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Juma

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Insgesamt 194 Bewertungen
Bewertung vom 09.09.2025
Horncastle, Mona

Peggy Guggenheim


ausgezeichnet

Enfant terrible, femme fatale und geniale Kunstmäzenin

Diese Biografie von Mona Horncastle sollten sich Kunstliebhaber und Geschichtsinteressierte auf keinen Fall entgehen lassen. Die Autorin hat nicht nur sehr detailreich das Leben von Peggy Guggenheim recherchiert, es ist auch ein äußerst ansprechendes Buch entstanden, bei dem es Spaß macht, es in die Hand zu nehmen, darin zu blättern und die zahlreichen, sehr emotional und passend ausgewählten Fotos in Ruhe zu betrachten.
Die Reihe beim Molden Verlag heißt ja nicht umsonst „Reihenweise kluge Frauen“, mit Peggy Guggenheim hat sie nun ein Sahnehäubchen erhalten. Das Blau des Einbands, das sich im Inneren bei den Überschriften und Fonts für die Bilder wiederfindet, wird mit einem matten Grün für das Vor- und Nachsatzpapier perfekt eingerahmt. Angenehm ist auch, dass auf den Einsatz von Hochglanzpapier verzichtet wurde, man kann alles lesen und betrachten, ohne dass Spiegelungen ärgern. Der Layouter ist bewusst vom sogenannten Goldenen Schnitt für die Typografie der Seiten abgewichen, damit ermöglicht er dem Leser einen Lesegenuss, der nicht durch das Auseinanderbrechen des Bundes beeinträchtigt wird. Trotzdem hat er ein bisschen Zuviel des Guten getan, der Außensteg ist vergleichsweise schmal, da ragt mein Daumen (ich habe eine wirklich kleine Hand) beim Festhalten schon in den Text hinein. Nichts ist perfekt. Aber die Schriften sind gut gewählt, auch für den Anhang. Beim Stammbaum, der das Kapitel „Herkunft“ einleitet, wurde leider nicht so sehr auf Lesbarkeit geachtet. Der Bundsteg ist hier bis zur Fadenheftung bedruckt, so dass manche Person ein Rätsel bleibt. Die Nummerierung der beiden Ehemänner gibt mir auch Rätsel auf, Max Ernst war meiner Meinung nach der zweite, trägt aber die Nummer 1.
Die Lebensgeschichte der Peggy Guggenheim ist bereits in vielen Büchern, seien es Biografien oder ihre Autobiografie, seien es Romane oder Dokumentarfilme, nicht zu vergessen Wikipedia etc., beschrieben worden. Einiges davon kenne ich, zuletzt war es der Roman „Peggy“ von Rebecca Godfrey, der mich zu weiterem Lesen und Filmschauen animiert hat. Dieses Leben ist wirklich faszinierend, und in jedem Buch, so auch in diesem, finden sich neue Aspekte, unbekannte Details und Ereignisse. Die Autorin schreibt all ihre Erkenntnisse in einem gut lesbaren Stil, sie hat die Kapitel und Unterkapitel so gegliedert, dass diese nicht zu Bleiwüsten ausarten, trotz der Kürze wurde mir manches etwas lang. Mich interessierte besonders der Zeitabschnitt, der die Besetzung Frankreichs und die Rettung von Kunstwerken wie Künstlern durch Peggy Guggenheim thematisiert. Ich hatte darüber bei Uwe Wittstocks „Marseille 1940“ einiges erfahren, wollte das gern vertiefen. Im Prinzip beginnt die Rettungsaktion schon vor dem Krieg, als Peggy Guggenheim es sich zur Lebensaufgabe auserkoren hat, Künstler zu unterstützen, sei es durch Geldspenden oder den Ankauf von Kunstwerken. Sie merkt schnell, dass dieses Vorhaben ein Fass ohne Boden ist, selbst für ihre Verhältnisse. Trotzdem wird sie während der Besetzung Frankreichs nichts unversucht lassen, was den Künstlern und den Kunstwerken das Überleben und die Flucht ins Exil ermöglichen kann.
Das Buch liest sich wie ein Who-Is-Who der modernen Kunst, nicht nur der bildenden, sondern auch der schreibenden. Als femme fatale macht sich Peggy Guggenheim ganz besonders gut, Klatsch und Tratsch haben nie aufgehört, auch nicht nach ihrem Tod. Die Autorin dieser Biografie belässt es bei dezenten Hinweisen, das fand ich angenehm.
Fazit: Ich empfehle diese Biografie gern weiter, sie verführte mich auch mit dem Literaturverzeichnis und dem Personenindex zu weiteren literarischen Nachforschungen.

Bewertung vom 09.09.2025
Schläger, Anke

Lisa Heynrichs: Die Schatten hinter uns (eBook, ePUB)


sehr gut

Auf der schiefen Bahn

Lisa Heynrichs, Hauptkommissarin beim LKA Berlin, weiß genau, wie schwierig es ist, von der schiefen Bahn wieder in glattes Fahrwasser zu kommen. Und wie schwierig es ist, die Erinnerungen an Ereignisse und Menschen wieder loszuwerden, selbst wenn die schiefe Bahn schon längst Geschichte ist. Die Autorin Anke Schläger war bisher nicht für Krimis bekannt, sie hat Unterhaltungsliteratur geschrieben, die ihr immer, zuletzt für „Schwesternzeiten“, gute Lesermeinungen bescherte. Jetzt die Richtungsänderung zum Kriminalroman, wobei auch hier in diesem Buch zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund stehen. Die Titelzeile „Die Schatten hinter uns“ lässt auf Vergangenheitsbewältigung schließen, und schnell wird man beim Lesen in eine Welt gezogen, die zumindest mir völlig unbekannt ist. Bevor Lisa bei der Polizei in Berlin zu arbeiten begann, war sie eine Professionelle in Köln, mit harten Schicksalsschlägen endete dort ihr Sugarbabe-Dasein und sie schaffte es, neu anzufangen. Darüber hinweg ist sie nicht. Das erfährt man auch in diesem Buch.
Ohne zu viel vom Krimi zu verraten, er beginnt mit einem Mord. Der Fernsehmoderator Phil Kerstensen wird in seiner Küche hinterrücks erschossen, das LKA rückt an, die Spurensicherung auch, aber nur langsam kommen neben den sichtbaren Spuren auch Motivmöglichkeiten ins Spiel. Durch eine schnelle Folge von Sprüngen in die Vergangenheit und zurück beginnt der Leser diesen Motivvariationen zu folgen. Was wohl in Krimis nicht fehlen darf, sind die Geplänkel der Polizisten, wie im richtigen Leben mag man eben den einen mehr, den anderen weniger. Lisas gutes Verhältnis zu ihrem Kollegen Meinolf ist glaubhaft und bleibt bis zum Schluss eine wichtige Stütze – nicht nur für Lisa, auch für das Buch.
Die komplizierte Aufklärungsarbeit im Fall Kerstensen überschneidet sich mit den komplizierten privaten Problemen der Protagonisten. Meinolf hat Stress mit der Ehefrau, Lisa hat Meinungsverschiedenheiten mit ihrer besten Freundin Henriette. Alles wie im richtigen Leben! Anke Schläger bringt das alles gut unter einen Hut, ihr Schreibstil ist flott und gut lesbar, außerdem passt das alles gut zu Berlin, wo es doch ein bisschen rauer und schneller zugeht als in der Provinz. Mich hat das Berlin, das die Autorin präsentiert, sehr erfreut, viele Ecken und Winkel sind mir gut bekannt. Und Lisa ist eine überaus rasante Radfahrerin, mit ihrer unverwechselbaren Lederjacke wird sie so schnell keiner für eine Polizeikommissarin halten. Schade, dass sie das Teil reparieren lassen will, da geht doch echt der ganze Charme verloren.
Mit den Zwischenrufen habe ich mich etwas schwergetan, es war mir ein bisschen viel allem, vom Selbstmitleid, vom Selbsthass, und vom Hass sowieso, aber es hat reingepasst in die Story.
Zur Aufklärung des Falles wird Lisa einiges abverlangt, dass sie noch eine ungeplante Reise nach Mallorca antritt, um dort beinahe wieder auf die Nase zu fallen, das tat mir regelrecht leid für sie. Da hat die Autorin eine Protagonistin aus Fleisch und Blut erschaffen, die nicht nur dünnhäutig ist, sondern auch mal aus der Bahn geworfen wird. Der Showdown am Ende ist eine rasante Achterbahnfahrt, über die ich hier nichts preisgebe. Außer: ich fand es gut bis zum Ende.
Ich habe das E-Book gelesen und mich daran erfreut, dass der Fesselballon vom Cover auch in die Kapitelanfänge gewandert ist. Ich vermute, dass das gedruckte Buch einen ähnlich faszinierenden Eindruck hinterlässt. Die E-Book-Typografie ist jedenfalls klasse.
Ich habe auch die Auszüge der beiden 2026 erscheinenden Folgebände gelesen und bin gespannt, wie Lisa sich in den nächsten Fällen präsentieren wird. Ich wäre jedenfalls nicht abgeneigt, mehr von ihr zu lesen. Könnte wieder spannend werden!
Fazit: Ein Berlin-Krimi, der nicht nur Berlinern gefallen wird. Schnell und forsch geht es zur Sache. Die Protagonisten zeigen durchweg Charakter. Der Heißluftballon spielt eine eher spirituelle Rolle, hat mir aber gefallen.

Bewertung vom 05.09.2025
Steidele, Angela

Ins Dunkel (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Jede Diva braucht Scheinwerfer

Ja, eine Screwball-Komödie ist dieser Roman auf jeden Fall, aber für einen Oscar, den manche Rezensenten schon vorgeschlagen haben, reicht es aus meiner Sicht nicht. Zu Beginn war ich vom Schreibstil, der an ein Drehbuch erinnern soll, etwas verwirrt, aber habe mich dann schnell eingelesen. Von Beginn an hatte ich im Hinterkopf beim Lesen Kehlmanns genialen Roman Lichtspiel, dieser Gedanke ließ sich nicht verdrängen, aber miteinander vergleichen kann und will ich die beiden Romane nicht.
Bei Angela Steidele, die übrigens heimlich auch selbst auftaucht im Buch, sind die Hauptpersonen die berühmtesten Diven der Kinowelt der 1920er Jahre. Die Namen flimmern einem regelrecht vor den Augen: Greta Garbo und Marlene Dietrich muss man einfach anhimmeln, auch wenn sie zu merkwürdigem Verhalten oder zu abartigen Marotten neigen, jede über alles und jeden tratscht und klatscht. Es gesellen sich zur Runde die Tochter von Thomas Mann, Erika, mit ihre auch ihre Geliebte Salka, vom Bruder Klaus ist die Rede, Mercedes de Acosta gehört zum inneren Circle, auch von Ernst Lubitsch oder GW Pabst liest man oder von MGM etc.
Man trifft sich, man kennt sich, man liebt sich, man hasst sich, man verachtet sich und immer wieder trifft man sich.
Die Zeiten wechseln, die 1920er Jahre vergehen, man kommt in die 1930er und dann das Wiedersehen Ende der 1960er Jahre. Da sieht man dann schon graue Haare, gut retuschierte Fältchen und von Erika Mann weiß man von Anfang an, dass ihre Kopfschmerzen tödlich enden. So weit, so gut, so traurig.
Aber mich hat dieses Buch trotz der Berühmtheiten nicht gefesselt. Eher abstoßend fand ich das Verhältnis von Marlene Dietrich und ihrer Tochter, obwohl ich auch darüber schon gelesen hatte. In diesem Roman war mir die Distanz einfach zu klein.
Der Autorin gelang es aber trotzdem, mich bis zum letzten Kapitel "Zürich" festzuhalten, weil eben dieser "Screwball"-Effekt ihr ausgesprochen gut gelungen ist. Auch wenn die Damen (vorwiegend sind es ja nur Damen, die sich treffen) schwatzen, als gäbe es kein Morgen, dann ist das schon etwas anstrengend.
Fazit: Jede Diva braucht Scheinwerfer - egal ob von oben oder von anderer Seite.

Bewertung vom 05.09.2025
Abel, Susanne

Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104 (MP3-Download)


ausgezeichnet

Das laute Schweigen der Vergangenheit

Sollte jemand keine Geduld für längere Rezensionen haben, dann beginne ich hier mit dem Fazit: Dieses Buch muss man lesen, dieses Hörbuch muss man hören, es ist einfach sensationell und trotzdem so hart zu akzeptieren, dass es dem Leser oder Hörer unwillkürlich Tränen der Wut und des Mitgefühls in die Augen treibt.
Aber jetzt der Reihe nach. Schon die Gretchen-Reihe von Susanne Abel habe ich als Hörbücher geliebt, Vera Teltz ist die passendste Sprecherin für Susanne Abels Werke. Auch im neuesten Hörbuch bringt sie diese Geschichte mit ihren unterschiedlichen Protagonisten so zum Leben, wie es sonst nur Verfilmungen mit vielen Schauspielern gelingt. Grandioses Kino für den Kopf!
Zuerst hatte ich Zweifel, ob ich mich den Themen Kriegskinder, Kinderheime, Kriegstrauma, zerstörte Kindheit, zerstörte Familien schon wieder über 13 Stunden auseinandersetzen wollte, aber nach der Hörprobe konnte ich eigentlich gar nicht mehr aufhören zuzuhören.
Ich wurde Ohrenzeuge unsagbaren Leids von Kindern, die den Krieg knapp überlebt hatten und in die Hände verantwortungs- und herzloser Menschen fielen, seien sie von Gott geleitet oder vom Geldverdienen. Es gibt seit Jahren Veröffentlichungen in den Medien über die Qualen, denen gerade Kinder in kirchlichen, aber auch in staatlichen Einrichtungen ausgesetzt waren. Susanne Abel geht in ihrem Nachwort sehr fundiert darauf ein.
Die Protagonisten sind zuerst Hardy und Margret Willeiski, die sich 1945 als Kinder im Heim kennenlernen, Margret wird die Beschützerin des jüngeren Hardy, der nur als Nr. 104 bezeichnet wird, bis sie das Heim verlassen muss. Viele Jahre später finden sich beide wieder und gründen eine Familie. Hardy baut für sie ein eigenes Haus, das für beide Zufluchtsort wird. Besonders Margret leidet unter psychischen Störungen wegen der erlittenen Gewalt, fällt nach Geburt der Tochter Sabine in eine tiefe Depression. Trotzdem wird bis zu ihrem Tod Hardy der einzige sein, der um ihre seelischen Qualen weiß. Und sie nimmt auch alle Geheimnisse von Hardy mit ins Grab. Weder ihre Tochter, noch Enkeltochter Julia wissen etwas über ihre Vergangenheit. Als Julia mit der Erziehung ihrer kleinen Tochter Emily überfordert ist, bewahren sie sie vor der Heimeinweisung und das Mädchen wächst bei ihnen, die da bereits 70 Jahre alt sind, auf. Besonders das liebevolle Verhältnis zwischen Uropa Hardy und Emily ist wunderbar beschrieben.
Der Roman wechselt gekonnt zwischen den Zeiten und Ereignissen, wobei die zurückliegenden 1950er und 1960er Jahre ebenso fesseln, wie die Kindheits- und Jugendjahre von Emily. Dass ich das Buch zum Ende hin ob der sich immer mehr steigernden Dramatik nicht mehr weglegen konnte, sei hier nur als Hinweis verstanden. Welchen Ausgang die Geschichte nimmt, möchte ich nicht vorwegnehmen.
Die zurückliegenden Verbrechen an den Kindern können nicht wieder gutgemacht werden, auch nicht gerächt oder gesühnt. Was aber möglich wird, ist das Aufbrechen des Schweigens, das sich über Jahrzehnte durch die Lebensgeschichten der Betroffenen zieht. Und betroffen sind eben nicht nur die einst vergewaltigten, misshandelten und missbrauchten Kinder, es sind auch ihre eigenen Kinder und Kindeskinder, die unter diesem Schweigen leiden. Wie viel leichter wäre es für ein Kind wie Emily gewesen, um das Unglück ihrer Urgroßeltern wenigstens teilweise Bescheid zu wissen. Aber dieses Schweigen aufzubrechen, ist eine Jahrhundertaufgabe. Im Großen wie im Kleinen.
Susanne Abel gelingt es in ihrem Roman, ihre Protagonisten nicht nur zu beschreiben, sondern ihnen Charakter zu verleihen. Es fällt dadurch nicht schwer, sich in diese hineinzuversetzen. Besonders gut ist das bei Harry und Emily gelungen. Wenn mir als Leser beide regelrecht ans Herz gewachsen sind, ist das bisweilen ob ihrer Erlebnisse auch schmerzhaft, aber es fühlt sich auch wahrhaftig an. Besonders Emilys wiederkehrende Enttäuschungen durch ihre Mutter taten auch mir in der Seele weh. Einige Protagonisten sind jedoch aus meiner Sicht, auch wenn das Buch schon recht umfangreich war, zu kurz gekommen, Sabine und ihre Probleme werden nur sehr skizzenhaft gezeichnet. Das Verhältnis zu ihren Eltern, wie auch zur Tochter Julia ist nicht so einfach, aber es wäre interessant zu wissen, ob Margrets „Helicopter“-Angewohnheiten auch bei den beiden schon so ausgeprägt waren, wie bei Emily.
[... gekürzt
Mir hat das Hörbuch (Buch) sehr gefallen, ich bin froh, dass ich mich selbst und meine Angst vor der schwierigen Thematik überwunden habe. Danke, Susanne Abel. Ich bin gespannt, welches Ihr nächstes großes Thema sein wird.

Bewertung vom 28.08.2025
Bonnefoy, Miguel

Der Traum des Jaguars


sehr gut

Ein bildgewaltiger Roman

Die Ankündigung "Dieser magisch-realistische Roman hat den Schwung eines Gabriel García Márquez und den Familiensinn einer Isabel Allende. Unvergesslich." von ELLE hat mich magisch angezogen, da beide Schriftsteller auf meiner Lieblingsautorenliste ganz weit oben stehen. Aber der Roman von Miguel Bonnefoy hat mich nicht so sehr in seinen Bann geschlagen. Die Geschichte ist mit tausend Details verziert, aber dem Hauptakteur Antonio wuchs mir trotz innigster Beschreibungen nicht so sehr ans Herz. Woran das lag, weiß ich nicht, vielleicht war es einfach zu viel des Guten.
Dieses bildgewaltige Werk will erobert werden wie ein fremder Planet, alles, was erzählt wird, ist unbekannt, bunt, man riecht die guten wie die schlechten Düfte, man schmeckt die ungewöhnlichsten Früchte, man sieht sich an schönen und hässlichen Orten, man hört das Geschrei in den Gassen und Häfen, immerzu passiert etwas. Der Leser lernt Ana Maria kennen, die ein Kind haben wird namens Venezuela, die später einen Sohn namens Cristóbal bekommen wird. Die Familiengeschichte nimmt ihren Lauf und vielleicht wird Cristóbal daraus einen Roman oder gar einen Film machen. Vorstellen kann ich mir das gut, dieses Buch lässt den Film schon vor meinen Augen beim Lesen ablaufen. Der Roman begleitet die Zeit zwischen Leben und Tod und lässt sich nicht so leicht vergessen oder abschütteln.
Fazit: Ein bildgewaltiges Buch mit tausend kleinen Geschichten, die einen großen bunten Teppich bilden. Wer Geduld hat, findet dieses Buch mit der Zeit wirklich lesenswert.

Bewertung vom 27.08.2025
Recchia, Roberta

Ciao bis zu den schönen Tagen


ausgezeichnet

Kann man von Leid genesen?

Es ist der zweite Roman von Roberta Recchia, ich weiß nicht, ob man von einer Serie sprechen kann, aber einige Protagonisten aus „Endlich das ganze Leben“ tauchen wieder auf und nehmen einen ganz besonderen Platz ein. Heutzutage ist es ja bereits als ungewöhnlich anzusehen, wenn die Hauptperson eines Romans keine unterdrückte oder anderweitig geschädigte Frau ist. Den Leser erwartet trotz des romantischen und traurig klingenden Titels aber auch eine geballte Portion Feminismus, jedoch kein geschlechtergerechtes Gendern oder Doppelpunkte. Schon deshalb gefiel mir der Roman so gut, ich konnte den Text lesen und genießen und mir meine Gedanken machen, ohne mich gegängelt zu fühlen.
An Dramatik fehlt es diesem Buch auch nicht, die Wendungen, die sich urplötzlich ergeben, sind einfach atemberaubend. Und dabei fängt alles ganz still und unspektakulär an, Luca, noch 12, verliebt sich zum ersten Mal, beginnt sich für Mädchen zu interessieren. Besonders Betta, die für ihn noch Unerreichbare, hat es ihm angetan. Lucas kleine Familie lebt ein normales, bescheidenes Leben unter der südlichen Sonne Italiens. Der Verlag schreibt in seinem Werbetext „Der bewegende Roman der italienischen Bestsellerautorin – mit dem Flair eines italienischen Spätsommerabends.“ So habe ich das auch empfunden, Luca wird zuerst langsam erwachsen und dann erlebt er unbeschreibliches Unglück. Seine Angebetete Betta wird tot aufgefunden, für ihn ist es ein Sturz ins Bodenlose. Als zwei Jahre später sein Bruder dafür verantwortlich gemacht wird, zerbricht sein gesamtes Dasein. Von einer Stunde zur anderen muss er fortan bei seinem Onkel Umberto und dessen Familie in Bergamo leben. Die Dramatik der folgenden Jahre wird so lebendig beschrieben, dass ich als Leser mit Luca mitgelitten, mitgehofft und geliebt habe. Weitere Spoiler liefere ich nicht!
Die Autorin beschreibt diesen Bruch in Lucas Leben sehr anschaulich und mit viel Empathie. Im Nachwort klingt das so „Letztlich haben wir (ich und Luca) seine Geschichte gemeinsam erzählt: Ich habe ihn an die Hand genommen und ihm zugehört wie einem Sohn. Deshalb bin ich ihm dankbar, dass er nie lockergelassen hat. …“ Aber sie zeichnet nicht nur Luca, sondern jede Figur mit feinsten Pinselstrichen, wenn man das bei einem Schriftsteller so sagen darf.
Fazit: Ich habe das Buch sehr gern gelesen und empfehle es unbedingt weiter. Es ist ein Buch wie gemacht für diesen Sommer, einfach perfekt!

Bewertung vom 22.08.2025
Voosen, Roman;Danielsson, Kerstin Signe

Schwüre, die wir brechen / Svea Karhuu & Jon Nordh Bd.2


ausgezeichnet

Mythologie und Wahnsinn

Das Schriftstellerduo Roman Voosen & Kerstin Signe Danielsson legt mit „Schwüre, die wir brechen“ einen zweiten spektakulären Fall und Kriminalroman vor, der den Leser gehörig durchschüttelt. Der erste Teil „Tode, die wir sterben“ stellte dem Lesepublikum die strafversetzte Kommissarin Svea Karhuu und den psychisch angeschlagenen Kommissar Jon Nordh als neues Ermittlerteam in Malmö vor. Von diesem Einstieg setzt sich der neue Roman in jeder Hinsicht positiv ab. Ungewöhnliches geht vor sich, Schweden stöhnt unter einem ungekannten Hitzesommer und es taucht im wahrsten Sinne des Wortes eine Leiche auf. Das passiert zuweilen, dass sie aber einen neuen Kopf angenäht bekam, den eine Nilkrokodils und ihr bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen wurde, das verstehe ich unter ungewöhnlich.
Jon Nordh sitzt derweil noch immer den Tod seiner Frau im Nacken und er sucht nach einem möglichen Schuldigen. So macht er sich erpressbar und geht seiner Vorgesetzten prompt auf den Leim. Gegen jede inne Überzeugung übernimmt er als leitender Ermittler den grausigen Fall, an seiner Seite Svea, die für den Fall brennt. Nordhs Inneres und Äußeres sind jedoch derart derangiert, dass man als Außenstehender schon Zweifel an seiner Einsatzfähigkeit haben kann. Das Ermittlerteam und die Spurensicherung haben jede Menge zu tun, aber vom Mörder und dem Motiv keine Spur. Als wäre das nicht genug, findet man erst den Kopf des Toten und dann noch einen zweiten. Die Umstände nicht weniger makaber, aber wesentlich blutiger und brutaler. Das Team kommt an seine Grenzen. Es taucht wieder ein Tierkopf auf der zweiten Leiche auf, diesmal ein Vogelkopf. Hinzu kommen unzähliger Zeichnungen auf seinem Körper, die nach Hieroglyphen aussehen. Von einem Ägyptologen lässt man sich bei der Polizei einiges Grundlegendes beibringen, aber eine Lösung ist längst nicht in Sicht. Das Umfeld der beiden Opfer wird durchleuchtet, noch ohne Erfolg.
Eingeblendet in die Ermittlungsarbeit der Polizei sind Erinnerungen eines ehemaligen Opfers der Colonia Dignidad aus den 1970er Jahren. Peter kann nach Jahren der Qual und Unterdrückung entkommen, aber offensichtlich ist er schwer geschädigt, nicht nur körperlich, auch geistig. Was diese Berichte mit den Morden in Schweden heute verbindet, das werde ich nun auf keinen Fall preisgeben, auch nicht, ob es noch mehrere Opfer gibt oder wie die Aufklärung gelingt. Nur so viel, es bleibt spannend bis zur letzten Zeile. Und dann schließt sich auch der Kreis, der im Prolog seinen Beginn hat.
Das Cover ist genauso, wie ich mir einen Schwedenkrimi vorstelle, auf dem Ladentisch würde ich ihn sofort an mich reißen! Gerne mehr davon. Vom Autorenteam, wie auch vom Ermittlerteam. Bis 2026 muss ich nun leider warten auf „Opfer, die wir bringen“.
Der Schreibstil der beiden Autoren gefällt mir sehr, offensichtlich benötigen Sie auch keinen Übersetzer, da beide u. a. Germanistik studiert haben. Ich habe selten einen so blutigen und grausamen Kriminalroman so gern gelesen. Ich empfehle das Buch uneingeschränkt weiter.

Bewertung vom 22.08.2025
Simon, Teresa

Die Holunderschwestern


sehr gut

Möbel lassen sich leichter restaurieren als Lebensgeschichten

Es ist erst wenige Monate her, dass ich die Autorin Teresa Simon durch ihr Buch Zypressensommer kennengelernt habe. Als ich nun die Kurzbeschreibung vom neuen Buch las, das ja so neu nicht ist, die erste Auflage erschien 2016, war ich sofort interessiert. Wenn Geschichte und Familiengeschichte zu einem Roman vereint werden, hat das für mich einen ganz besonderen Reiz. Hier im Roman ist es die Zwischenkriegszeit, der Erste Weltkrieg ist zu Ende und die Weimarer Republik steckt in den Kinderschuhen und wird durch Hitlers Machtergreifung sehr bald beendet, die folgenden Jahre sind geprägt von Aufbruchsstimmung und Judenhass, der nur einmal kurz an die Leine genommen wird für die Olympischen Spiele 1936. Meine Großmutter, 1899 geboren, hat all das auch erlebt, schon deshalb entschied ich mich für dieses Buch.
Das Buch beginnt als Prolog mit einem geheimnisvollen, traurigen Brief, geschrieben von F. Wer ist F.? Was haben all die Andeutungen zu bedeuten? Viele Fragen gleich am Anfang. — Mit dem ein ganzes Jahrhundert übergreifenden Trick der 2015 auftauchenden Tagebücher ihrer Ururgroßmutter Fanny kommt Katharina ins Spiel. Sie ist eine junge Restauratorin, die mit Isa, ihrer antikverliebten Freundin eine kleine Firma aufgebaut hat. Dass sich bei ihren Funden in und um München so einiges an verborgenen Werten und Überraschungen zeigt, gibt dem Roman eine besondere Note. Und über Möbelrestaurationen erfährt man en passant auch eine ganze Menge.
Katharina nimmt sich der Tagebücher an und verliebt sich auch gleich noch in den Überbringer, Alex Bluebird, Engländer, kunstsinnig, leider verheiratet. Diese von Fanny geschriebenen zwei Kladden erzählen von ihrem alltäglichen Leben, von ihrer Zwillingsschwester Fritzi, die besitzergreifend und maßlos ist. Fanny flüchtet aus der Enge ihres Elternhauses in Weiden und geht in die große Stadt München. Auch hier hält ihr das Leben kein Rosenbett bereit, schon bald hält sie es auch bei ihrem Bruder nicht mehr aus. Um nicht mit allzu vielen Spoilern die Leselust zu dämpfen, will ich über das Folgende nur noch so viel schreiben: Fanny hat kein einfaches Leben, aber sie findet eine jüdische Freundin, Alina, und diese Freundschaft allein ist es wert, den Roman zu lesen. So war es für mich jedenfalls. Hinzu kommen Erlebnisse mit verschiedenen, noch heute bekannten Künstlern, Paul Klee wird im Roman eine ganz besondere Rolle zukommen.
Teresa Simon verbindet auf besondere Weise gerade die aufkommende Nazizeit und die ersten Jahre der Hitlerdiktatur mit den ganz persönlichen Erfahrungen ihrer Protagonisten. Die Zwillingsschwestern entzweien sich so auch in ihren politischen Anschauungen. Aber erst ganz am Ende des Buches wird Katharina aufklären können, weshalb die Tagebücher 1936 abrupt endeten und wie sie in den Besitz einer englischen Familie gekommen sind. Bis man als Leser dort angekommen ist, ist jedoch auch Geduld gefragt, besonders bei den ausführlichen Schilderungen von Möbelrestaurationen, was mich manchmal vom Hauptthema zu sehr ablenkte.
Die Autorin hat so gut recherchiert und so viele Details auch aus der eigenen Familiengeschichte zusammengetragen, dass es über 500 Seiten geworden sind. Ich hätte mir trotzdem gewünscht, dass die Texte der Tagebuchaufzeichnungen in einer größeren Schrift wiedergegeben worden wären. Mir fiel das Lesen dieser Textteile trotz Brille schwer. Hier wäre für mich tatsächlich ein E-Book hilfreich gewesen.
Das Cover macht einen recht romantischen Eindruck, der im Roman nur durchdringt, wenn z. B. über den Holunderstrauch erzählt wird, dessen Blüte hier über allem schwebt. Die Handlung mit ihren so unterschiedlichen, teilweise schon sehr bösen und brutalen Charakteren, mit der bedrückenden Lage der Juden nach 1933 und auch mit der verachtenden Sicht auf Frauen hingegen ist alles andere als romantisch.
Dieses Buch bietet gute Unterhaltung, wobei es keine seichte Liebesgeschichte wurde, sondern ein sehr bewegender Roman. Ich habe das Buch gern gelesen, auch wenn es phasenweise schwer zu verkraften war. Ich empfehle es gern!

Fazit: ein bewegender Familienroman, der mit geschichtlichen Details ebenso besticht, wie mit den beigefügten Rezepten für bayerische Köstlichkeiten.

Bewertung vom 16.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


gut

Die Unzulänglichkeiten der Welt
Leon Engler nimmt den Leser mit auf seinen Weg durch die Botanik des Wahnsinns, der nicht erst beginnt, als er feststellt, dass alle wichtigen Erinnerungen an seine Mutter, seine Kindheit geschreddert auf der Müllhalde gelandet sind. Er beginnt diesen Wahnsinnsweg schon als Kind, so erinnert er sich an die Merkwürdigkeiten seiner Mutter und seines Vaters. Nur langsam filtert er aus diesem Wahnsinn, der sich oftmals schier versteckt, die Tatsachen und Wirklichkeiten heraus. "Die Mutter bipolar und psychotisch, der Vater todkrank." So erzählt Engler eine Erkenntnis- und Erweckungsgeschichte, der ich oftmals nicht gern folgte. Sie ist bedrückend, auch wenn er die Ironie seiner Erkenntnisse durchscheinen lässt. Der "Hauptdarsteller" ist ein Zweifler an sich, an seinen Eltern, seiner Umwelt, seinen Freunden und er wundert sich manchmal über sich selbst. Nur die Erzählungen über den alten Nachbarn haben mir gut gefallen, als wären sie einer Extra-Story in der Story, warmherzig und liebevoll geschrieben.
Eingewebt in seine Geschichte findet man Zitate von Schriftsellern und Psychiatern und kann sich seinen Reim auf die Unzulänglichkeiten der Welt selbst machen.
Fazit: Vielleicht ein Buch für angehende Psychiater, ich werde es meinem Enkel empfehlen, der studiert noch. Für mich war es eher ungeeignet.

Bewertung vom 15.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Fernes Japan trifft auf fremdes Deutschland - Ein Familienpuzzle

Yuko Kuhn hat mit "Onigiri" ihren ersten Roman vorgelegt, der mir sehr gut gefallen hat. Hauptperson und Ich-Erzählerin ist Aki, Tochter einer Japanerin und eines Deutschen, die in Deutschland aufwächst und nun am Ende des Lebens ihrer Mutter Keiko versucht, die Familiengeheimnisse zu lüften. Was nicht so einfach ist, denn ihre Mutter ist an Demenz erkrankt. Aki versucht, es möglichst allen recht zu machen, aber auch ihre Geduld kommt manchmal an ihre Grenzen. Trotzdem hat sie sich in den Kopf gesetzt, mit ihrer Mutter noch ein einziges Mal nach Japan zur Familie zu reisen, letztlich ist es der Tod der japanischen Großmutter mit über 100 Jahren, der sie aufrüttelt. Auch wenn sie versucht ihrer Mutter, alles zu erklären und zu erzählen, diese vergisst es im Handumdrehen und Aki ist alarmiert. Die Reise nach Japan gestaltet sich trotzdem nicht schwierig, das mag auch mit dem geduldigen Temperament der Japaner an sich zu tun haben. Sei es der fröhliche Onkel oder die alte Freundin der Mutter, die es erträgt, dass Keiko sie nicht mehr erkennt. Die Autorin charakterisiert jede ihrer Figuren sehr einfühlsam, auch wenn sie kritisch ist, bleibt die Liebe immer vordergründig.
Das Buch ist mit rund 200 Seiten nicht sehr umfangreich, aber sehr anrührend und gut zu lesen. Die japanische Kultur, das fremde Essen, die unbekannten Worte, das alles erzeugt eine vertrauliche und empathische Atmosphäre für den Leser. Sehr gefallen hat mir das Glossar. Am Anfang gibt es auch ein Inhaltsverzeichnis mit den japanischen Kapitelüberschriften und deren Übersetzung. Warum die deutsche Übersetzung bei den Kapitelanfängen weggelassen wurde, weiß ich nicht. Ich musste jedenfalls doch immer wieder vorn nachschauen.
Der liebevolle Umgang von Felix, Akis Ehemann, mit seiner dementen Schwiegermutter hat mich tief berührt und ließ mich an meinen Mann und meine Mutter denken, die ein ähnliches Verhältnis hatten. Ebenso gut gefielen mir die Szenen in Japan im Hause des Onkels. Aki erzählt ihre und die Geschichte ihrer Mutter, ihrer Familie in einem ständigen Wechsel der Zeiten und Orte, ein bisschen gewöhnungsbedürftig war dieser ständige Wechsel teilweise. Aber immer noch leichter zu verfolgen als im Hörbuch, das für mich den Anlass gab, dieses Buch in seiner gedruckten Version zu lesen. Als Zuhörer musste man versuchen, die japanischen Worte im Kopf zu behalten, im Buch vor- und zurückzublättern ist leichter. Was Onigiri tatsächlich bedeutet, gibt auch das Buch nicht sofort preis, man kann es natürlich googeln.
Fazit: Ich empfehle das Buch sehr gern, es lässt einen Blick zu auf ein Japan, wie wir Europäer es nicht so gut kennen.