Wirren in jenen Jahren und das Erstarken der Nationalsozialisten.
Die erste Hälfte des Buches war tatsächlich ein wenig wirr. Man hüpft von einem Gedankensplitter zum nächsten wie ein flatternder Schmetterling von einer Blüte zur anderen. Erst in der zweiten Hälfte verdichtet sich die Erzählweise mehr und mehr zu einer Gesellschaftsstudie.
Aus einer inneren Zerrissenheit manifestiert sich mehr und mehr die Gewissheit, dem Patriarchat ausgeliefert zu sein.
Es ist eine Suche nach dem eigenen Ich in der damaligen Zeit. Die Versuche der Selbstbestimmung gehen ihre Wege, der Titel könnte mit den vier Protagonistinnen nicht treffender sein.
Auch die wiederkehrenden Szenen mit verschiedenen Spiegeln, in denen sich die Erzählerin sieht und das Abbild als „Fremde“ betitelt, begleiten das Buch. Meist treten sie ein, wenn unliebsame Begebenheiten auftauchen und können tiefenpsychologisch erklärt werden. Das Unbewusste frisst sich irgendwann durch, von Innen nach Außen. Vom Denken ins Handeln.
Es ist ein sehr intensives Buch, für das man sich ruhige Minuten gönnen soll, um es in der ganzen Tiefe mit Genuss erfassen zu können. Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 02.06.2025
Liassine, Yasmina

Utopia Algeria


ausgezeichnet

Ein Algerien für alle? Sehr kluge Gedanken der Autorin! Leseempfehlung!

Ich habe schon so einige Romane über das Land Algerien gelesen. Über Bürgerkriege, Polizeiarbeit, Buchhandlungen, Albert Camus und vor allem über die Geschichte der Kolonialisierung durch Frankreich und dem Widerstand der zur Unabhängigkeit führte, mit all den Einmischungen der ehemaligen Kolonialherren.
Auch dieser Roman beschäftigt sich mit diesen Dingen, aber nicht vordergründig. Denn die politischen Entwicklungen sind natürlich Fakten, an denen man nicht vorbeikommt. Hier dreht es sich aber viel mehr darum, was es heißt, algerisch zu sein (oder auch nicht). Das Wort „Volksseele“ (ich mag es nicht, finde es auch nicht gut) drängt sich mir hier auf, weil mir nichts besseres einfällt.
S. 27: „Wir Algerier, wer auch immer wir sind, wir wissen immerhin, dass, egal wie unvollkommen, wie schrecklich es sein mag, wir wissen, dass ein lebendiges Algerien existiert, das den Ausgangspunkt der Hoffnungen für uns oder für die darauffolgenden Generationen bildet. […] Aber sie, die Armen, was können sie tun? Ihr Sancta Algeria ist defintiv tot und wird niemals wieder auferstehen können ...“
Algerien existiert schon lange, die verschiedensten Kulturen haben sich angesiedelt. Griechen, Römer, Christen und Muslime. Ein Mix, aus dem es wahrlich nicht einfach wird, seine Wurzeln und Identitäten zu finden.
Die Autorin ist Tochter einer Französin und eines Algeriers. Sie arbeitet die eigene Familiengeschichte auf, erinnert sich an ihre Kindheit, an den Duft der Orangen und Kräutern. Doch was ist geblieben, rückblickend? Wem gehört(e) das Land. Und kann es wieder zu dem werden, was es einst war? Eine (naive) Heimat aus beglückten Kindheitstagen? Zu sehr beutelt die Geschichte das Land, und somit auch die Menschen, die dort Leben, und auch diejenigen, die es verlassen mussten, um in Frankreich eine Existenz aufzubauen, und mit einem lachenden und weinenden Auge über das Mittelmeer blicken.
Die Unabhängigkeit von 1962 barg viele Hoffnungen, vor allem der Wunsch nach einem Ende der Gewalt.
S. 54: „Viele konnten es sich nicht vorstellen, woanders zu leben als dort. Maria, die Hausmeister […], Albert, der Konditor, der gerade seinen Laden gekauft hatte und lachend sagte, die Leute würden nicht aufhören, Kuchen zu essen, ganz zu schweigen von all den anderen, den Intellektuellen, den Künstlern, deren Enthusiasmus nicht nachließ …
Die Hoffnung auf ein Algerien, in dem Christen, Juden und Muslime, Reiche und Arme, nachkommen von Maltesern, Spaniern und Elsässern zusammenleben könnten, war noch nicht gestorben.“
Sancta Algeria … Ein Wunsch, ein Traum … etwas, das nicht existiert, es keine reinen Algerier noch ein reines Algerien gibt. Auch nicht mit Gewalt, auch wenn es dazu natürlich nationalistische und rassistische Bestrebungen (Menschen eben, besonders die FLN) gab.
Wer hat tatsächlich Platz in diesem Land? Ist es legitim, sich als Algerier*in bezeichnen zu dürfen, wenn man den französischen und algerischen Pass besitzt? Die Autorin versucht es zu ergründen, und nimmt uns mit ihrer Familie mit auf diese Reise. Wie alles zusammenhängt, und zu welchen Schlüssen die Autorin kommt – bitte selber lesen. Es sind sehr kluge Gedanken!
Spannend und sehr interessant, wunderbar übersetzt , gebe ich gerne für diesen Roman eine Leseempfehlung , denn der Blick über den eigenen Tellerrand lohnt hier einmal mehr.

Bewertung vom 28.05.2025
Rosenblum, Emma

Very Bad Company


ausgezeichnet

Unterhaltsam und amüsant. Ganz feines Lesevergnügen!

John Shiller ist CEO seines IT-Tech StartUps Aurora. Die Zahlen sind mehr als vielversprechend. Innerhalb weniger Jahre hat er seine Firma zu einem großen Namen in der Branche gemacht, beinahe eine Milliarde Dollar wert. Es gibt Interessenten, und somit einen gewaltigen Geldfluss für die Führungsriege - allesamt Chief...dies und Chief...das; mit John zehn Personen, die sich auf Reichtum freuen können.
Doch zuvor müssen sich die neun Untergebenen noch auf ein Retreat im luxuriösen Miami einlassen. Zur Förderung des Betriebsklimas - gemeinsame Essen, Partys und natürlich dürfen die viel gepriesenen Sportveranstaltungen zur Teamstärkung nicht fehlen. Mitten im Hochsommer im brütend heißen Florida. Denn der CEO will es so, und seine personelle Assistentin, die alles für ihn tun würde, blüht darin richtig auf, den reichen Angestellten den eng gepackten Tagesablauf zu präsentieren.
Und wie es mit so einem Häuflein Menschen nun mal ist; die einen können miteinander, die anderen weniger. Heimliches Bettgehüpfe auf der einen Seite, Intrigen und Bosheiten auf der anderen. Und als dann noch eine Mitarbeiterin verschwindet und später tot aufgefunden wird, geht das interne Getuschel um Posten und Firmenanteile so richtig los. Jede*r weiß was, jede*r hat ein besonderes Geheimnis. Spannend und amüsant!
Die elf handelnden Personen werden vor uns abwechselnd in den Kapiteln aufgeblättert. Das Charaktersetting ist sehr genial – privates und berufliches wird nach und nach preis gegeben, genau so wie deren Schwächen und Stärken. Im Laufe der 360 Seiten glaubt man Jede und Jeden gut zu kennen. Das besondere daran: es bilden sich dabei keine Sympathieträger oder Antipathiepersonen heraus. Es gibt niemanden, den man während des Lesens vergöttert oder hinter den Mond schießen möchte. Es haltet sich in Summe alles die Waage. Peu à peu wird man an die genaueren Umstände des Todesfalles herangeführt, mit all den kleinen Intrigen.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen klug aufgebauten und sehr unterhaltsamen Roman aus der High-Society-Tech-Szene.

Bewertung vom 25.05.2025
Hartwig, Mela

Der verlorene Traum


ausgezeichnet

Literarisch sehr gediegener Roman über die Sehnsüchte einer (unterdrückten) Frau

Mela Hartwig (1893-1967) verfasste diesen bislang unveröffentlichten Roman in den Jahren 1943/44 in London, nachdem sie 1938 mit ihrem Ehemann vor den Nazis aus Graz floh.

Frau Dr. Barbara Brenner lebt eine ruhige, unspektakuläre Ehe. Ihr Mann ist ein angesagter Bakteriologe, und sie arbeitet bei ihm im Labor mit. Der Alltag ist geprägt von einer wiederkehrenden Monotonie, alles hatte seinen festen Platz, die zeitlichen Tagesabläufe scheinen in Stein gemeißelt. Sie ordnet sich ihrem Mann (zu dessen Wohl und Ego) unter, sei es beruflich wie auch auf der emotionalen Ebene.
Während eines Theaterbesuches entdeckt Barbara einen jungen Mann, einen Schönling, ein wahrer Adonis, der sie derart verzückt, dass ihr geordnetes (und zugegebener Maßen auch langweiliges) Leben gehörig ins Wanken gerät. Sie ist fortan besessen von dem Antlitz und setzt alles daran, die Bekanntschaft mit jenem Herren zu machen. Ihre Ehe gerät ins Trudeln, als sie äußert, ihre private Zeit auch gerne mal selbst zu bestimmen. Sie verstrickt und verheddert sich allmählich in ihrer Gefühlswelt. Ihr Mann, der zuerst so etwas wie Verständnis heuchelt, wendet sich mehr und mehr ab, spielt aber dennoch bis zu einem gewissen Punkt das Spiel mit und entpuppt sich stets als Spielleiter, schürt in Barbara große Gewissensbisse und setzt ihre Verzweiflung taktisch ein.
Selbstbestimmung der Frau versus gelebtes Patriarchat, das in der Gesellschaft etabliert ist. Zeitweise erscheinen die Zeilen wie ein Fiebertraum, in dem sich Barbara befindet. Traumwelten vermischen sich mit der Realität, drehen sich herum. Verzückung und Sehnsucht nehmen eine berauschende Fahrt auf, und prallen dann mit voller Wucht auf die Felsen der Realität.

S. 23: „Warum haderst du mit deinem Mann, warum haderst du mit deiner Arbeit? Hadere mit deinem eigenen Herzen, das sich an ein Traumbild gehängt hat, das sich an ein Traumbild verschenkt hat, das alles, was deine Wirklichkeit ausmacht, zunichtemachen will, damit du diesem Traumbild Einlass in die Wirklichkeit gewährst. Hadere mit deinem ganzen Herzen, das dich so übel berät.“
Schon früh im Roman drängen sich ihr die eigenen Zweifel auf und werden zu einem opus moderandi. Und schnell kommt dann auch die Frage auf: darf eine Frau fühlen und ein selbstbestimmtes Leben überhaupt führen? Oder ist sie auf Gedeih und Verderb dem Mann ausgeliefert, der es durchaus versteht, zu manipulieren? Enden feministische Wünsche im uferlosen Meer der Unterdrückung?
Sprachlich ist dieser Roman eine Wucht – die meist langen Sätzen versprühen eine gewisse Atem- und Ausweglosigkeit der Protagonistin. Ich bin versucht, Parallelen zu Thomas Mann zu suchen, vor allem fällt mir dazu sein Werk „Tod in Venedig“ ein, wo ich ein paar Ähnlichkeiten, literarisch wie auch inhaltlich (angelehnt und im übertragenen Sinne) sehe. Auch sind Ähnlichkeiten im Grundmuster durchaus auch bei Gustave Flauberts „Madame Bovary“ zu finden.

Ganz große Leseempfehlung für diese wunderbaren Roman, den ich ohne zu zögern als „Literarisch wertvoll“ einstufe.

Bewertung vom 22.05.2025
Kobr, Michael

Schatten über Sømarken / Lennart Ipsen Bd.3


gut

Feine Sommerlektüre, aber relativ unspektakulärer Bornholmkrimi

Das ist der dritte Fall für Lennart Ipsen, dem sympathischen Insel-Kripo-Chef von Bornholm. Es ist Sommer auf der Insel, die Luft heiß und schwer, und Ipsen hat Urlaub. Und just da passiert ein Mord, noch dazu im Restaurant seiner Freundin, der Sterneköchin Maren. Klar, dass er da sofort ermitteln will, um jeden Verdacht von Maren fernzuhalten. Denn Gift und Küche kommen nicht so gut an. Nebenbei ist das Opfer Marens Ex, ein Unsympath wie er im Buche steht. Seine Kochshows waren legendär, seine verbalen Entgleisungen ebenfalls (erinnert mich jetzt schon sehr stark an einen gewissen DSDS-Moderator).
Allerdings darf Lennart nicht ermitteln, er habe ja Urlaub, außerdem sei er befangen. Er wird von seiner Mitarbeiterin Britta „ruhig“ gestellt, bekommt null Infos (die er sich dann bei seinem pensionierten Vorgänger Morten holen kann, denn da fließt der Informationsfluss ungehemmt).
Er ermittelt natürlich auf eigene Faust …
Die ersten beiden Fälle haben mir echt gut gefallen. Das Inselflair wurde super eingefangen – davon ist in diesem Band nicht viel bis gar nichts zu spüren. Auch die Ermittlungen laufen sehr schleppend dahin (und als erfahrener Krimileser würde man da vieles anders angehen), nebenbei ist einiges vorhersehbar.
Dominierend ist das Geplänkel zwischen Britta und Lennart, sein „Ruhigstellen“. Auch mit seiner Freundin Maren gibt es mehr Disharmonien als gepflegte Partnerschaft. Insgesamt werden die beiden Hauptprotagonistinnen diesmal sehr launenhaft dargestellt. Auch Lennarts Eifersucht kommt da nicht gerade hilfreich daher und macht einiges unglaubwürdig.
Wie auch immer, ab der Hälfte nehmen die ermittlungstechnischen Handlungen etwas mehr an Fahrt auf, die Spannung steigt zum Glück noch bis zum Showdown, der sich dann ziemlich plötzlich und kurz einstellt.
Irgendwie wirkt der Roman, der sicherlich auch seine Stärken hat, wie ein leises Geplätscher. Ich vermisse leider den wogenden Sturm und die knallharte Brandung.

Ich betitele den Krimi mal als leichte Sommerlektüre mit kriminalistischem Hintergrund und diversen Zwischenmenschlichkeiten.

Bewertung vom 18.05.2025
Rost, Martin

Der unsterbliche Zando


sehr gut

Was tun, wenn der Vater eine Brauerei besitzt? Nette Unterhaltung.

Der dreiundzwanzigjährige Fritz Fello hat so seine Pläne und Vorstellungen vom Leben. Glaubt er zumindest. In Wahrheit hangelt er sich von einer Nacht zur anderen – als Nachtwärter, um den restlichen Tag mehr oder weniger zu verschlafen. Da kann auch Toni nicht viel daran ändern, die, von Australien zurückgekehrt, einfach in sein Minikellerappartement einzieht und das nächtlich leerstehende Bett benützt. Bezeichnend ist die Aussicht aus dem kleinen Fenster auf vorbeitrippelnde Beine, meist Kinderfüße.
Dabei hätte es auch anders laufen können. Aber man muss Fritz verstehen. Er könnte die Brauerei seines Vaters übernehmen. Ein Vater, der ihn geduldig bei sich wohnen ließ (welch erhabene Leistung), nachdem seine Mutter auf und davon ist.
Die Geschichte geht in der Chronologie mal zurück, mal spielt sie in die Gegenwart. Fritz arbeitete in der Brauerei, hatte so etwas wie einen Hilfsjob, und sollte wohl irgendwann das Geschäft übernehmen, welches vor mehr als 50 Jahren von seinem Großvater gegründet und aufgebaut wurde. Insgesamt scheint sein Großvater die eigentliche Vaterfigur zu sein, während sein Vater nur ein Firmenboss und selbstdarstellender wohlwollender Gönner ist. Er meint, es sei für Fritz nun Zeit, etwas aus seinem Leben zu machen und BWL oder etwas in der Art zu studieren. Und wirft ihn quasi, Fritz dabei nicht ganz unverschuldet, raus.
Es taucht Maik Zando auf. Eine kryptische Gestalt, dem Geld hinterherrennend wie der Teufel den Seelen. Er habe da was – ganz was tolles, dazu müssen sie aber beide nach Australien fliegen. Nicht ganz greifbar, aber Fritz willigt ein, denn vielleicht kann er ja dann, Maik deutet da was an, seinem Vater eins auswischen. Und dann noch diese mysteriöse Mappe, die Maik immer herumträgt, aus der das Geld bündelweise herauslugt.
Die Geschichte geht hin und her, vermischt sich mit nebulösen Traumsequenzen und lässt Wirklichkeit und Gespinste miteinander vermischen. Einige Bekannte von Fritz und seinem Vater tauchen auf, und stiften nur noch mehr Verwirrung. Und die Brauerei läuft anscheinend auch nicht mehr so dolle …
Wie dann alles ausgeht, oder miteinander zusammenhängt, oder nicht gar ein Plan dahinter steckt, muss jeder für sich selber rausfinden.
Sprachlich ist der Roman sehr locker aus der Ich-Perspektive von Fritz geschrieben, die Dialoge dem Alter der Protagonist*innen gut angepasst. Ein Spannungsbogen, von dem man nicht weiß, wohin er führen wird, zieht sich durch das Buch und lässt die Geschichte Seite für Seite dahinschmelzen. Bis zum Ende – das ich für mich persönlich mit einem großen Fragezeichen abgeschlossen habe. Und dennoch bietet der Roman ein Karussell über existenzielle Fragen wie dem Zurechtfinden in einer vorgezeichneten Gesellschaft, gerade für junge Menschen.

Bewertung vom 10.05.2025
Domingo, Ennatu

Der Geruch von verbranntem Eukalyptus


ausgezeichnet

Äthiopien pur und eine intensive Auseinandersetzung über die eigenen Wurzeln und Identität

Die Autorin erzählt uns in dieser autobiografischen Geschichte viel über ihr Geburtsland Äthiopien.
Sie war sieben Jahre alt, als ihre Mutter sie und ihren dreijährigen Bruder mit allerletzten Kräften in die Mutter-Theresa-Station schleppte. Ihre Mutter verstarb ein paar Tage später, ausgezehrt von Aids. Ihr kleiner Bruder, dem das Virus mit der Zeugung in die Wiege gelegt wurde, folgte ihr keine drei Wochen später.
Ennatu hatte Glück, denn sehr bald fanden sich Adoptiveltern aus Barcelona. Und ein neues Leben jenseits der bislang gewohnten bitteren Armut und fern von Kinderarbeit konnte beginnen. Ihre Eltern waren so umsichtig und ließen die Autorin nie ihre Wurzeln vergessen. Ganz im Gegenteil, sie förderten es sehr und reisten drei Jahre später mit ihr nach Äthiopien, zurück in den Norden des Landes, in dem sie aufwuchs.
Es war ein hartes Leben, im Grenzgebiet von Sudan und Eritrea. Der gelebte Wahnsinn namens Krieg und bewaffnete Scharmützel standen an der Tagesordnung, die Leidtragenden waren immer die Ärmsten der Bevölkerung.
Die autobiografische Erzählung ist eigentlich nur ein Aufhänger, eine Rahmenhandlung, die sehr intensive Einblicke in das karge Leben auf dem Land vermitteln. Das Buch ist ein Manifest für die Identitätsfindung, das Besinnen der Wurzeln von denen man kommt und zugleich ein politischer Führer durch das Land.
Was ist Identität? Wie stellt sie sich dar? Oder wie kann sie sich darstellen, wenn man als junge Erwachsene aus zwei Welten kommt? Auch wenn es keine frühkindlichen Erinnerungen gibt, ab einem gewissen Alter vergisst man nichts mehr. So konnte Ennatu noch sehr viel von ihrer kleinen Familie und dem Leben in jenen Landstrichen berichten, sich darauf besinnen, ja sogar die Kontakte zu suchen um sich bewusst zu machen, wo sie ihre Wurzeln hat. Und wo man auf der anderen Seite (durch viel Glück) ein Zuhause bekommen hat. Wieviel Adoptivkinder haben schon die Möglichkeit, ihre Vergangenheit lebendig zu gestalten, und auch ihre Muttersprache als Teil ihrer wahren Identität zu behalten und zu pflegen.

S. 14: „Und wie schwierig es war, eine Karte zu finden, auf der die Ortsnamen Dansha und Humera vorkamen! Sie schienen nicht zu existieren, doch ich beharrte darauf, dass ich in diesen Städten gelebt hätte. Nie war mir so klar gewesen, wer ich war und woher ich kam.“ [Anm: Dies geschah 2003, im Zuge der Adoption der Siebenjährigen.]

Der Titel – „Der Geruch von verbranntem Eukalyptus“ ist eine der frühesten Erinnerungen aus der Kindheit. Denn diese Hölzer aus den riesigen Plantagen wurden auch zum Feuermachen verwendet.

Was die Autorin, geb. 1996, in ihrem kurzen Leben nicht nur erlebt, sondern auch schon geschaffen hat – bitte selber lesen. Es ist unglaublich informativ, natürlich auch stark politisch gefärbt, und dennoch mit den Lebensberichten unterhaltsam verfasst, sodass es einen richtigen Sog beim Lesen entwickelte. Das Leseerlebnis wäre natürlich nichts ohne eine sehr gute Übersetzung von Michael Ebmeyer

Das Buch habe ich sehr gerne gelesen. Es macht nachdenklich und eröffnet weite Blicke über den eigenen Tellerrand in einen Staat, den wir nur von den meist negativen Schlagzeilen her kennen. Ganz große Leseempfehlung !

Bewertung vom 08.05.2025
Strausfeld, Michi

Die Kaiserin von Galapagos


ausgezeichnet

Eine schier wunderbar erschlagende Fülle von Informationen über deutschsprachige Helden und Antihelden in Lateinamerika!

Dieses Buch ist ein Sammelsurium, ein wahres Wunderwerk an ausgewählten deutschsprachigen Menschen (DE, A CH), die sich seit 1492 in Mittel- und Südamerika einen Namen gemacht haben. Im Guten wie im Schlechten. Man wird dabei beinahe schwindlig von der Fülle an Informationen, die die Autorin in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen hat.
Das Glossar zählt ca. 620 Personen, die auf den 236 Seiten erwähnt werden.

Zunächst war Lateinamerika fest in der Hand der spanischen Kolonialmächte. Schon kurze Zeit nach Kolumbus verfügten die Konquistadoren ein gut ausgebautes Netz, um ja niemanden von der restlichen Welt an den immensen Schätzen der Neuen Welt teilhaben zu lassen. Dass dabei die indigene Bevölkerung ausgebeutet, gemordet, verschleppt und versklavt wurde, sollte hinreichend bekannt sein und diesen praktizieren Wahnsinn nur unterstreichen.
Mit der Zeit wurden die Einreise- und Handelsbestimmungen etwas gelockert, und viele Abenteurer, Künstler und Forscher bereisten den Kontinent – und natürlich zog es auch jene Menschen an, die nur schnelles Geld wollten, oder einfach auf der Flucht waren – vor allem die jüdische Bevölkerung Europas. Und dann gab es noch die Nazis, die ebenfalls meinten, Lateinamerika unterjochen zu können, was ihnen in Teilen sogar gelang. Sie dachten, sie könnten sich schon vor dem Krieg mit Paraguay eine faschistische Enklave sichern, was auch gebietsweise gelang.

Geprägt wurde der ganze Kontinent von Unterdrückung und Ausbeutung, mehr oder weniger bis heute hinein. Reich an Bodenschätzen, sind es heute China und Russland, die sich holen was zu holen ist, denn Europa hat den Kontinent anscheinend wirtschaftlich vergessen.
Und kaum waren die einzelnen Staaten unabhängig, gab es auch schon die ersten Revolten, Bürgerkriege und Diktaturen.
In den ersten drei Jahrhunderten nach der Entdeckung zog es vor allem, neben den zerstörerischen Spaniern und Portugiesen, Historiker und Naturforscher auf den unbekannten Kontinent. Und auch hier fand im Prinzip nur eine Ausbeutung der Kulturen statt.
Hunderttausende von Artefakten, den Indigenen entrissen oder aus Gräbern geraubt, tummeln und verstauben nun in europäischen Museen. Ein unermesslicher Reichtum – dazu noch das ganze Gold, das den Kontinent verlassen hatte.
Es gibt natürlich auch sehr viele wohlgesonnene Forscher. Allen voran ist natürlich Alexander von Humboldt zu nennen, der in Lateinamerika fast wie ein Heiliger verehrt wurde und noch immer wird. Oder Moritz Rugendas, ein Augsburger Künstler, über dessen Leben auch @mariegatestallforth in ihrem wunderbaren Buch „Mirador“ erzählt. Auch Prinzessin Therese von Bayern (1850-1925) hinterließ wohlwollende Spuren auf dem Kontinent. Eine weitere Frau, Maria Sibylla Merian (1647-1717) machte sich sogar schon vor Humboldt mit ihren Pflanzen- und Insektenstudien einen Namen.
Die titelgebende Geschichte der Kaiserin von Galapagos ist keineswegs eine Metapher, sondern die gab es wirklich. Eine nicht gerade rühmliche Geschichte, denn auf einer paradiesischen, abgelegenen Insel war es nicht mal einem Aussteigerpaar vergönnt, alleine in Ruhe und Frieden zu leben. Für den Horror bedurfte es nur zwei weiterer Personen. Geschehen 1929-1934, mittlerweile in Büchern, Dokus, Theaterstücken und sogar Verfilmungen (neueste: Eden) ausgiebig erzählt.
Neben all den vielen deutschsprachigen Personen, um die es in diesem Buch geht (mit dabei natürlich auch sehr viele namhafte Schriftsteller), ist der Band aber auch nebenbei eine akribische Auflistung des geschichtlichen Zeitrahmens und der politischen Entwicklung der einzelnen Länder. Dabei wird auch nicht mit Gesellschaftskritik gespart, denn aus all den Fehlern und Gräuel, die gemacht wurden, scheint die Welt nicht viel gelernt zu haben.

Von mir gibt es eine ganz große Leseempfehlung für dieses Werk mit seinem geballten Wissen. Riesenrespekt vor der Arbeit, die dahinter steckt!