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Top-Rezensenten Übersicht

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Andrea Potzler
Wohnort: 
Salching

Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 30.03.2020
Kinderland
Mawil

Kinderland


ausgezeichnet

Eine Kindheit in Ostdeutschland im Sommer 1989. Mirco ist in der siebten Klasse, ein vorbildlicher Schüler und sicher nicht der Beliebteste. Heimlich geht er in die Kirche- von Mutter angeleitet- zum Klavierunterricht und macht hübsch seine Hausaufgaben. Ziemlichen Trubel in sein Leben bringt der Neue aus der Parallelklasse, der sich wenig um geltende Regeln schert und mit Mirco letztlich das Tischtennis an der Schule ganz groß rausbringen wird.

Welch herrliche Charaktere sind hier vereint: der vielschichtige Streber, die coolen Angeber, echte Freunde, Lehrer mit Ecken und Kanten und tolle Mädels. Hier sind sie alle verdichtet und immer mit einem Augenzwinkern vereint, gerade da, wo sie eben nicht perfekt sind.

Wunderbar kommen sie durch mawils frechen Stil raus, die Blicke sagen unglaublich viel, haben („BLAM!“ und „HUUP“) große Comicdynamik und die Farben sind so gedeckt gehalten, wie ich es mir von der DDR vorstelle. So wird alles zu einer echt stimmigen Leseerfahrung.

Eine Jugend ganz kurz vor dem Mauerfall ist mir hier sehr plastisch geworden- das Alltägliche, das für uns jetzt das Besondere ist. Wunderbare Unterhaltung!

potzblog.de

Bewertung vom 25.03.2020
Das Licht das Schatten leert
Brenneisen, Tina

Das Licht das Schatten leert


ausgezeichnet

Tini hat ihren Sohn verloren. Eben schien noch alles gut und dann erfährt sie, dass sie ihn tot zur Welt wird bringen müssen. Auf einmal ist alles anders. Die Vorfreude auf Lasse verwandelt sich in grenzenlose Trauer, das ganze Leben bricht auf einmal zusammen. An Tinis Seite ist ihr Mann, Fritzemann genannt. Er stützt und leidet mit. Aber nicht alle sind so verständnisvoll- Eltern und Schwester machen alles nur noch schlimmer mit Vorwürfen, Unverständnis und Desinteresse. So entrollt sich die Geschichte Tinis von der Geburt über die Zeit danach zu ein klein wenig Zurückfinden ins Leben.

In Tina Brenneisens autobiographischer Graphic Novel verarbeitet die Comiczeichnerin und Karikaturistin den Verlust ihres Sohnes in großer Offenheit. Ihre Figuren zeichnet sie mit feinem Strich, ein wenig zerrissen, nicht beschönigend und rund. Da ist einfach vor allem Schmerz und ein langer Verarbeitungsprozess. Genau das setzt sie zeichnerisch und in Worten treffend um. Blutrot und verzweifelt ist mancher Traum und dementsprechend manches Bild.

Fasziniert hat mich mich die Offenheit der Autorin: weder sie selbst noch die Familie oder die Ärztin werden hier geschont. Man kann sehr mitfühlen, mitweinen, aber sich manchmal auch ein wenig über den Humor freuen und schmunzeln bei diesem wundervollen Buch.

Am Rande: Besonders gefallen hat mir die Leuchtschrift vorne auf dem Einband, die eben ein wenig Licht neben meinem Bett in der Nacht gemacht hat.

potzblog.de

Bewertung vom 20.03.2020
Der Geschmack von Chlor
Vivès, Bastien

Der Geschmack von Chlor


ausgezeichnet

Okay, zugegeben, Wasser ist schon sehr lange meine Leidenschaft. Bahnen schwimmen, dahingleiten und genießen. Bastian Vivès hat dieses Gefühl unglaublich gut in seiner Graphic Novel eingefangen. Er kommt mit farblich beschränkten, auch sonst reduzierten Zeichnungen und mit sehr wenigen Worten aus und genau das macht den Reiz des kleinen Buchs aus.

Die Geschichte ist sehr schnell erzählt: Ein junger Mann geht auf Geheiß seines Physiotherapeuten regelmäßig zum Schwimmen und lernt dort eine attraktive und gute andere Schwimmerin kennen, die ihm den Sport näherbringt.

Nun ist all das freilich im Grunde nicht sensationell und man denkt sich, so eine Geschichte trägt doch nicht. Aber das stimmt so nicht- hier wird unglaublich viel Stimmung transportiert. Die Art, wie das Wasser dargestellt ist, die Ruhe und Gleichmäßigkeit des Schwimmens werden ausgezeichnet vermittelt. Sofort kam in mir eine Sehnsucht nach dem Schwimmen auf und das ist auch bei der dritten Lektüre der Graphic Novel nicht abgeflacht. Für Wasserfreunde eine Riesenempfehlung!

Potzblog.de

Bewertung vom 19.03.2020
Heartstopper Volume 01
Oseman, Alice

Heartstopper Volume 01


sehr gut

Nick und Charlie sind ganz normale Teenager. Sie lernen sich in der Schule kennen, machen Sport, haben Freunde, Charlie macht Musik und ist ein bisschen ein Nerd. Er ist ein filigraner, eher nervöser Typ, Nick der breitschultrige Rugbystar – ein Sunnyboy. Die beiden werden Freunde. Charlie, der sich als schwul geoutet hat, gesteht sich bald ein, dass er mehr für Nick empfindet. Diesen Gefühlen mag er aber nicht recht nachgeben, schließlich gilt Nick als hetero. Doch im Laufe des ersten Bandes der bis dato erschienen Reihe „Heartstopper“ wird klar, dass sich auch Nick in Charlie verliebt, so dass es zu einer langsamen Annäherung der beiden kommt.

Nun habe ich nur bedingt Einblick, wie es ist, heute eine LGBT Teenager zu sein. Doch eines scheint mir klar: Wenn Osemans Bücher die Gesellschaft halbwegs realistisch abbilden, so hat sich viel getan. Da gibt es verständnisvolle Mütter und Mitschüler, Lehrer, die auf der Seite der Schüler stehen und somit insgesamt ein viel größeres Stück Normalität für die, die nicht heterosexuell sind. Trotzdem ist bei Oseman lange nicht alles nur eitel Sonnenschein. Im dritten Band wird klar, dass Charlie ein Essproblem hat, es gibt andere Teenager, die sich den beiden gegenüber verächtlich verhalten, Nicks Vater scheint sich kaum um seinen Sohn zu kümmern.

In kürzester Zeit hab ich die drei Bände der 1994 geborenen Alice Oseman durchgelesen. Die Geschichte ist flüssig erzählt, in einfachen, klaren Schwarz-Weiß-Bildern. Die Rahmen werden gesprengt, Dialoge teils ganz ausgelagert, was eine frische Optik bedeute.

Natürlich haben die Comics nicht ganz so viel Tiefgang wie andere Graphic Novels. Hier wird nicht im letzten Detail reflektiert, die Bücher sind vor allem handlungsgetrieben, die Handlung ist nicht schwer und konfliktreich. Aber die Geschichte ist spannend und ich fühlte mit den Helden mit. Da ist soviel Normalität und echte Zuneigung und Freude am Anderen, dass die Bücher für mich eine wunderbare Ablenkung dargestellt haben. Ich bin gespannt, wie es weitergeht!

Der Comic begann im Netz 2016 und Oseman wirkt in ihren Kommentaren selbst überrascht vom Erfolg des Werks. Soweit ich informiert bin, sind die Bücher nicht auf deutsch erschienen, ich denke aber, dass sich das bald ändern wird. Auf Französisch liegt der erste Band jedenfalls schon vor.

Bewertung vom 21.02.2020
Das Ende ist erst der Anfang
Baker, Chandler

Das Ende ist erst der Anfang


ausgezeichnet

Was für eine Wahl: Wenn man einen retten könnte, den Freund, die beste Freundin oder den Bruder, wer wäre es? Vor diese Wahl sieht sich die fast achtzehnjährige Lake gestellt. Der Bruder ist querschnittsgelähmt, die Freunde sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie kann aber einem von ihnen neues Leben einhauchen zu ihrem achtzehnten Geburtstag- Wissenschaft und das Gesetz erlauben das in diesem erstaunlichen Roman.

Natürlich ist eine solche Entscheidung unglaublich schwierig: Druck bekommt Lake von verschiedenen Seiten: vor allem Eltern tun sehr viel für das Weiterleben der eigenen Kinder. Wer Gott spielen kann, der hat eben auch viel Verantwortung – eine Verantwortung, die für Lake zur Qual wird.

In diesem Buch geht es auch darum, was der Einzelne für sich gerne möchte, wie sehr sich auch Lake von den eigenen Eltern und denen der Freunde beeinflussen lassen mag und mit welcher Entscheidung sie selbst am besten leben kann.

Ich habe das fast vierhundert Seiten lange Buch in knapp zwei Tagen ausgelesen. Es treibt in kurzen Kapiteln, die teils Rückblicke auf das Leben vor dem Autounfall sind, die Handlung voran und ich wollte natürlich wissen, wie sich Lake entscheidet.

Aber noch viel interessanter ist letztlich die Frage, der man gar nicht aus kann: Wie würde ich mich selbst entscheiden? Würde ich jemanden wieder zum Leben erwecken und wenn ja, wen? Was machen solche Möglichkeiten aus einer Gesellschaft und dem Einzelnen? Um all das gut zu beleuchten, führt die Autorin auch andere Figuren ein: Wiederbelebte und solche, die andere wiederbelebt haben. Auch Todesparties gibt es, wo sich Leute das Leben nehmen, um dann die Wiederauferstehung feiern zu können.

Wieder mal ein spannendes, gut geschriebenes Buch aus dem „All Age“ Bereich, das existentielle Fragen anpackt und seine Leser nicht schont.
potzblog.de

Bewertung vom 16.02.2020
Multitalent Gouache
Blau, Aljoscha

Multitalent Gouache


ausgezeichnet

Gouache ist eine Farbe, die Aljoscha Blau auch als Schwester der Aquarellfarbe bezeichnet. Im Gegensatz zu Aquarell ist sie kreidig- matt und deckend, so dass das Papier nicht durchscheint. Wobei- bei starker Verdünnung kann Gouache auch das.
Blau ist einer der großen Illustratoren Deutschlands, der besonders gern mit Gouache arbeitet und das auch besonders gut kann. Leider wird die Technik meist eher stiefmütterlich behandelt, man findet nicht leicht Tipps und Tricks, wie sie zu verwenden ist und weit seltener Workshops als zu Aquarell oder Acryl. Daher habe ich auf dieses Buch wirklich lange gewartet und bin begeistert, dass es jetzt auf meinem Schreibtisch liegt.
Blau verwendet sehr viele eigene Illustrationen und zeigt häufig Schritt für Schritt, wie er die Farbe aufträgt. So lernen wir, wie man Tiere auf dem Papier lebendig erscheinen lassen kann, wie man Stoffe malt, wie man mit Federn und Pinseln Stimmung erzeugen kann. Auch Experimente mit Pastell und Buntstiften zeigt uns der Illustrator. Er trägt auf, wäscht aus und zeigt spannende Farbeffekte und -verläufe. Es gibt auch ein wenig Hintergrund zu Farbtheorie, zur Entwicklung der Farbe und der Geschichte ihrer Anwendung. Hilfreich ist auch zu erfahren, wie sich die verschiedenen Marken voeinander unterscheiden.
Wer einer flexiblen und weitgehend unkomplizierten Technik, die sich auch sehr gut für die momentan so beliebten Skizzenbücher eignet, eine Chance geben will, findet hier einen tollen Einstieg.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.02.2020
Blast 1 - Masse
Larcenet, Manu

Blast 1 - Masse


ausgezeichnet

Nein, so sehen keine Helden aus, in die man sich eben so verliebt. Polza Manzini, die viel zu schwere Hauptfigur der Graphic Novel stößt einen ab. Immer mehr verwahrlost er, gibt sich dem Alkohol hin, lebt in den Wäldern und wird wegen Mordes verhört. Er ist auf der Suche nach dem “Blast“, einer Art Schwebezustand, die ihn von seinem täglichen Dahinwesen erlöst. Er ekelt sich vor sich selbst und will seinem immer mehr stinkenden, dicken Körper entrinnen. Und zwischendrin bringt er tiefgründige, geschliffene Sätze.

Manzini hat auch etwas sehr Rührendes, etwas kindlich Verletztes- gerade wenn seine großen Augen traurig aus den Bildern schauen. So ist man stets im Zwiespalt, was man von dieser Hauptfigur halten soll. Ist er doch nur ein Verzweifelter, Suchender auf der Flucht? Hat er etwas verbrochen oder läuft er nur seiner glücklosen, eher ärmlichen Vergangenheit und dem kürzlich verstorbenen Vater davon?

Dazu gibt es natürlich im ersten Band der auf vier Bände angelegten Geschichte noch keine Lösung. Wir finden uns vielmehr in die Situation Manzinis ein- wie er im Wald auf eine Gruppe ebenfalls am Rande der Gesellschaft Lebender trifft, die ihn prompt zu sich aufnehmen würde. Und wie er von Jugendlichen mit Steinen beworfen wird, einfach so, weil er ihnen ausreichend hilflos erscheint. Gut kann man sich durch die Geschehnisse und Bilder vorstellen, wie es einem gehen mag, der sich so ins Abseits gebracht hat.

Die Graphic Novel ist fast ausschließlich in schwarz-weißer Tinte gezeichnet, nur ganz kurz leuchten Kinderzeichnungen im Hintergrund zweier Bilder auf. Larcenet zeichnet locker, gekonnt, ausdrucksstark. Er hält die Bilder relativ schlicht, Traurigkeit und Einsamkeit finden so eine gute zeichnerische Entsprechung. Oft braucht es auch keine Worte, die Bilder sagen genug.

Ich bin sehr gespannt, wie es weitergehen wird, welche Charakterzüge der vielschichtigen Figur Manzinis besonders hervortreten werden.

Der Autor war übrigens ein Tipp einer älteren Dame in der Regensburger Stadtbücherei. Das hat mich besonders gefreut, weil ich oft den Eindruck habe, dass sich ältere Leser nicht recht mit den meist für minderwertig empfundenen „Comics“ auseinandersetzen wollen. Ein Fehler- in dieser ganz eigenen Kunstform gibt es so viel Tiefgründiges zu entdecken! Ein Glück, dass das manche Stadtbüchereien und Buchhandlungen mittlerweile verstanden haben!

Bewertung vom 09.02.2020
Mein Ein und Alles
Tallent, Gabriel

Mein Ein und Alles


sehr gut

Turtle, eine Vierzehnjährige, wächst bei ihrem Vater im Wald auf. Statt mit dem Handy oder Gleichaltrigen zu spielen, reinigt sie Waffen, lernt alles über die sie umgebende Natur und muss es vor allem allein mit ihrem gewalttätigen Vater aushalten nachdem ihre Mutter früh gestorben ist. „So sollte ein Mädchen nicht aufwachsen“, sagt da der hie und da anwesende Großvater, womit er natürlich recht hat. Eben diese Gewalt, die wie in einem Film vor dem Auge des Leser beschrieben wird, macht das Buch für mich oft schwer auszuhalten. Trotzdem ist die Faszination für dieses unglaublich starke Mädchen so groß, dass ich den Roman nicht zur Seite legen konnte. Ich hab wirklich durchgehechelt, zum Teil quergelesen: Was passiert jetzt?

Faszinierend ist die Abhängigkeit Turtles von ihrem Vater Martin, der ihr immer wieder sagt, dass sie ihm gehört. Er liebt sie, was er auch immer wieder sagt und wirkt manchmal wie ein lebenskluger Vater, dann aber wieder unglaublich brutal. Diese beiden Pole machen es Turtle schier unmöglich, sich von ihm zu distanzieren- gedanklich als auch tatsächlich indem sie weggeht. Auch wenn ihr im Verlauf der Geschichte immer klarer wird, dass sie genau das wird tun müssen, um zu überleben.

Turtle spricht immer wieder selbst als „Fotze“ von sich, treibt sich an, scheint ausschließlich als die Version der hasserfüllten Worten des Vaters zu bestehen. Als ein gleichaltriger Junge, Jacob, in ihr Leben tritt, wird der Vater hellhörig, droht noch mehr und fürchtet um den Verlust der einzigen und Turtle wird klar, dass sie einen Weg finden muss, ihm zu entkommen.

Nun kenne ich mich nicht gut mit Missbrauch aus, habe aber den Verdacht, dass Tallent sehr gut die Mechanismen von Abhängigkeit, teils Scham, von Liebe und Hass in solchen Beziehungen gerade zwischen Kindern und ihren Eltern verstanden hat und sehr plastisch beschreibt.

Ich vermute, dass man dieses Buch entweder gebannt verschlingt oder nicht ertragen kann. Ich hätte mir manchmal etwas weniger Handlung und etwas mehr Reflexion, ein paar eingewobene Gedanken mehr gewünscht. Also etwas weniger Film und etwas mehr Buch. Aber wer weiß- womöglich hätte das das Buch zu sehr verlangsamt. Trotzdem wird mir die Geschichte von Turtle sicher noch lange lebendig in Erinnerung bleiben. Ich denke, die Verfilmung wird nicht lange auf sich warten lassen. Ob sie dem Buch interessante, neue Aspekte aber wird hinzufügen können, ist fraglich.

Bewertung vom 09.02.2020
Der Gesang der Fledermäuse
Tokarczuk, Olga

Der Gesang der Fledermäuse


ausgezeichnet

Wir befinden uns in einem Dorf an der tschechisch-polnischen Grenze. Hier lebt Janina Duszejko: eine kauzige ältere Frau, die zuvor als Ingenieurin Brücken gebaut hat. Jetzt lebt sie allein in einem Dorf recht abseits von der Gesellschaft und kümmert sich dort ein wenig um die dortigen Ferienhäuser. Sie verehrt William Blake und übersetzt mit einem ihrer wenigen Freunde seine Gedichte und sie beschäftigt sich mit astrologischen Studien. Als drei Morde in der Gegend, dem sogenannten Glatzer Kessel, passieren, steht die Ich-Erzählerin sofort mit einer Theorie bereit und scheint der Polizei damit immer etwas voraus: Die Tiere rächen sich an den Menschen, weil sie gequält und nicht mit Respekt behandelt wurden.

Das Buch der Nobelpreisträgerin ist so vieles: Krimi, Gesellschaftskritik, Satire. Ich habe es mir als ungekürzter Text von Angelika Thomas als Hörbuch vorlesen lassen. Eine sehr gute Wahl: Thomas gibt Duszejko eine wunderbare Stimme, stellt sie nicht bloß, sondern zeigt ihre Kantigkeit und einen gewissen eigentümlichen Scharfsinn. Auch die Landschaft mit Schnee und Wind, die raue Natur, die dort zu herrschen scheint, ist durch die Lesung besonders lebendig geworden.

Der Roman blieb für mich immer spannend, auch als ich einen Verdacht hatte, wie die Toten ums Leben gekommen waren. Es ist nicht leicht, die Erzählerin einzuordnen. Einerseits fällt es leicht, ihren Gedankengängen zu folgen und ihr zuzustimmen. Unser Umgang mit Tieren ist oft bestialisch, auch Menschen, deren Überzeugungen wir nicht teilen werden schnell ins Abseits gestellt und auch von offizieller Seite nicht ernst genommen. Dann aber wiederum sind da Dinge wie die Astrologie, die vermutlich so mancher Leser als Erklärungsmodell nicht für voll wird nehmen können. Diese Mischung aus rationalen und anderen Überzeugungen macht die Hauptfigur aber gerade so interessant. Sie ist eine unzuverlässige, aber wortgewandte Erzählerin und eine faszinierende Person, die leicht durch den Roman trägt.

Janina Duszejko verkörpert eine Auffassung, die den Tieren ebenso viel Wert beimisst wie den Menschen und ist somit so etwas wie eine immerhin im Roman lebendig gewordene Verfechterin der Theorie des Philosophen Peter Singer.

Sprachlich ist alles klar und knapp gehalten, ein Buch, dem man -anders als vielen Gegenwartsromanen- keine weitere Kürzung wünscht. Sehr wohl aber viele Leser. Ohne den Nobelpreis für Olga Tokarczuk, die übrigens neben Andrej Stasiuk als bekannteste Autorin Polens gilt, wäre ich vermutlich nie darauf gestossen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.01.2020
Kopf in den Wolken
Roca, Paco

Kopf in den Wolken


ausgezeichnet

Emilio, ehemaliger Leiter einer Bankfiliale wird von seinem Sohn ins Heim gebracht- langsam verliert der alte Mann sein Gedächtnis und kann nicht mehr alleine wohnen.

Im Heim gibt es zwei Stockwerke: unten wohnen die, die noch ganz gut klar kommen, oben wohnen Leute, die viel Unterstützung brauchen. Hauptziel der unteren Bewohner ist es, nicht nach oben ziehen zu müssen. Emilio findet schnell Anschluss im Heim, vor allem sein Zimmerkollege wird zu einem festen Begleiter. Die Leute stützen sich gegenseitig in einem Kampf gegen das Vergessen, den sie nicht nur für sich, sondern auch miteinander antreten und unterschiedliche Ausbruchsversuche aus der eigenen Misere antreten. Da werden die Ärzte ausgetrickst oder nochmal eine Spritztour mit dem Cabrio unternommen. Aber letztlich bleibt doch jeder in seinem Körper gefangen.

In einer Sekunde im Altersheim, in der nächsten fünfzig Jahre jünger und im Orientexpress. Die Graphic Novel bietet die Möglichkeit, die Leute von einem Bild zum nächsten ganz in ihrer Vergangenheit leben zu lassen. Das nutzt Roca gekonnt und macht das Buch authentisch und gleichzeitig bunt. Auch wie für Emilio die Welt langsam weniger klar wird und er seinen Freund konturärmer erlebt, stellt Roca plastisch dar. Die Situation im Heim wirkt genau beobachtet, mal mit einem Schmunzeln, mal wird die Traurigkeit der Situation umso herber klar.

So ist das Buch ein wenig fröhlich und ein wenig mehr nachdenklich. Wer sich an das eigene Älterwerden und das Leben im Heim gedanklich herantrauen mag, hat hier eine gute Lektüre.