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YukBook
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München

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Insgesamt 314 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2021
Reuter, Christoph

Alle sind musikalisch - außer manche


ausgezeichnet

So ansprechend wie das Cover und die begleitenden Illustrationen ist die Art und Weise, wie uns Christoph Reuter in die Welt der Musik entführt. Der Berliner Pianist und Komponist zeigt, dass wir uns im Alltag kaum der Musik entziehen können, ganz gleich, ob wir uns für musikalisch oder unmusikalisch halten. In der Natur gibt es über 4.000 Singvogelarten, im Kaufhaus werden wir mit Hintergrundmusik berieselt und auf der nächsten Familienfeier wird mit Sicherheit ein Geburtstagsständchen gesungen oder Tanzmusik aufgelegt.

Christoph Reuter blickt dabei hinter die Kulissen, erklärt uns, wie Audio Architects individuelle Playlists für Hotelketten und Modelabels erstellen, wie Martin Luther die Entwicklung der Musik beeinflusste, wie man es in die Charts schafft oder wie man als DJ sein Publikum unterhält. Als Musikkabarettist vermittelt er sein Wissen nicht nur mit viel Humor, sondern hat auch skurrile Geschichten über Experimente mit Käse und nützliche Ratschläge für die Auswahl passender Hochzeitsmusik oder den Umgang mit Musikern in petto.

Man kann schmunzelnd und staunend Instrumente wie Glasharmonika oder Fender Rhodes kennenlernen oder auch selbst zur Tat schreiten, indem man den zahlreichen praktischen Anleitungen folgt, etwa wie man die Zwerchfellatmung übt, einen Blues Song schreibt oder Gitarre spielt. Mich hat das lehrreiche Buch nicht nur wunderbar unterhalten, sondern auch die Lust geweckt, in die vorgestellten Ohrwürmer hineinzuhören und das Klavierspiel wieder aufzunehmen.

Bewertung vom 05.06.2021
Ditlevsen, Tove

Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Die meisten Kinder können es kaum erwarten, erwachsen zu sein, doch bei Tove Ditlevsen war das anders, wie wir in diesem ersten Teil der Triologie erfahren. Obwohl die Kindheit für sie „schmal wie ein Sarg“ und alles andere als glücklich ist, möchte sie das Ende so lang wie möglich hinauszögern. Die Welt der Erwachsenen ist für sie ein Mysterium.

Tove wächst in den 1920er Jahren als Tochter eines arbeitslosen Heizers und einer Hausfrau im Arbeiterviertel Vesterbro auf und liebt Bücher und die Lyrik. Als sie verkündet, dass sie Schriftstellerin werden will und von ihren Eltern nur Spott und Häme erntet, behält sie ihre Gefühle und Sehnsüchte von nun an für sich. Alles, was ihr im wahren Leben fehlt, malt sie sich in ihrer Fantasie aus, schreibt Gedichte darüber in ihr Poesiealbum und versucht damit, die fehlende Zuneigung ihrer Mutter und den Mangel an Freunden wettzumachen.

Selten habe ich erlebt, dass sich jemand so klug, intensiv und verstörend mit seiner Kindheit auseinandersetzt. Die autofiktionale Erzählweise erinnerte mich an Karl Ove Knausgård, doch während dieser gern weit ausholt, verdichtet Tove Ditlevsen ihre Erlebnisse. Was es bedeutet, in ärmlichen Verhältnissen aufzuwachsen, in seiner Begabung nicht gefördert zu werden und sich unverstanden zu fühlen, kleidet Tove Ditlevsen in poetische Sätze, die einen nicht mehr loslassen. Ich bin sehr gespannt, wie es im zweiten Teil "Jugend" weitergeht.

Bewertung vom 01.06.2021
Tinning, Gertrud

Die Frauen von Kopenhagen (eBook, ePUB)


sehr gut

Schauplatz der Geschichte ist die Rubens Tuchfabrik in Kopenhagen, die von 1857 bis 1927 tatsächlich existierte und zu den größten Arbeitgebern für Frauen zählte. Die Protagonistin Nelly Hansen muss mitansehen, wie ihre Schwägerin durch Fahrlässigkeit der Fabrik einen schweren Unfall erleidet und will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Eines Tages tritt der Nachbar und Werftarbeiter Johannes in ihr Leben.

Welche Umstände den Jütländer nach Kopenhagen verschlagen haben, erfahren wir im zweiten Teil, der auf seinem elterlichen Hof spielt. Auch auf dem Land führen Frauen wie seine Schwester Anna ein arbeits- und entbehrungsreiches Leben und werden an reiche Bauern verschachert, um die Existenz der Familie zu sichern.

Ab da nahm die Geschichte eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte. Ich war etwas enttäuscht, dass Nellys Versuch, die Weberinnen für den Kampf um ihre Rechte zu mobilisieren, und die Anfänge der Frauen-Arbeiterbewegung nur am Rande behandelt werden. Sehr detailliert und authentisch beschreibt Gertrud Tinning dagegen anhand Annas Odyssee durch Kopenhagen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen zur Zeit der Industrialisierung, die Armut, Ausbeutung und sozialen Ungerechtigkeiten.

Sehr aufschlussreich fand ich das Nachwort, in dem sie erläutert, von welchen realen Personen und Ereignissen sie sich inspirieren ließ. Sie zeichnet ganz typische Schicksale von Arbeiterinnen und macht uns die bedeutenden Errungenschaften der Arbeiterbewegung und Sozialdemokraten bewusst.

Bewertung vom 24.05.2021
McAfee, Annalena

Blütenschatten


ausgezeichnet

Anfangs fragte ich mich, worauf ich mich da nur eingelassen hatte und begleitete mit Unbehagen die Hauptfigur Eve auf ihrem nächtlichen Spaziergang durch London. Kaltherzig und sarkastisch zieht die sechzigjährige Malerin Bilanz und scheint mit der ganzen Welt abrechnen zu wollen: der Kunstszene, den Medien, ihren einstigen Freundinnen und Liebhabern, der jungen Generation – selbst an ihrer Tochter lässt sie kein gutes Haar.

Doch als sie sich Hals über Kopf in ihren halb so alten Assistenten verliebt, zeigt sie auf einmal eine menschliche und verletzliche Seite, und ab da hat mich die Geschichte richtig gepackt. Was die Affäre mit Luka in ihr auslöst, ihr Verlangen nach körperlicher Liebe und Bestätigung, aber auch Unsicherheit sind unglaublich gut beschrieben.

Genauso spannend liest sich Eves großes Kunstprojekt, das in einer Woge von Kreativität und Sinnlichkeit immer mehr Gestalt annimmt, während das Arbeitsklima im Team in eine völlige Schieflage gerät. Ich hatte das Gefühl, immer tiefer in Eves Innenwelt zu blicken und zu begreifen, welchen Stellenwert die Arbeit in ihrem Leben hat, warum sie trotz der Kritiken am Pflanzenmotiv festhält und was sie dazu antreibt, ein Vermächtnis zu hinterlassen. Sowohl was die Figuren, die Handlung als auch die Dramaturgie betrifft ein sehr außergewöhnlicher und lesenswerter Roman!

Bewertung vom 20.05.2021
Runcie, Charlotte

Wie Salz auf der Zunge


sehr gut

Dieses Buch möchte man am liebsten am Strand lesen mit Blick auf das weite Meer. Aber auch wenn das nicht möglich ist, meint man bei der Lektüre die Seeluft zu riechen und das Rauschen der Wellen zu hören. In poetischer Sprache und intensiven Bildern entführt uns Charlotte Runcie in das Reich der Meere und zwar aus weiblicher Sicht.

Die Autorin ist in ihre Heimat Edinburgh zurückgekehrt und liest, schreibt und singt sogar in einem Volksliederchor über das Meer. Der Ozean symbolisiert für sie zugleich Abenteuer und Zuhause, Lebensader und Lebensgefahr.

Ihre Kenntnisse über Seefahrer und Seemannslieder, Meerjungfrauen und Muschelsammlerinnen sowie Meeresbewohner und Gezeiten sind wahrlich beeindruckend. Auch eine persönliche Komponente kommt ins Spiel, denn die Autorin erwartet ein Kind und empfindet ihre Schwangerschaft als ebenso bedrohlich, mysteriös und wundersam wie den Ozean und die Kräfte der Natur.

Was ich vermisst habe, ist ein roter Faden, der die losen Geschichten, Fakten und gedanklichen Exkurse miteinander verbindet und in eine Rahmenhandlung einbettet. Der Tod ihrer Großmutter und ihre Schwangerschaft bilden zwar eine Klammer, aber ich hätte mir noch mehr Bezüge zu ihrem Leben gewünscht. Nichtsdestotrotz habe ich sehr viel Wissenswertes gelernt und sehne mich schon jetzt nach einem Sommerurlaub am Meer.

Bewertung vom 16.05.2021
Ishiguro, Kazuo

Klara und die Sonne


gut

So wie Spaziergänger gern die Auslagen von Schaufenstern studieren, so studiert Klara vom Schaufenster aus tagein tagaus das Verhalten der Kunden und Passanten. Die Heldin in Kazuo Ishiguros Roman ist jedoch nicht etwa eine Puppe, in die der Autor Leben eingehaucht hat, sondern eine solarbetriebene KF, eine Künstliche Freundin, die darauf wartet, ein neues Zuhause zu finden und einen jungen Menschen ins Erwachsenenalter zu begleiten.

Bis dahin nutzt Klara die Zeit, um so viel wie möglich über die Menschen und ihren Umgang mit ihren künstlichen Gefährten zu lernen. Ihre ausgeprägte Neugier und gute Auffassungsgabe nutzt auch die Managerin des Ladens als Verkaufsargument und überzeugt eines Tages mit Erfolg Josies Mutter. Josie ist schwerkrank und hat schon sehr lange ein Auge auf Klara geworfen.

In ruhigem Tempo erzählt Kazuo Ishiguro, wie Klara versucht, sich in ihre neue Umgebung einzuleben und allen Erwartungen gerecht zu werden, was ihr sichtlich schwer fällt. Die klare, wache Stimme und unsentimentale Lesart von Johanna Wokalek passt in der Hörbuchversion ideal zu Klaras Rolle.

Der Autor greift ein brisantes Thema auf, zumal die Künstliche Intelligenz gerade auf diesem Feld großes Potenzial birgt, und beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie viel Empathie ein künstliches Wesen entwickeln und gar einen Menschen ersetzen kann. Obwohl er interessante Denkanstöße gibt, hatte ich mir etwas mehr überraschende Momente in der Handlung und Interaktion zwischen Mensch und KF erhofft. Leider konnte ich bis zum Schluss eine gewisse Distanz zu den Figuren und zum Geschehen nicht überwinden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.05.2021
Higashino, Keigo

Kleine Wunder um Mitternacht


ausgezeichnet

Die Kleinkriminellen Atsuya, Kohei und Shota haben sich ihre Nacht in dem Gemischtwarenladen Namiya, wo sie kurzzeitig untertauchen müssen, sicherlich anders vorgestellt. Ein Brief, der durch den Briefschlitz fällt, schmeißt ihre Pläne völlig über den Haufen.

Nicht nur dieser, sondern viele weitere Briefe, die über diesen verlassenen Laden ausgetauscht werden, ohne dass sich Sender und Empfänger zu Gesicht bekommen, verändern so manches Leben, und immer liegt ein Hauch von Magie in der Luft.

Es ist nicht leicht, dieses Buch zu besprechen ohne zu viel zu verraten. Nur so viel sei gesagt: Keigo Higashino gibt uns Einblick in bewegende Schicksale, sei es das einer hadernden Sportlerin, eines verhinderten Musikers oder eines verzweifelten Beatles-Fans. Sie alle stehen vor einer schwierigen Entscheidung oder an einem Wendepunkt, suchen Rat und wachsen über sich hinaus.

Die Art und Weise, wie die verschiedenen Geschichten miteinander verbunden sind und die Figuren, die einem ans Herz wachsen, erneut auftauchen, ist einfach zauberhaft. Ein berührendes Plädoyer für Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und eine Balance zwischen familiärem Zusammenhalt und Selbstverwirklichung.

Bewertung vom 01.05.2021
Kankimäki, Mia

Dinge, die das Herz höher schlagen lassen


ausgezeichnet

Ich habe schon oft erlebt, dass ich mich mit einer Schriftstellerin stark verbunden fühle. Ähnlich ergeht es Mia Kankimäki, wie wir in diesem Buch erfahren. Ihre Faszination gilt allerdings einer Hofdame, die vor mehr als 1000 Jahren am japanischen Kaiserhof diente und und sich mit ihrem "Kopfkissenbuch“ einen Platz in der Weltliteratur verschaffte: Sei Shônagon.

Ihres Lebens überdrüssig, entscheidet sich die Texterin für eine einjährige Auszeit und begibt sich nach Kyôto, um über ihre Seelenschwester zu forschen und zu schreiben. Sie schätzt nicht nur ihren Feinsinn, Humor und ihre Selbstsicherheit, sondern auch die damals bedeutende Rolle der Frauen in der Literatur und den großen Stellenwert der Schönheit, Kunst und Dichtung. Ihr Vorhaben entpuppt sich jedoch als äußerst schwierig, da so wenig über sie überliefert ist.

Eine Sache macht Sei Shônagon auch für mich sehr sympathisch, denn mit ihren tagebuchartigen Notizen wirkt sie wie eine Bloggerin, und sie liebte es, Listen zu schreiben. Auch die Autorin greift diese Form auf, stellt ihre eigenen Eindrücke, Vorlieben und Beobachtungen Zitaten aus Sei’s Werk gegenüber und findet erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.

Mit viel Witz und Ironie erzählt Mia Kankimäki von ihrer beengten Unterkunft und ihren Multikulti-Mitbewohnern, von Ausflügen quer durch Japan und von mühsamen Recherchen, die bis nach London führen. Es macht großen Spaß, sie dabei zu begleiten und nebenbei viele Einzelheiten über das höfische Leben und die Sitten in der Heian-Zeit zu erfahren. Man sollte Lust haben, sich ähnlich wie sie treiben zu lassen und sich auf ein Abenteuer mit vielen unvorhergesehenen Ereignissen und zu guter Letzt eine Reise zu sich selbst einzulassen.

Bewertung vom 24.04.2021
Landsteiner, Anika

So wie du mich kennst


ausgezeichnet

Die Schwestern Karla und Marie haben trotz ihrer völlig unterschiedlichen Lebenswege eine so innige Beziehung, dass man glatt neidisch werden kann. Umso härter trifft Karla die Nachricht, dass ihre jüngere Schwester bei einem Unfall ums Leben kam. Ein trauriger Anlass für die Lokaljournalistin in Franken, nach New York zu fliegen und Maries Wohnung aufzulösen. Noch größer ist der Schock, als sie herausfindet, was Marie ihr verschwiegen hatte.

Für viel Spannung sorgen nicht nur die Fotos, die Karla auf Maries Laptop entdeckt, sondern ihre eigenen Beobachtungen eines Paares im Haus gegenüber. Man begreift schnell, dass es in dieser Geschichte nicht nur um Trauerbewältigung geht, was mich immer tiefer in die Handlung hineinzog, die abwechselnd aus Karlas und rückblickend aus Maries Perspektive erzählt wird.

Annika Landgärtner beschreibt sowohl die wechselnden Gefühlslagen beider Protagonistinnen als auch die Atmosphäre in den New Yorker Straßen und Künstlervierteln sehr intensiv und sprachgewandt. In vielen Facetten spiegelt sich ein zentrales Thema wider, das erst im Laufe der Handlung ans Licht kommt, und die Botschaft, selbst sein Leben in die Hand zu nehmen, um seine Träume zu verwirklichen und glücklich zu sein, auch wenn man sich dabei seinen größten Ängsten stellen muss. Das alles hat mich tief angesprochen – bis auf eine Offenbarung zum Schluss, die nicht hätte sein müssen und meine Begeisterung ein wenig dämpfte.

Bewertung vom 15.04.2021
Aicher, Mathias

Die Offenbarung der Johanna


sehr gut

Es ist nicht üblich, in einer Lesung einen Mordfall aufzuklären. Genau das tut jedoch Johanna Krämer in dieser Geschichte. Im Kaisersaal von Woltersweiler, ihrem Heimatort, verkündet die Bestsellerautorin, den wahren Mörder ihrer besten Freundin Nikki zu entlarven, die 1988 vergewaltigt wurde. Beschuldigt wurde damals Johannas Bruder Jacob, der sich in Untersuchungshaft das Leben nahm.

So gebannt wie die 300 Besucher dieser Lesung lauschen wir im Hörbuch der Stimme von Yesim Meisheit, die den Part des vorgetragenen Romans übernimmt. Darin begibt sich die vom Dienst suspendierte Kommissarin Jules Wunderlich nach dem Tod ihres Vaters in ihren Heimatort und rollt den Mordfall wieder auf. Die Spannung wird dadurch gesteigert, dass nicht nur nach und nach die Dorfbewohner mit ihren Geheimnissen eingeführt, sondern auch ihre heftigen Reaktionen während der Lesung beschrieben werden.

Für meinen Geschmack hätte die Geschichte etwas mehr Tempo und etwas weniger Kraftausdrücke vertragen. Manche Schilderungen schienen mir nicht relevant für die Auflösung des Falls zu sein, machten andererseits die ambivalenten Gefühle der Hauptfigur sowohl während ihrer Recherchen als auch während der Lesung deutlich. Das Konzept, eine Lesung in einen nervenaufreibenden Psychotrip zu verwandeln, der an ein Krimidinner erinnert, ist auf jeden Fall aufgegangen.