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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1238 Bewertungen
Bewertung vom 10.04.2024
Renk, Ulrike

Mademoiselle Marthe und die Küche der Freiheit


ausgezeichnet

Ein Leben für den Genuss

„Ein Menü sollte wie eine gut erzählte Geschichte sein. Es gibt ein Vorwort, das neugierig machen soll, hungrig auf das, was noch kommt. Und dann soll sich der Geschmack steigern, bis zum Hauptgang. Der Käsegang und der Nachtisch sind dann das sachte Ende der Geschichte – ein hoffnungsvoller Ausgang, der und mit Wohlgefühl zurücklassen sollte.“ (S. 121)
Frankreich, 1887: Seit dem Tod ihres Vaters lebt Marthe mit ihre Mutter Julie bei ihrer Großmutter in den Vogesen. Sie führen ein sehr ursprüngliches Leben auf einem kleinen Hof, wo fast alles selbst erwirtschaftet und angebaut wird. Der Alltag und das Essen orientieren sich streng an der Natur und den Jahreszeiten. Es gibt Obst und Gemüse aus dem Garten. Die Milch für den täglichen Bedarf sowie für Butter und Käse kommt von der eigenen Kuh, die Eier von den Hühnern. Die Küchenabfälle werden an ein Schwein verfüttert, das im Herbst geschlachtet wird. Das Brot wird selber gebacken, den Sauerteig dafür pflegt Grand-mère schon ihr ganzes Leben, genau wie die Suppe immer auf der Kochstelle simmert, in die alle verwertbaren Gemüse- und Fleischreste kommen und die dadurch jeden Tag anders schmeckt, obwohl sie den gleichen Grundstock hat. Marthe lernt von ihr, wie man mit Rohstoffen und Lebensmittel umgeht, Vorräte anlegt, haltbar macht – und schreibt sich alles auf. Denn schon da steht für sie fest, dass sie später vom Schreiben leben und Journalistin zu werden will.
Weil Marthe das Lyzeum besuchen und studieren soll, nimmt Julie eine Stelle als Köchin in einem großbürgerlichen Pariser Haushalt an. Dort wird Marthe bewusst, dass ihre Mutter eine Sonderstellung einnimmt. Die meisten Köche sind Männer, da Köchinnen nur auf dem Land ausgebildet, gebraucht und akzeptiert werden.
Sie freundet sich mit Florence, der gleichaltrigen Tochter der Familie an, die auch das Lyzeum besucht und studiert, aber keinen Plan für ihr Leben hat, da sie ja nie arbeiten werden muss, sondern heiraten soll.

„Du stehst zwischen den Welten, zwischen Personal und Herrschaft. Solche wie dich muss es noch mehr geben. Wir müssen die Grenzen aufreißen.“ (S. 21)
Marthe und Florence stehen für eine neue Generation Frauen, die unabhängig von ihren Familien etwas Eigenes erreichen wollen und über die ihnen eigentlich zugedachten Grenzen hinausgehen. Ihre Freundschaft ist trotz aller Unterschiede eine Beziehung auf Augenhöhe.

Ich hatte bisher weder von Marthe Distel gehört, der Journalistin und Gründerin der Kochschule Le Cordon Bleu, noch ihrem Vorbild, Auguste Escoffier, der die Küche und Ausbildung der Köche revolutioniert hat. Die Autorin hat es geschafft, mir ein sehr lebendiges Bild von ihnen, ihrem Leben und ihrer Arbeitsweise zu vermitteln.

„Essen ist mehr als nur Nahrung. Mahlzeiten sind Gefühle … Essen ist mehr als nur satt werden.“ (S. 21) Da ich selber leidenschaftlich gern koche und backe, hat mich diese Buch fasziniert. Ulrike Renk hat es wie ein 5-Gänge-Menü aufgebaut und schreibt mit viel Herzblut über die verschiedenen Zubereitungsarten, verwendeten Produkte und Gerichte. Man liest in jeder Zeile ihre eigene Begeisterung für diese Thema. Gleichzeitig ist es ein richtig toller Schmöker, der die Unterschiede zwischen dem Stadt- und Landleben und den gesellschaftlichen Schichten zeigt und wie diese sich zu dieser Zeit langsam auflösten bzw. vermischten.
5 Sterne für dieses Lesehighlight.

Bewertung vom 09.04.2024
Marly, Michelle

Mademoiselle Coco und die Entführung des Picasso


sehr gut

Mischung aus Künstlerroman und Cosycrime

„Ein Diebstahl und ein Mord, ein Diebstahl und eine Entführung.“ (S. 175)
Paris, Frühling 1916: Erst verschwindet Geld aus der Kasse von Coco Chanel Hut-Atelier, dann liegt ein Toter im Hinterhof: Monsieur André Grosjean ist ein gutsituierter Geschäftsmann und der Sohn einer ihrer besten Kundinnen. Warum wurde er ausgerechnet hinter ihrem Laden erschlagen? Weil der ermittelnde Kommissar leider auch Coco verdächtigt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als selber nachzuforschen. Zumal ihr Freund Arthur Chapel, genannt Boy, Angst hat, dass vielleicht er das eigentliche Ziel des Anschlages war.

Michelle Marly (Micaela Jary) entführt uns in ein frühlingshaftes Paris, das durch den 1. Weltkrieg geprägt ist. Viele Männer haben sich freiwillig an die Front gemeldet, viele Frauen leisten karitative Arbeit. Auch in den Künstlerkreise, mit denen Boy sie bekannt gemacht hat, gehört es zum guten Ton, sich zu engagieren. Doch Coco konzentriert sich ganz auf ihre Karriere. In Paris ist sie bisher zwar nur für ihre Hüte bekannt, aber in den Urlaubsorten fällt sie durch die dort zusätzlich angebotene Freizeitmode auf, die die Frauen weniger einengt und ihnen mehr (Bewegungs-) Freiheit lässt. Diese will sie jetzt auch in der Hauptstadt verkaufen, da im Krieg andere Ansprüche an Kleider und Materialien gestellt werden. Außerdem sorgt sie sich um Boy. Der wurde gerade befördert, verrät aber kaum etwas über sein neues Tätigkeitsfeld – ist er etwa ein Spion?

Coco Chanel wird als unkomplizierte und unangepasste Frau mit fragwürdiger Vergangenheit dargestellt, an der sich vor allem Kommissar Hollande aufreibt, was zu einigen amüsanten Situation führt. Bezüglich des gestohlenen Geldes hat sie schnell einen Verdacht, aber wie passt der mit dem Mord zusammen? Dann erfährt sie, dass ihre Verdächtige Modell für diverse Künstler sitzt, u.a. für Picasso. Über dessen Namen stolpert sie auch im Elternhaus des Ermordeten und den Salons verschiedener Damen – überall wird über ihn geredet, weil er eine persönliche Krise durchmacht und alle daran teilhaben lässt. Als dann auch noch in einige Einbrüche passieren und eine befreundete Künstlerin verschwindet, wird es brenzlig für Coco Chanel …

Eins vorweg, wer hier einen harten Krimi erwartet, wird enttäuscht. Michelle Marly schreibt mit sehr viel Atmosphäre und lässt viele berühmte Namen in ihre Handlung einfließen, sodass man ein gutes Bild der Pariser Kunst- und Kulturszene zu dieser Zeit bekommt. Und auch wenn Picassos Gejammere und die beschriebene Entführung auf wahren Begebenheiten beruhen, ist der Mord doch ihrer Fantasie entsprungen.
Ein besonderer Clou ist übrigens das Cover, das an das berühmte Hahnentrittmuster der Chanelkostüme erinnert.

Bewertung vom 06.04.2024
Güngörmüs, Ali

Mediterran Express


ausgezeichnet

Hat das Zeug zum neuen Lieblingskochbuch

Das neue Kochbuch von Ali Güngörmüs hat mich erwartet, als ich von der Leipziger Buchmesse nach Hause gekommen bin. Und da man sich nach hektischen 4 Tagen auf ein selbstgekochtes Essen freut, durfte „Mediterran Express“ gleich mal beweisen, ob es halten kann, was es verspricht: Über 80 Rezepte – In nur 30 Minuten – Mit 5 bis 7 frischen Zutaten.

Nach einem kurzen Blick in den Vorratsschrank fiel meine Wahl auf die „Maccheroni mit Thunfischcreme und (frittierten) Kapern“, da ich dafür alles im Haus hatte. Und was soll ich sagen, das Rezept hat uns sofort überzeugt. Danach haben wir uns systematisch durch das Kochbuch gearbeitet. Auch die „Ofenkarotten mit Orangenjoghurt“ (die ich mit Bulgur ergänzt habe), die „geräucherte Paprikasuppe mit Walnüssen“, die Burger mit „Veggie-Patties mit Kichererbsen und Grillpaprika“, die „gestürzte Spaghetti-Pfanne mit Mortadella“ oder die „Hähnchengrillspieße mit Chermoula“ sind Gerichte, die wir definitiv wieder machen werden.

Bei diesem Kochbuch ist der Name Programm. Ich habe für keines der Gerichte mehr als 7 frische Zutaten zukaufen müssen (meist waren es nur 1-2), da ich den Rest im Vorratsschrank hatte. Und auch die Zubereitungszeiten haben hervorragend funktioniert. Besonders gefällt mir, dass so viele vegetarische Rezepte dabei sind. Zudem sind sie einfach und leicht verständlich und damit auch für Anfänger geeignet – oder wie mein Mann sagen würde, damit traut sogar er sich das Kochen zu …

Die Rezepte sind in „Vorspeisen & kleine Gerichte“, „Suppen“, „Hauptgerichte vegetarisch“, „Hauptgerichte mit Fleisch“, „Hauptgerichte mit Fisch und Meeresfrüchten“ sowie „Desserts“ gegliedert und werden durch „Apéro Orientale“ (Häppchen wie aus 1101 Nacht) ergänzt. Zusätzlich gibt Ali Güngörmüs noch Tipps, was alles in den Vorratsschrank gehört, erklärt Wissenswertes zu Kräutern und Gewürzen oder wie man gewisse Basics selber auf Vorrat macht und gibt eine kleine Warenkunde zu Zitrusfrüchten, Oliven(-Öl), mediterranen Käsesorten und herzhaften bzw. süßen Zutaten.

„Mediterran Express“ ist definitiv ein Kochbuchhighlight und Ali Güngörmüs Rezepte haben ab jetzt einen festen Platz in unserer Küche.

Bewertung vom 04.04.2024
Achterop, Amy

Tödlicher Stoff / Die Hausboot-Detektei Bd.3


gut

Der Saubermann

„Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen.“ (S. 24)
Weil Arie wegen seiner Diät Hunger hat, geht er zu nachtschlafender Zeit spazieren und sieht, wie der vermögende Unternehmer Willem Bot glücklich vor ein Müllauto tanzt und überfahren wird. Der Zufall will, dass dessen Tochter Wiebke ausgerechnet die Hausbootdetektive mit der Aufklärung der Todesumstände beauftragt. Denn obwohl der ein strikter Drogengegner war, wurde in seinem Blut LSD gefunden. Wiebke ist überzeugt, dass ihm das als „Mordwaffe“ untergeschoben wurde, auch wenn man damit natürlich nicht gezielt töten kann.
Da der Saubermann angeblich keine Feinde und Freunde bis in die höchsten Kreise hatte, durchleuchten die Hausbootdetektive seine Geschäftsbeziehungen. Dabei stoßen sie auf drei Namen: Mike, zu dem sie nicht mal einen Nachnamen finden, Bengt Bjerker, ein bekannter schwedischer Designer, und Kaatje Hommel, die schon über 80 ist und ihre Rente mit dem Stricken von Mützen für Bengt aufbessert. Das irritiert die Detektive am meisten, denn die Mützen tauchen zwar in den Büchern, aber nicht in Bengts Kollektionen auf. Trotzdem tappen sie bei der Suche nach dem Motiv und Täter lange im Dunkeln.

„Tödlicher Stoff“ ist schon der dritte Band der Reihe. Um die Personen und alle Zusammenhänge zu verstehen, sollte man die Vorgänger gelesen haben. Wie diese lebt auch der neueste Teil vor allem von den verschrobenen Ermittlern und ihrer tierischen Unterstützung. Arie will dringend abnehmen, hält aber weder eine Diät noch Sport durch und wird immer unleidlicher, Maddie sorgt sich um ihre Schwester Isa, die ihren Job im Inklusionscafé hingeschmissen hat und endlich als Designerin durchstarten will (dabei allerdings das Prinzip des Geldverdienens nicht versteht) und Jack wird langsam unruhig und will weiterziehen. Dafür kommt Elin endlich aus Panama zurück. Bei den ganzen privaten Probleme, die zugegebenermaßen auch sehr unterhaltsam sind, hatte man manchmal das Gefühl, dass die Ermittlungen etwas zu kurz kommen.

Amy Acherop erzählt die Geschichte aus zwei Sichtwinkeln, dem der Detektive und dem von Willem Angestellten, der mit viel Liebe und Hingabe einen Gnadenhof leitet (und im Nebenberuf Profikiller ist).
Mir mag die Doppeldeutigkeit des Titels, da der Tote einige illegale Geschäfte am Laufen hatte und sowohl mit besonders seltenen Stoffen als auch Drogen handelte.

Mein Fazit: Etwas brutaler als seine Vorgänger, ich hätte mir mehr Spannung und Tempo gewünscht.

Bewertung vom 01.04.2024
Heiland, Julie

Schicksalsjahre. Die Frauen vom Neumarkt


sehr gut

Im Schatten der Frauenkirche

„Ich will nicht, dass alte Wunden aufgerissen werden …“ (S. 236)
Dresden 1993: Hannah ist Architektin und arbeitet an der Bestimmung und Katalogisierung der Steine der Frauenkirchenruine mit, die für den Wiederaufbau verwendet werden sollen. Als sie in den Trümmern das Turmkreuz findet und dazu ein Foto in den Akten sucht, stolpert sie über ein Bild vom Kriegsende, auf dem ein Mann und eine Frau auf den Resten der Frauenkirche stehen. Die Frau sieht aus wie ihre Mutter, allerdings war die da noch lange nicht geboren. Ist es ihre Großmutter Lotte, die sie nie kennengelernt hat, weil sich ihre Mutter schon vor Hannahs Geburt mit ihr verstritten hat?

Lotte arbeitet nach dem Krieg als Trümmerfrau und geht jeden Tag zum Suchdienst, um nach ihrer Jugendliebe Leo zu fragen, einem Juden, der 1939 verschwunden ist. Dabei rettet sie eines Abends einen Mann, der von der Brücke springen will. Jakob ist ebenfalls Jude und hat als einziger seiner Familie den Krieg überlebt, aber jetzt fehlt ihm die Kraft und der Antrieb zum Weitermachen. Stück für Stück holt Lotte ihn ins Leben zurück und irgendwann verlieben sie sich, aber auch in der DDR sind Juden bald unerwünscht.

Julie Heilands „Schicksalsjahre“ erzählt von 3 Generationen Dresdner Frauen, die eng mit der Frauenkirche verbunden sind. Lotte ist vor dem Krieg direkt neben ihr aufgewachsen und hat sich später genau wie ihre Tochter Marlene für den Erhalt der Ruine als Denkmal eingesetzt, während Hannah am Wiederaufbau beteiligt ist. Dabei nimmt Lottes Geschichte den Hauptteil ein. Sie hat mich am meisten berührt und war auch am informativsten. Denn obwohl ich in den 70er Jahren in Dresden geboren und aufgewachsen bin und in der Schule regelmäßig an der Ruine der Frauenkirche Mahnwache stand, wusste ich nicht, dass lange versucht wurde, die Trümmer und damit das Erinnern zu beseitigen, weil es eine Kirche war, – die die DDR am liebsten alle abschaffen wollte. Auch von den antisemitischen Kampagne der DDR hatte ich bisher noch nicht gehört.

Wie schon erwähnt, hat mich vor allem Lottes Schicksal gefesselt. Zweimal im Leben war sie verliebt, und beide Male werden ihr Steine in den Weg gelegt. Was genau passiert ist, findet ihre Enkelin Hannah viele Jahrzehnte später heraus.

Die Geschichte wird abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählt, man erfährt Stück für Stück, was Lotte erlebt, kann sich allerdings einige Wendungen im Voraus denken, weil man die begleitenden historischen Ereignisse kennt. Parallel dazu erfährt man, wie der Wiederaufbau der Frauenkirche mit dem geordneten Rückbau der Ruine begonnen hat. Hier hätte ich mir mehr Informationen und Hintergründe gewünscht. Außerdem war die Nachwendezeit sehr bewegend und voller Umbrüche, an die ich mich gut erinnern kann, aber darauf wird leider nicht eingegangen.

Mein Fazit: Eine fesselnde Liebesgeschichte vor historischer Kulisse, wobei mir die jüngere deutsche Geschichte etwas zu kurz gekommen ist.

Bewertung vom 30.03.2024
Paris, Helen Frances

Der wunderbare Garten der Mrs P.


ausgezeichnet

Die unsichtbaren Frauen

„An den meisten Tagen war es ihr Garten, der sie über Wasser hielt. Ihrem Leben einen Sinn gab. … Wie lange würde sie ohne dieses Rettungsfloß durchhalten, strampelnd und um Hilfe flehend über der schwarzen Tiefe?“ (S. 53) Janet Pimm ist 72 und einsam. Die ehemalige Agentin lebt sehr zurückgezogen und verlässt das Haus nur, um täglich von 13 bis 18 Uhr in ihrem Kleingarten zu arbeiten. Ihr Leben hätte sich wahrscheinlich nie geändert, wenn in der Gartenanlage nicht plötzlich Japanischer Staudenknöterich gefunden worden wäre. Da der wegen seiner invasiven Ausbreitung in Großbritannien verboten ist, will der Stadtrat die Anlage sofort schließen. Janet entdeckt, dass der Knöterich ganz frisch absichtlich eingepflanzt wurde – aber von wem und warum?! Um das herauszufinden und beweisen zu können, freundet sie sich endlich mit ihren Gartennachbarn und Google an und reaktiviert ihre alten Verbindungen zum Geheimdienst …

Janet hat in ihrem Leben einige Verluste hinnehmen müssen, ihre erste große Liebe, ihren Mann, ihren Job. Darum hat sie sich immer mehr zurückgezogen und ist nur glücklich, wenn sie sich um ihre Pflanzen kümmert. Es scheint, als würde sie wegen ihres Alters von ihrer Umgebung ignoriert, aber es ist genau andersherum – Janet will keinen Kontakt, weder zu den anderen Gärtnern, die ihre Art der biologischen Bewirtschaftung nicht verstehen (wollen), noch zu ihrer Nachbarin Bev, die ihr immer wieder Veranstaltungsflyer in den Briefkasten steckt. Doch ausgerechnet Bev wird ihr in ihrem Kampf gegen den Stadtrat zur besten Freundin und Unterstützern. Denn auch Bev sucht nach einem neuen Sinn, einer Aufgabe abseits vom Beruf. Sie ist mit Leib und Seele Hebamme, aber schon lange nicht mehr mit dem Klinikalltag und den Behandlungsmethoden einverstanden, hat immer weniger Zeit für ihre Patientinnen und darf keine (bewährten) Hausmittel mehr anwenden. So richtig wird ihr das erst klar, als sie Janet davon erzählt. Zudem ist sie ihrem Mann seit ihrer Menopause zu anstrengend, weil er, genau wie ihr Hausarzt, ihre gesundheitlichen Probleme nicht versteht. Frauen in ihrem Alter sind plötzlich unsichtbar, werden von ihrer Umwelt kaum noch wahr- oder ernst genommen.
Auch wenn Gärtnern und die Menopause auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, zeigt Helen Frances Paris hier, wie ähnlich sich die beiden Themen doch sind – es geht um Aufmerksamkeit und Pflege, um (Selbst-)Wahrnehmung und (Selbst-) Liebe.

Wie schon „Das Fundbüro der verlorenen Träume“ ist auch „Der wunderbare Garten der Mrs P.“ anders als erwartet und hat mich mit seiner Emotionalität, Themenvielfalt und -tiefe sehr überrascht. Der Klappentext klingt zwar nach Cosy Crime und Janets Spurensuche ist auch sehr spannend, aber hauptsächlich geht es um Einsamkeit im Alter, Diskriminierung von Frauen im Beruf, Leidenschaft, Freundschaft, Gemeinschaft und Zusammenhalt, und dass man auch mit über 70 noch neue Freunde finden kann – und um die Liebe, denn für die ist man nie zu alt.

Bewertung vom 29.03.2024
Kruse, Tatjana

Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande


ausgezeichnet

Via Dolorosa – Schmerzensweg

„Wenn schon sterben, dann in Venedig.“ (S. 185) Als Astrid ihren Mann beim Fremdgehen mit der Nachbarin erwischt, brennt der sonst eher nüchternen Steuerberaterin eine Sicherung durch. Aber sie bringt ihn nicht etwa um, sondern nach Venedig durch, dort wollte sie nämlich schon immer mal hin. Da sie kein Hotelzimmer bekommt, mietet sie sich in der Via Dolorosa bei Cesare ein. Der alte Italiener handelt mit Dogenköpfen aus Gips und nimmt Astrid in seine Familie auf. Das hätte sie vielleicht stutzig machen sollen ... Doch erstmal schleppt sie sich bei brütender Hitze durch die Serenissima und bewundert die schönen italienischen Männer – bis sie bemerkt, dass die sie auch beobachten, vor allem die in den weißen Leinenanzügen. Dabei gilt sie gemeinhin als unscheinbar und wird oft genug übersehen. Plötzlich findet sie sich inmitten von Verfolgungsjagden zu Wasser wieder, erlebt Entführungsversuche und es wird auf sie geschossen. Bei der ganzen Aufregung vergisst sie ihren Kummer und lebt richtig auf. „Mein Leben, so wie ich es kannte, ist vor meinen Augen zerbröselt, aber ich fühle nichts anderes als … Freiheit.“ (S. 52)

Durch Astrids Augen erlebe ich ein Venedig, das vor Hitze glüht, in dem Tote in den Kanälen treiben, Polizisten an die „Men in Black“ erinnern, schnuckelige, fast nackte Männer auf Balkonen telefonieren und die Nachbarn ganz genau aufpassen, ohne sich selbst in die Karten blicken zu lassen. Auch Cesare ist etwas undurchsichtig. Er scheint das eine oder andere Geheimnis zu haben und seine Haustiere sind, vorsichtig gesagt, „ungewöhnlich“, aber er kann doch nichts mit dem Toten zu tun haben, der am Tag ihrer Ankunft im Canale Grande gefunden wurde, oder?!

Tatjana Kruse, die Königin der Krimödie hat es wieder getan – sie mordet da, wo andere Urlaub machen. Mit viel schwarzem Humor und Wortwitz – ich sage nur „Kaffeesüchtelnd“ – lässt sie Astrid ihre Erlebnisse im Tagebuch festhalten und nimmt die LeserInnen auf eine sehr unterhaltsame Reise nach und durch Venedig mit. Dabei beginnt alles recht gemütlich, wenn man mal von Hagens Betrug absieht, wird zum Ende hin aber echt rasant: Ihre Verfolgungsjagden gehören verfilmt! (Aber bitte nur mit gut ausgebildeten Stuntmen). 5 Gondeln für das „Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande“.

Bewertung vom 25.03.2024
Bloom, Franka

Was geht, Annegret?


sehr gut

Berlin statt Seniorenresidenz, Currywurst statt Rentnerteller

„Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang.“ (S. 421) Nach dem Tod ihres Mannes kommt heraus, dass er Annegret jahrelang belogen und Schulden gemacht hat, jetzt muss sie ihr Haus verkaufen. Als ihre Tochter und deren Mann sie danach in ein Altersheim abschieben wollen, nimmt sie das Angebot ihrer Enkelin Isi an und zieht in deren Studenten-WG in Berlin-Kreuzberg. Der Unterschied zu ihren bisherigen Nachbarn und dem beschaulichen Ostfriesland könnte kaum größer sein. Ihre neuen Mitbewohner Isi, Felix und Lea sind nicht nur Jahrzehnte jünger, sondern haben auch komplett andere Vorstellungen vom Leben. Annegret darf nur noch Putzen, wenn sie damit dran ist und nur Secondhand oder upgecycelte Möbel und Kleindung kaufen. Außerdem wird vegan gegessen und in einem Gemeinschaftsprojekt nur das gekocht, was vorher containert wurde. Zum Glück wohnt nebenan Siggi, die mit Mitte 70 ein bisschen aussieht wie Vivienne Westwood, jeden Tag vom guten Meißner Porzellan isst (sonst würde es ja doch nur im Schrank einstauben) und Annegret kurzerhand in Änni umbenennt.
Änni lebt sich nach ihrer anfänglichen Skepsis schnell in ihrem neuen Viertel ein, freundet sich mit dem türkischen Ladenbesitzer unten im Haus an, findet ein neues Lieblingscafé und lässt sich von Isi sogar zu einem Best-Ager-Studium an der Humboldt-Uni überreden, obwohl sie lieber Klöppeln an der VHS gelernt hätte. Und gerade, als alles gut läuft, wird das Haus an einen Investor verkauft, der es sanieren und damit gentrifizieren will – das lassen sich die Bewohner nicht gefallen. Granny Änni ruft zum Protest auf.

„Jetzt hockt sie angespannt und müde mitten in der Nacht auf einer dunklen Straße in Berlin am Steuer eines Autos, das ihr nicht gehört, und steht Schmiere beim illegalen Containern ihrer neuen WG.“ (S. 113) Zu Beginn ist Änni ein armes Hascherl, die sich ihr Leben lang nach ihrem Mann, der alles entschied, gerichtet hat. Mit ihrem Umzug bricht sie aus ihrem eingefahrenen Leben aus und emanzipiert sich. Die Studenten und Siggi öffnen ihr für vieles die Augen, was ihr bisher nicht aufgefallen ist. Siggi ist ein bodenständiger Ausgleich zu dem „jungen Gemüse“ und kann sie in vielen Situationen sehr gut verstehen – und tröstet dann mit Likörchen. „Die tun nix, die sind nur jung.“ (S. 50) So eine Freundin kann man immer gebrauchen.
Isi, Felix und Lea sind manchmal etwas übergriffig und dominant, wenn es darum geht, ihre Vorstellungen durch- oder umzusetzen, aber sie nehmen Änni ohne Vorbehalte mit offenen Armen auf und zeigen ihr, dass ihr Leben noch lange nicht vorbei ist.

Franka Blooms neuer Roman „Was geht, Annegret?“ ist eine sehr unterhaltsame Mischung aus Best-Ager-Geschichte und Plädoyer für Mehr-Generationen-Wohnprojekte, die zum Nachdenken anregt – wie gehen wir mit unseren Groß- / Eltern um? Wie nachhaltig leben wir und was hinterlassen wir nachfolgenden Generationen? Die dezente Gesellschaftskritik hat mir gut gefallen, auch wenn sie an manchen Stellen leicht überzogen wirkte.

Bewertung vom 24.03.2024
Archan, Isabella

Und täglich grüßt die MörderMitzi


ausgezeichnet

Brudermord?

In Mitzis Leben scheint endlich Ruhe eingekehrt zu sein. Sie ist mit Rudolfo und ihrer Fernbeziehung glücklich und sie planen den nächsten Schritt – die Eröffnung eines Cafés in Lilienfeld, dass sie finanzieren und er führen wird. Ein Zusammenziehen oder gar eine Hochzeit kann sich Mitzi aber noch nicht vorstellen, dazu liebt die ihr unabhängiges Leben und ihr WG-Zimmer in Salzburg zu sehr. „… in Salzburg fühlte sie sich gebogen. Aus welchem Grund auch immer, dort, in ihrem zu Hause, in den Straßen dieser Stadt, war sie angstfrei. Vollkommen.“ (S. 52)
Doch lange kann sie das gemütliche Leben nicht genießen. Ihre Freundin Agnes ist inzwischen die Leiterin des Kufsteiner Polizeireviers, wo ein Bogenschütze wahllos auf Wanderer schießt. Bisher hat er diese „nur“ verletzt. Aber wie lange dauert es, bis er jemanden tötet? Ganz gegen ihre Gewohnheit mischt sich Mitzi diesmal kaum in die Ermittlungen ein, denn sie hat eigene Probleme: Bei ihr hat sich ein Mann gemeldet und behauptet, ihr Bruder Benni zu sein. Er wäre damals nicht mit ihren Eltern bei der Explosion ums Leben gekommen. Und gegen jede Vernunft beginnt Mitzi, ihm zu glauben …

„Und täglich grüßt die MörderMitzi“ ist bereits der 6. Teil der Reihe von Isabella Archan und für mich einer der stärksten Fälle, weil man die ganze Zeit hin- und hergerissen ist, ob man Bennis Geschichte glaubt. Außerdem ist der Auftragsmörder Sam, den Mitzi in ihrem allerersten Fall mit Agnes zur Strecke gebracht hat, aus der Haft geflohen. Mitzi fragt sich, ob er sich an ihr rächen will und ob es schlimm wäre, tot zu sein. Dann würde sie wenigstens endlich niemand mehr auf ihren Spitznamen MörderMitzi und das Unglück damals ansprechen, für das sie sich noch immer die Schuld gibt.

Ich fiebere schon seit Jahren mit Mitzi mit und würde es ihr gönnen, dass sie endlich sesshaft wird, aber ich finde es natürlich auch sehr spannend, wie sie regelmäßig mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird und sich mit der Schuldfrage auseinandersetzt. Dabei ist unklar, ob sie die Explosion damals wirklich verschuldet hat. Außerdem ist sie immer noch von Sam fasziniert und die Angst, die sie früher vor ihm und dem Sterben hatte, ist weg. Dafür bringt ihr totgeglaubter Bruder Stress in ihr Leben, der verstärkt wird, weil ihre beste und einzige Freundin Agnes ihr nicht helfen kann, da sie den Bogenschützen jagen muss.
Das ist auch ein extrem interessanter Protagonist, weil man als Leser bei der Planung seiner Taten dabei ist, ohne zu wissen, wer er ist. Geschickt streut Isabella Archan immer neue Hinweise ein und legt falsche Fährten, um die Leser zu verwirren.

5 Sterne für diesen sehr spannenden und dramatischen Krimi, der wieder in einem großen Showdown mündet, bei dem man um Mitzis Leben bangen muss.

Bewertung vom 18.03.2024
Jimenez, Abby

Yours Truly


ausgezeichnet

Dr. Death

… wird Jacob genannt, der neue Arzt der Notaufnahme, weil ihm schon am ersten Tag 7 Patienten wegsterben. Dass denen auch kein anderer Arzt mehr hätte helfen können, ist dabei zweitrangig. Als Briana erfährt, dass er trotzdem ein Kandidat für den Chefarztposten ist, der ihr in Aussicht gestellt worden war, und Jacob sich ein paar Patzer erlaubt, wird ihre Laune noch schlechter und sie lässt ihn das spüren. Daraufhin überrascht er sie mit einer handgeschrieben Entschuldigung. Sie antwortet ihm, weitere Briefe folgen, die ihnen bald schon nicht mehr genügen. Sie holen ihre Freundschaft in die reale Welt, treffen sich regelmäßig zum Mittagessen, schreiben Nachrichten, telefonieren. Als Briana erfährt, dass Jakob eine Fake-Freundin braucht, damit ihn seine Familie in Ruhe lässt, sagt sie sofort zu.

„Yours Truly“ von Abby Jimenes ist zwar eine typische Enemies-to-Lovers-Geschichte, aber viel tiefsinniger und anspruchsvoller als erwartet und trotz aller Probleme auch extrem unterhaltsam. Es geht eben nicht nur um zwei Ärzte, die scharf auf die gleiche Stelle sind und nach einigem vorhersehbaren Hin und Her zueinander finden. Die Protagonisten sind viel vielschichtiger.

Brianas Mann hat sie jahrelang mit ihrer besten Freundin betrogen, ihre Scheidung steht kurz bevor. Seitdem hat sie Probleme damit, anderen zu vertrauen und sich auf neue Beziehungen einzulassen. Darum fällt es ihr zu Beginn so leicht, Jacobs Freundin zu spielen, sie ist überzeugt, dass sie sich auf keinen Fall in ihn verlieben wird. Außerdem benötigt ihr Bruder aufgrund einer schweren Autoimmunerkrankung dringend eine Spenderniere, hat aber er eine so seltene Blutgruppe, dass bisher keiner gefunden wurde. Er lässt sich immer mehr gehen und sie fürchtet um sein Leben – bis plötzlich ein anonymer Spender auftaucht. Als sie zufällig herausfindet, dass das Jacob ist, wird ihre Freundschaft noch enger.
Jacob wirkt immer extrem reserviert und abweisend, dabei leidet er an einer Sozialphobie. Seine letzte Beziehung ist daran gescheitert, seine Freundin hat ihm das Gefühl gegeben, sozial komplett inkompetent zu sein. Allerdings hat sie sich nie richtig auf ihn und seine Besonderheiten eingelassen. Erst durch Briana wird ihm klar, dass eine Freundschaft und Interaktionen mit anderen Menschen möglich sind, wenn diese gewisse Dinge beachten und Rücksicht nehmen – so wie Briana, die ihn intuitiv zu verstehen scheint und immer weiß, was er braucht.

„Manchmal kam es mir so vor, als wären Jacob und ich zwei Magneten, die sich drehten und sich mal anzogen, mal abstießen und dann wieder anzogen.“ (S. 272) Natürlich bitzelt es bald zwischen ihnen, aber sie wollen sich das nicht eingestehen. Zudem kommt es zu einigen Missverständnissen, bei denen man sich als Leser die Haare rauft und gern eingreifen würde, so wie es ihre Familien und Freunde versuchen. Die habe ich übrigens auch alle sehr gemocht. Sei es Brianas Mutter, die nicht nur bei jedem Besuch Unmengen für sie kocht und ihr eine Tiefkühltruhe kauft, damit sie alles unterbringen kann. Oder Jacobs Mutter, eine berühmte Sexualtherapeutin, die auch zu Hause und vor Fremden nicht von ihrem Beruf lassen kann …

5 Sterne für diese warmherzige und berührende Romcom.