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Aischa

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Insgesamt 575 Bewertungen
Bewertung vom 18.01.2023
Heine, Matthias

Kaputte Wörter?


gut

Journalist Matthias Heine befasst sich hier mit knapp 80 Wörtern, deren Gebrauch problematisch sein kann. Dabei legt er eine wirklich fundierte Rechercheleistung vor. Zu jedem Stichwort erfährt man sowohl den Ursprung wie auch die geschichtliche Verwendung und Kritik an derselben, bevor Heine eine - sehr persönliche - Einschätzung des Sprachgebrauchs vornimmt.

Die Hintergrundinfos zu den Wörtern sind sehr interessant, hier habe ich viel gelernt, und fühle mich dadurch nicht zuletzt gut für Diskussionen zur Thematik gut gerüstet. Die Meinung des Autors hingegen ist wenig hilfreich und schwankt zwischen "wird nur noch von altersstarrsinnigen verwendet" und "muss jeder selbst für sich entscheiden, ob er/sie das Wort noch verwendet". Auch Alternativen kommen leider oft zu kurz. Und bereits Heines Einleitung hat meinen inneren Widerspruch hervorgerufen. Erklärt er hier doch: "Ich gehe von der Grundüberzeugung aus, dass keine Regierung, ... und erst recht keine Minderheiten den 200 Millionen Deutschsprechern vorzuschreiben haben, welche Wörter sie gebrauchen dürfen." Und dieser Meinung ist er selbst dann, wenn sie sich dadurch diskriminiert fühlen! Sorry, geht´s noch? Hier setzt sich jemand, der Sprache zum Broterwerb nutzt (Heine ist überdies Kulturredakteur), über die Gefühle anderer hinweg. Mit welchem Recht? Etwas mehr Empathie würde nicht schaden.

Auch die Auswahl der behandelten Wörter ist etwas seltsam. Ich denke nicht, dass die Mehrheit der Leser*innen ein Problem mit der Verwendung von Milch, bester Freund oder gar dem Punkt als Satzzeichen hat.

Alles in allem ein sehr persönlich gefärbtes Sachbuch, das meine Erwartungen nur zum Teil erfüllt hat.

Bewertung vom 13.01.2023
Guhr, Sebastian

Chamissimo


ausgezeichnet

Sebastian Guhr hat eine bezaubernde, spannende, lustige und äußerst unterhaltsame Romanbiografie über den deutsch-französischen Naturforscher und Autor Adelbert von Chamisso verfasst.

Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass es Guhr schafft, dieses schillernde, prall gefüllte Leben auf gerade einmal 200 Seiten nachzuzeichnen, beginnend von Chamissos jungen Jahren, in denen er aus seiner behüteten Kindheit auf Boncourt in der Champagne, dem Stammschloss seiner adeligen Familie gerissen wird. Die in Folge der französischen Revolution verarmten Eltern fliehen über mehrere Zwischenstationen schließlich bis nach Berlin. Chamisso verdingt sich beim Militär, wird Linguist und Naturforscher - und Liebhaber zahlreicher Damen.

Sebastian Guhr bleibt bei der Schilderung von Chamissors Lebensweg fast durchweg nah an den bekannten Fakten, versteht es aber, diese gekonnt mit fantasievollen Details auszuschmücken. So wähnt man sich bei der Lektüre schnell inmitten eines Abenteuer- oder Liebesromans, wenn von Adelberts amourösen Verstrickungen oder seinen Forschungsreisen rund um die Welt erzählt wird.

Besonders hervorheben möchte ich den wundervoll gestalteten Schutzumschlag mit geprägten Muschelornamenten, der dem Hardcover eine sehr hochwertige und edle Note verleiht - perfekt als Geschenk!

Bewertung vom 19.12.2022
Leupold, Dagmar

Dagegen die Elefanten!


ausgezeichnet

Eine kleine Warnung zu Beginn: Actionfans werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. An klassischer Handlung passiert in dieser Geschichte wenig, etwa die Hälfte des Romans ist erzählt, bis das ansonsten recht ereignislose Leben des Garderobiers "Herrn Harald" aus den Fugen zu geraten droht, als er eine Schreckschusspistole in einem nicht abgeholten Mantel findet. Doch auch dieser Einschnitt wirbelt in erster Linie die Gedanken des Protagonisten durcheinander; am Ablauf seines recht geordneten Alltags ändert sich wenig.

Überhaupt ist Herr Harald sehr geordnet und strukturiert. Der Ofen wird zwei Mal im Jahr gereinigt, ob er benutzt wurde oder nicht. Und seine Selbstkontrolle geht so weit, dass er sich sogar mental korrigiert, wenn er findet, dass er etwas Übertriebenes gedacht hat. Überhaupt spielen in diesem Roman Gedanken und Sprache eine zentrale Rolle. Die Introvertiertheit und mangelnde Sozialkontakte der Hauptfigur bringt ein Satz auf den Punkt: "Überhaupt hat er schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat." Leupold lässt die Leser*innen förmlich ins Innerste ihres Protagonisten kriechen. Nicht nur was, sondern wie er denkt nimmt viel Raum ein. Dabei ist jeder Seite die immense Liebe der Autorin zur Sprache anzumerken, etwa hier: "Durch das Küchenfenster dringt schlechtgelauntes Licht, das bereits anderswo im Einsatz war und nur noch spärlich auftritt." Harald hat einen Hang zum Pedantischen, er nennt sein Wohnzimmer lieber Arbeitszimmer, denn "schließlich wohnt man in allen Zimmern". Auch an der Formulierung "Olympische Spiele" stört er sich, er verwendet "Olympische Wettkämpfe", da es in seinen Augen keine Spiele sind. Trotz derartiger Erbsenzählereien entwickelt man unweigerlich Sympathien für den älteren Junggesellen, spätestens als er sich in eine Notenumblätterin verliebt und diese unbeholfen anschmachtet. Und kurze, oft nur angedeutete Rückblicke geben eine Ahnung der schweren Vergangenheit des "Harald-Kindes".

Es ist ein zarter, leiser Roman voller kluger Sprachbetrachtungen, der aufzeigt, welche Persönlichkeit hinter einem unauffälligen Menschen stecken kann. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 15.12.2022
Kitamura, Katie

Intimitäten


gut

So ungewöhnlich das Setting von Katie Kitamuras sechstem Roman ist, so großartig meistert sie dies: Die namentlich nicht näher genannte Protagonistin zieht aus New York nach Den Haag, um dort eine Stelle als Dolmetscherin am internationalen Strafgerichtshof anzutreten. Feinfühlig und überzeugend bringt Kitamura ihren Leser*innen nahe, wie belastend diese Tätigkeit sein kann, geht es doch beim Simultanübersetzen nicht nur um sprachliche Nuancen, die die Bedeutung einer Aussage verändern können, sondern auch ein Zögern oder Zittern in der Stimme der Dolmetscherin kann die Glaubwürdigkeit eines Zeugen mindern. Auch habe ich mit Spannung gelesen, wie Dolmetscherdienste nicht nur vor Gericht, sondern auch im Gefängnis bei Besprechungen der Angeklagten mit ihren Verteidigerteams vonstatten gehen.

Nicht wirklich überzeugt hat mich hingegen die Liebesgeschichte, und wirklich ärgerlich finde ich, dass zahlreiche Nebenschauplätze eröffnet werden, die seltsam in der Schwebe bleiben. Die Dolmetscherin findet eine gute Freundin, die Freundschaft entwickelt sich jedoch nicht. Der verheiratete Bruder der Freundin wird Opfer eines Überfalls, hat augenscheinlich eine Affäre, aber wieso all dies Eingang in diesen Roman gefunden hat, erschließt sich mir nicht. Letztlich verschwinden diese Figuren so plötzlich, wie sie aufgetaucht sind. Trotz dieser Schwächen ein lesenswerter Roman.

Bewertung vom 15.12.2022
Poladjan, Katerina

Zukunftsmusik


sehr gut

Katerina Poladjans neuester Roman spielt an einem einzigen Tag. Es ist der 11. März 1985, der Tag nach dem Tod des sowjetischen Generalsekretärs Tschernenko. An diesem Tag wurde Michail Gorbatschow zu dessen Nachfolger gewählt. Dies wird nicht explizit erwähnt, und doch scheinen bei einer gewissen Grundschwermut, die sich durch die Erzählung zieht, auch immer wieder hoffnungsvolle Zukunftsaussichten durch.

Ausgangspunkt der Geschichte ist eine Kommunalka, eine Gemeinschaftswohnung mit sechs Mietparteien. Der Staat ist auch im Privaten stets gegenwärtig, was beispielsweise dadurch deutlich wird, dass sogar die Länge der Küchentische vorgeschrieben ist. Die Bewohner sind bunt zusammengewürfelt, vom systemgetreuen Genossen, unter dessen Verantwortung ein Student bei einem medizinisch-physikalischen Versuch stirbt, bis zur jungen Musikerin, die nicht weiß, welcher ihrer Liebhaber der Vater ihrer Tochter ist. Dabei ist der Autorin eine grundlegende Liebe zu den Menschen anzumerken, egal wie schrullig eine Figur gerät, sie ist immer auch mit liebenswerten Eigenschaften ausgestattet.

Der Roman ist von extremer Dichte und voller Anspielungen auf russische Literatur und Musik, die ich ehrlich gesagt mangels entsprechender Kenntnisse großteils nicht verstanden habe. Sehr unterhaltsam fand ich die stellenweise surrealen, zumindest aber skurrilen Twists. Und auch Poladjans Humor ist großartig, etwa wenn es über den Erdtrabanten heißt: "Was die Amerikaner vom Mond übrig gelassen hatten, hing tief am Nachmittagshimmel."

Bewertung vom 12.12.2022
Nickel, Eckhart

Spitzweg


sehr gut

Nur extrem selten breche ich die Lektüre eines Buches ab; selbst wenn es mir gar nicht liegt, pflege ich beim Lesen eine Art Grundoptimismus: Ich gehe immer davon aus, dass es noch besser werden kann, ja eigentlich besser werden muss, ich mag schlichtweg nicht glauben, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, etwas wirklich Schlechtes zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Leider wurde ich schon ab und an eines Besseren belehrt ...

Im Fall von "Spitzweg" jedoch hat sich mein Durchhaltevermögen ausbezahlt. Zwar konnte ich das erste Drittel des Romans nicht wirklich genießen, zu sehr nervten mich die extrem überzeichneten Figuren, und auch der Plot nahm mich nicht sonderlich für sich ein. Zu abstrus und surreal schien mir alles. Richtiggehend genervt war ich vom überkandidelten, dandyhaften Gymnasialfreund des jugendlichen Ich-Erzählers, der völlig aus der Zeit gefallen ist. Sowohl im äußerer Erscheinung als auch vom Sprachduktus her passt er eher in die Epoche des von ihm hochverehrten spätromantischen Malers Carl Spitzweg als in die Gegenwart.

Doch schließlich befreite ich mich von meinem Realitätsanspruch, und überraschenderweise wurde ich prompt äußerst angenehm, humorvoll und clever unterhalten. Nickels Text strotzt förmlich vor Reminiszenzen, Zitaten und Querverweisen auf Kunst und Literatur, von denen ich mangels Studium der Kunstgeschichte und auch sonstiger humanistischer Bildung sicher etliche übersehen habe. Es bleiben schöne Einsichten darin, was Kunst vermag sowie die Gewissheit, diesen Roman in einiger Zeit mit Genuss erneut lesen zu werden.

Bewertung vom 12.12.2022
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

In über 700 Seiten fächert der Brite Ian McEwan das Leben seines Protagonisten Roland auf, vom elfjährigen Internatsschüler Ende der 1950er Jahre bis zum Mittsiebzigjährigen in der Gegenwart. Dabei kommt, trotz einiger Wiederholungen, keine Langeweile auf, was nicht zuletzt daran liegt, dass McEwan äußerst kluge Reflexionen darüber anstellt, wie Erinnerung funktioniert, und Roland seine Jugend in späteren Lebensphasen immer wieder unterschiedlich bewertet und interpretiert. So auch den Missbrauch durch seine Klavierlehrerin, der zu einer sexuellen Obsession führt, die sein Sexualleben über Jahrzehnte hinweg prägt und von ihm erst spät als übergriffig erkannt wird.

Stets im Wandel ist auch, was er als erstrebenswert erachtet, was für ihn ein erfülltes Leben bedeutet. McEwan erzählt von verpassten Chancen, aber auch von solchen, die unerwartet spät im Leben doch noch ergriffen werden. Umrahmt von zeitgeschichtlicher Kulisse (Kubakrise, Thatcherismus, Fall der Berliner Mauer, Brexit und Covid-Pandemie) lässt sich die Story sowohl als Entwicklungs- als auch als Generationen- und Gesellschaftsroman lesen.

Und wer mit der Biografie des Autors vertraut ist, mag überdies Gefallen daran finden, autobiografische Anteile aus der Fiktion heraus zu arbeiten. Sprachlich ist der Roman solide, aber wenig aufregend, seine Stärken liegen vor allem darin, auch unbedeutende Nebenfiguren mit interessanten Handlungssträngen zu versehen und die Altersweisheit des Autors sehr unterhaltsam mit Zeit- und Lebensgeschichte zu verflechten.

Bewertung vom 12.12.2022
Kaiser-Mühlecker, Reinhard

Wilderer


ausgezeichnet

"Ich sehe es wirklich als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, darzustellen, also erfahrbar zu machen - einem, der sie nicht kennt." So wird Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker im Klappentext seines aktuellen Romans zitiert. Dieser selbst auferlegten Verpflichtung ist er mit "Wilderer" auf hervorragende Weise nachgekommen.

Protagonist ist der Jungbauer Jakob, der nicht nur mit seinen persönlichen Dämonen, sondern auch mit der Ablehnung durch Familie und Dorfgemeinschaft zu kämpfen hat. Der Erzählung kommt sicher zugute, dass Kaiser-Mühlecker weiß, worüber er schreibt: Selbst in einem oberösterreichischen Gehöft aufgewachsen führt er - neben der Schriftstellerei - die Landwirtschaft seiner Vorfahren.

"Wilderer" ist von Anfang an von einer gewissen Schwere geprägt. Beeindruckt hat mich dabei, dass der junge Jakob allen Widrigkeiten trotzt und, obwohl er vieles hinterfragt, letztendlich doch immer weitermacht. Darin findet sich etwas sehr Tröstliches und Hoffnungsvolles; eine sehr empfehlenswerte Lektüre in diesen für viele so schweren Zeiten.

Bewertung vom 31.10.2022
Inokai, Yael

Ein simpler Eingriff


ausgezeichnet

In ihrem dritten Roman erzählt die Schweizerin Yael Inokai die Geschichte Merets, einer jungen, extrem pflichtbewussten Krankenschwester, die in einer psychiatrischen Klinik arbeitet. Meret assistiert bei Hirnoperationen an psychisch auffälligen Patientinnen, die anschließend wieder "funktionieren", niemandem mehr zur Last fallen sollen.

Auffällig ist, dass Männer durchaus psychisch fernab der Norm agieren können, ohne Gefahr zu laufen, dieser klinischen Behandlung unterzogen zu werden oder auch nur gesellschaftliche Sanktionen befürchten zu müssen: Merets Vater prügelt Frau und Kinder aus nichtigstem Anlass; Konsequenzen hat es für ihn keine. Zudem bleiben nahezu alle Figuren im klassisch-veralteten Rollenbild verhaftet. Das Pflegepersonal ist weiblich, der Doktor ein Mann.

​Doch dieser Roman ist mehr als Gesellschaftskritik, er erzählt auch eine überraschende und leidenschaftliche Liebesgeschichte. Und dabei bleibt Inokai zeitlich gesehen erstaunlich vage. Mal meinte ich, von den Anfängen der Hirnchirurgie zu lesen, um kurz darauf in die Gegenwart katapultiert zu werden, dann wieder tauchte ich in eine Dystopie ein. Eine sehr bewegende Geschichte von großer Kraft und Dichte, unbedingt zu empfehlen!

Bewertung vom 31.10.2022
Fischer, Marcus

Die Rotte


sehr gut

Ein abgelegenes österreichisches Bergdorf Mitte der 1970er Jahre ist das Setting des Romandebüts von Marcus Fischer. Nicht gerade bahnbrechend, könnte man meinen, gibt es doch zuhauf Heimatromane, die in den Alpen spielen.

Doch Fischer bringt das Genre in die Moderne, seine Themen sind nicht wirklich neu (Misstrauen der Dorfgemeinschaft gegenüber Fremden, Neid und Missgunst, Lug und Trug), wohl aber wie er darüber schreibt. Sein mündlicher Erzählstil ist nicht nur gespickt von österreichischen Wörtern, sondern oft knapp, geradezu wortkarg, eben typisch für die Dorfler. Dieser Duktus vermittelt große Authentizität, stellt für Leser*innen, denen das österreichische Idiom nicht geläufig ist, jedoch eine Herausforderung dar. Schade, dass man hier auf ein Glossar verzichtet hat.

Großartig ist, wie Fischer das permanente Austarieren des Machtgefüges innerhalb des Weilers aufzeigt: So gerät ein Ausweichmanöver auf enger Straße schnell zum Kampf darum, wer das Sagen hat, und wer zurücksetzen muss. Auch die Kluft zwischen dem, was der Pfarrer sonntäglich predigt, und dem Alltag der Gläubigen wird verdeutlicht: "Weil für die Nächstenliebe muss sich jeder zusammenreißen, die kriegt keiner geschenkt."

Nicht ganz einfach waren für mich die beiden Zeitebenen, in denen die Geschichte spielt, da nur eine davon durch entsprechende Überschriften gekennzeichnet ist. Aber die Anstrengung lohnt, ich mochte den literarischen Ausflug in dieses fiktive Bergdorf sehr.