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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 20.06.2023
Bärfuss, Lukas

Die Krume Brot (MP3-Download)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

„Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, 45 Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz.“

So beginnt der Roman, und der Leser weiß: das endet nicht gut. Er weiß aber auch, dass er nun die Ursachen für das Unglück Adelinas, der jungen Protagonistin erfährt. Es beginnt mit ihrem Großvater in Triest, ein treuer Anhänger Gabriele d’Annunzios und dann auch Mussolinis und ein Feind der Slawen. Der Großvater gibt diese Überzeugungen weiter an seinen Sohn, und der wieder an seinen Sohn Mario, der der Vater Adelinas werden wird.

Der Vater liebt seinen einzigen Sohn Mario abgöttisch, und das Unglück beginnt damit, dass er eines Tages von einem Verwandten auf dessen slawische Wurzeln hingewiesen wird. Von Stund an überzieht der Vater den jungen Mario mit Ablehnung, einer Ablehnung, die sogar so weit geht, dass er ihn in den Krieg ziehen lässt und auf seinen Tod hofft. Mario wird ein getriebener Mensch, er ist verunsichert, an keinem Ort hält er es lange aus, schließlich zieht er mit großen Hoffnungen in die Schweiz, aber in keiner Tätigkeit kann er dauerhaft Fuß fassen, trotz herausragender intellektueller Gaben.

Mit diesen intellektuellen Gaben ist sein einziges Kind, Adelina, nicht gesegnet. Sie verlässt die Schule als Analphabetin, und da ihr Vater bei seinem Tod horrende Schulden hinterlässt, kann sie ihre künstlerischen Talente nicht entfalten. Sie muss als ungelernte Kraft arbeiten. Und so gerät sie in die Mühle des Kapitalismus, aus der sie sich nicht mehr befreien kann, erst recht nicht, als sie für ein Kind zu sorgen hat und als Italienerin in der Schweiz Restriktionen unterliegt.
Immer wieder versucht sie einen kleinen Befreiungsschlag, aber sie gerät nur immer tiefer in die Fallen eines menschenverachtenden Systems, in dem sich ihre Eltern schon verloren hatten. Sie erkennt zwar ihre Abhängigkeit, aber sie kann sich nicht daraus lösen, weil sie die zugrundeliegenden Mechanismen nicht durchschaut.

Der Autor zeichnet diese Abhängigkeiten fast quälend nach, und es ist ihm offensichtlich ein Bedürfnis, dem Leser das Funktionieren dieser Mechanismen begreiflich zu machen. Dazu wählt er eine Figur aus, Renato, der einen langen Vortrag hält. Dieser Vortrag ist, zugegeben, didaktisch geschickt aufgebaut, aber er unterbricht die Erzählung mit seinem Theoretisieren. Mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn der Autor seine Sozialkritik ausschließlich über die Handlung transportiert hätte.

Dennoch: Bärfuss‘ Blick auf die zeitgenössische Schweiz ist scharf und gnadenlos, und wenn man seine Biografie kennt, weiß man, dass er das selbst erlebt hat: bitterste Armut in einem reichen Land.

Adelina lässt sich mitreißen und entschließt sich, den Roten Brigaden beizutreten und eine andere, gerechtere Welt zu schaffen. Aber sie verkennt, dass sie auch hier wieder in eine neue Abhängigkeit rutscht und lediglich instrumentalisiert wird. Schließlich erkennt sie völlig desillusioniert, dass ihr Leben immer ein Kampf sein wird:

„Wie soll es weitergehen, woher soll das Geld kommen, woher die Krume Brot? - … sie hatte nichts zu geben als einen ewigen Kampf.“

Bärfuss erzählt in immer ruhigen Ton diese Geschichte eines Scheiterns und legt dessen Ursachen bloß. Die ruhige Stimme von Sandra Hüller mit ihrem ganz besonderen Timbre macht das Hörbuch zu einem Hör-Vergnügen.

Ein Buch zum Nachdenken.

Bewertung vom 31.05.2023
Horowitz, Anthony

Wenn Worte töten / Hawthorne ermittelt Bd.3


sehr gut

Horowitz ist ein routinierter Erzähler. Er bedient sich bei A. C. Doyle und gestaltet ein Ermittlerpaar, das Sherlock Holmes und seinem Freund Dr. Watson ähnelt. Auch hier ist der Erzähler der Chronist der spektakulären Fälle, die der geniale Detektiv Hawthorne löst. Allerdings sind die Beiden nicht befreundet, und es kommt immer wieder zu Reibereien, vor allem dann, wenn dem Erzähler die überlegene und auch überhebliche Art des Detektivs sauer aufstößt.

Die Routiniertheit des Autors zeigt sich auch daran, wie gekonnt er Realität und Fiktion miteinander vermischt. Er benennt seinen „Dr. Watson“ nach sich selber und hat dadurch die Möglichkeit, den Literaturbetrieb und seine Merkantilität, speziell das Verlagswesen, mit durchaus kritischen Kommentaren vorzustellen und in die Handlung einzubauen.

Der Autor siedelt seine Handlung in einem Literaturfestival an. Dadurch hat er die Möglichkeit, einen großen Figurenreigen aufzustellen. Der Kreis der Verdächtigen ist also groß, als nach einem gemächlichen, aber nicht langweiligen Beginn endlich der Mord geschieht, der den Detektiv aktiv werden lässt. Jede der Figuren hätte ein Motiv, und Hawthorne kommt in seinen Ermittlungen ihren Abgründen und Geheimnissen auf die Spur.
Ob es allerdings nötig gewesen wäre, mit einer der Figuren die Handlung um Elemente des Agentenromans auszuweiten?

Die Lösung des Falls geschieht ebenfalls eher altmodisch ausschließlich mit Beobachtungs- und Kombinationsgabe. Dazu passt, dass der Roman auf einen spektakulären Aktionismus verzichtet, sondern der Täter wird schließlich eher leise und fern jeder Öffentlichkeit überführt.

Das Hörbuch wird perfekt von Uve Teschner eingelesen.

Eine spannende, humorvolle, sehr ansprechende, kurzweilige Lektüre!

Bewertung vom 29.05.2023
Motte, Anders de la;Nilsson, Måns

In Schweden stirbt es sich am schönsten / Die Österlen-Morde Bd.2


sehr gut

„In Schweden stirbt es sich am schönsten“ ist der 2. Band der Österlen-Reihe. Die Bände bauen offensichtlich nicht aufeinander auf, man kann sie ohne Verständnisprobleme einzeln lesen.

Die beiden Autoren sind Routiniers, und das merkt man an vielen Punkten deutlich. Da ist zunächst einmal das Ermittlerduo, das unterschiedlicher kaum sein kann. Tove Esping ist eine junge und ehrgeizige Kommissarin, die endlich ihren ersten eigenen Mordfall eigenständig bearbeiten will. Sie ist eher ein Landei, während Peter Vinston – auf Erholungsurlaub auf dem Lande – als überzeugter Stadtmensch gezeichnet wird, der zudem eine zwanghafte Angst vor Tierhaaren und anderen Fusseleien auf seinen stets korrekten Anzügen hat. Seine Routiniertheit kontrastiert mit ihrer Unerfahrenheit, sodass es gelegentlich im Getriebe knirscht, was der Handlung aber Würze verleiht.

Die Handlung entführt den Leser in die Welt der Antiquitätenhändler und ist recht verschachtelt. Immer neue Erkenntnisse sorgen für überraschende Wendungen, und der Leser begibt sich mit dem Ermittlerduo auf immer neue Spuren. Die Handlung ist kompliziert, aber immer schlüssig. Und es gibt nicht nur den einen Bösewicht, sondern der Mord ist der Gipfelpunkt einer Kette von Gaunereien, an denen mehrere Personen beteiligt sind.

Die Auflösung wird schließlich, wie man es von den Agatha-Christie-Krimis kennt, in Form eines großen Tableaus geboten, bei dem alle Verdächtigen anwesend sind. Nicht nur alle Verdächtigen, sondern auch alle Besucher einer Antiquitätenmesse erleben die Auflösung in aller Öffentlichkeit mit; das hätte ich mir etwas diskreter gewünscht.

Der Krimi verzichtet auf Leichenberge und blutige Quälereien, es gibt keine rasanten Verfolgungsjagden mit Schießereien und dergleichen. Trotzdem ist der Krimi keine Sekunde langweilig.

Insgesamt eine spannende und flüssig zu lesende Geschichte, leicht erzählt und leicht zu lesen.
Ein sommerlicher Lesespaß!

Bewertung vom 28.05.2023
Glaesener, Helga

Die Wikingerin


gut

Die Autorin versetzt ihren Leser in die Zeit der Wikinger-Raubzüge am Ende des 9. Jhdts n. Chr.
Die Wikinger wurden zwar nicht, wie Glaesener schreibt, als „die Geißel Gottes“ bezeichnet; dieser Beiname gebührt dem Hunnenkönig Attila. Trotzdem: der Name passt. Die Wikinger wurden aufgrund ihrer blitzartigen Überfälle vom Wasser aus von den betroffenen Siedlungen durchaus als Geißel Gottes erlebt.

Die Protagonistin ist Solveigh, die Tochter Haralds, der durch seinen Sieg im Havrsfjord im Jahre 872 zum ersten Mal einen zusammenhängenden Machtbereich schuf, der sich später zum Königreich Norwegen entwickelte. Die zärtliche Liebe des Königs zu seiner Tochter schlägt um in einen so tiefen Hass, dass er einen Preis auf ihren Kopf aussetzt und sie damit zur Flucht zwingt. Die Begründung dieses plötzlichen und tödlichen Hasses überzeugt nicht ganz, auch der Vernichtungswille gegenüber seinen anderen Kindern wird nicht nachvollziehbar begründet.

Dramaturgisch gesehen ist er allerdings notwendig, denn so bringt die Autorin die Handlung in Gang und kann ihre junge Protagonistin auf eine große Reise schicken, die sie von ihrer norwegischen bzw. dänischen Heimat über England und Irland bis nach Paris kommen lässt.

Diese Reise mutet an wie eine Räuberpistole. Die Autorin bietet alles: Freundschaft, Fürsorge, Hass, Mord, Folter, Verrat, Liebe, Unwetter, Flucht, Intrigen, Eifersucht, Druidenzauber, Christianisierung, Hinrichtungen, Fürstenhöfe, Bordleben, Grausamkeiten, Listen etc.

Dazu kommen unglaubliche Zufälle, sodass Solveigh schließlich eine neue Heimat findet und diese Heimat vor den Wikingern rettet.

Eines muss man der Autorin lassen: sie baut die historischen Ereignisse – hier ist es v. a. die Belagerung von Paris – und die dazugehörigen Figuren wie Graf Balduin von Flandern, Graf Odo von Paris, den zögerlichen Frankenkaiser Karl d. Kahle u. a. geschickt und überzeugend in ihren Roman ein. Auch bietet sie ihrem Leser ein authentisches Bild der Kampftechnik der Wikinger. Und ein weiteres muss man ihr lassen: sie kann erzählen, spannend und bunt.

Bewertung vom 12.05.2023
Hornby, Nick

Dickens und Prince


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Dickens und Prince? Eine erstaunliche Kombination! Was ist es, was diese beiden Künstler gemeinsam haben? Und über die Jahrhunderte hinweg verbindet? Eine Gemeinsamkeit haben sie auf alle Fälle: sie werden vom Autor verehrt, und zwar so sehr, dass ihre Portraits wie Ikonen über seinem Schreibtisch hängen, wie er am Schluss seines Essays zugibt.

Hornby begibt sich quasi auf Spurensuche und stellt die beiden Ausnahmekünstler anhand von Schwerpunkten vor. Er hat penibel recherchiert und findet tatsächlich einige erstaunliche Parallelen. Er beginn bei der traumatischen Kindheit, die beide hatten: eine harte Jugend, die von bitterer Armut und Verlassenheit geprägt war. Beide waren gezwungen, früh auf eigenen Beinen zu stehen, und beide waren schon als junge Erwachsene sehr erfolgreich. Trotz oder wegen ihres außerordentlichen Erfolges hatten beide großen Ärger mit ihrem Agenten bzw. Verleger, der sie sehr verbitterte: Prince bekriegte sich jahrelang sehr plakativ mit seiner Plattenfirma Warners, während Dickens das Recht auf geistiges Eigentum einforderte und gegen seine Plagiatoren ausgiebig (und vergeblich) prozessierte.

Interessant ist eine weitere Gemeinsamkeit, auf die Hornby ausführlich eingeht: Sowohl Dickens als auch Prince finden ihre Lösung darin, neue mediale Wege auszuprobieren. Dickens entscheidet sich für das Format der Fortsetzungsromane und Prince nutzt die medialen Möglichkeiten des Internets, und beide erkennen, dass es nicht ausreicht, zu komponieren und zu dichten, sondern dass sie ihre Werke entsprechend vorstellen müssen. Und so werden sie beide zu Performern: Prince in seinen aufwändigen Bühnenshows, und Dickens bei seinen theatermäßig gestalteten Lesungen, die ihm viel Geld einbrachten.

Hornby hebt die unglaubliche und nie nachlassende Kreativität und Produktivität dieser beiden Künstler hervor, die allerdings v. a. bei Dickens auch auf wirtschaftlichem Druck beruhte. Trotzdem: beide sind ungeheuer fleißig, sie verbrennen quasi, und sie hinterlassen ein gewaltiges Werk.

Was macht ein Genie zum Genie? Welche Eigenschaften sind es, die Dickens und Prince so erfolgreich machten? Hornby hat einige Ratgeber befragt und stellt fest, dass Dickens und auch Prince offenbar alles verkehrt gemacht haben. Sie haben nicht jahrelang geübt, und, ganz wichtig, beide hatten keine Zeit zum Perfektionieren ihrer Werke: sie „wollten kreieren, nicht grübeln.“

Es geht aber nicht nur um Dickens und Prince, sondern Hornby räsonniert auch über sein eigenes Schaffen, und damit bekommt dieser Essay einen sehr persönlichen Anstrich.

Der Essay wird eingelesen von Thomas Nicolai, und es gelingt ihm hervorragend, mit seiner modulationsstarken Stimme den Witz und Humor dieses launigen und kurzweiligen Essays wiederzugeben.

Bewertung vom 11.05.2023
Valangin, Aline

Dorf an der Grenze


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Ein kleines Tessiner Dorf direkt an der italienischen Grenze, abgelegen, in einer unzugänglichen Natur: das ist der Schauplatz dieses Romans. Eine Idylle, denkt man, und das ist es auch, wenn man sich mit dem Blick von außen begnügt. Und genau den hat Aline Valangin nicht. Sie ist Schweizerin und sie schaut genau hin, und ihr Blick legt bitterböse und gnadenlos die Scheinheiligkeit dieser Idylle frei.

Die Geschichte spielt während des II. Weltkrieges. Die Nachricht vom Ausbruch des Krieges berührt die Bewohner weiter nicht. Allerdings horten sie Mehl und haben damit ihrer Meinung nach ihre Pflichten erfüllt. Und ansonsten? „Der Krieg, der tobte draußen, wo die Berge flach werden“ (S. 23). Für das Dorf hat er keine Schrecken. Im Gegenteil: alle Dörfler beteiligen sich an dem schwunghaften Handel einer Schmugglerbande mit Reis, Käse, Safran. Butter, Schinken etc. Dabei verdienen alle so gut, dass ein Kino installiert werden kann und die Bauernmädchen in Seidenstrümpfen zur sonntäglichen Messe gehen können.

Aber die Idylle wird bedroht. In kleinen Schritten rücken der Krieg und seine Grausamkeiten näher. Zunächst vereinzelt, dann immer häufiger tauchen aber Flüchtlinge an der Grenze auf, entkräftet und verhärmt. Es sind jüdische Familien, die vor der Deportation fliehen, desertierte Soldaten und politische Flüchtlinge – aber das Dorf darf noch weitgehend passiver Zuschauer bleiben, weil die Grenzsoldaten angewiesen sind, alle Flüchtlinge zurückzuweisen. Die oft verzweifelte Bitte um Asyl in der neutralen Schweiz rührt sie zwar menschlich, aber das Gesetz hat Vorrang und wird durchgesetzt.
Partisanen berichten von den Zuständen jenseits der Berge: von Flucht, Vertreibung, Lynchjustiz, vom allgemeinen Hunger und dem Tod von Kindern, von Gräueltaten der Faschisten und der Besatzer. So rückt der Krieg immer näher an die Dörfler heran und sprengt schließlich ihre Idylle und zugleich verlebte Traditionen.

Wie Aline Valangin diese Geschichte erzählt, hat mir sehr gut gefallen. Sie wahrt streng die Perspektive der Dörfler, und als Leser muss man sich die politischen Zustände selber zusammenreimen. Ihr Erzählton bleibt immer freundlich und ruhig, oft humorvoll-ironisch, wenn sie ihre Figuren in deren überholten Traditionen vorstellt. Und was mir besonders gut gefallen hat: kein einziger Satz findet sich, in dem die Kritik der Autorin an der Schweiz direkt formuliert wird: an ihrer Asylpolitik und ihrer Kunst, am Elend der Anderen Geld zu verdienen. Es ist allein die Handlung, aus der der Leser das herauslesen kann, wenn er mag.

Die Schweizer konnten es jedenfalls; der Roman aus dem Jahre 1944 durfte erst 1982 (!) erscheinen.

Bewertung vom 04.05.2023
Kennedy, A. L.

Als lebten wir in einem barmherzigen Land


sehr gut

Der Titel und auch das beeindruckende Cover zeigen es schon: wir leben eben nicht in einem barmherzigen Land. Die Autorin zeichnet ein provozierendes Bild des zeitgenössischen Englands nach dem Brexit. Das mag ein Grund dafür sein, dass das Buch bisher in England keinen Verleger gefunden hat.

Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, zwei Ich-Erzähler: einmal Anna, eine idealistische und engagierte Lehrerin, die sich nach Kräften bemüht, ihrem Sohn und ihren Schülern während des Lockdowns gerecht zu werden. Und dann „Buster“, der sich in Studententagen Annas Straßentheatergruppe angeschlossen und dann als Polizei-Spitzel die Gruppe vor Gericht gebracht hatte.

Annas Erzählstimme ist ein einziger Monolog, in dem sie ihr Leben, ihren Alltag, ihre Gedanken und vor allem ihre Wut zu Papier bringt. Dagegen erzählt Buster wesentlich sachlicher, gelegentlich fast zynisch und legt seine Aufgabe als Undercover-Agent und Auftragsmörder dar.

Was macht Anna so wütend? Es ist nicht nur der Verrat Busters, sondern die gesamte Situation. Sie beobachtet sehr differenziert das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen, und die zunehmende Verarmung der Mittel- und Unterschichten empört sie genauso heftig wie in ihren Studententagen, als sie mit ihrer Straßentheatergruppe Streikende unterstützte und gegen soziale Ungleichheit kämpfte. Sie sieht die Ursachen der Situation im schamlosen Machtstreben und dem ausufernden Egoismus einer Führungsschicht, die kein soziales Gewissen kennt.

Diese Gruppe bezeichnet Anna als die Stilzchen nach dem Märchen der Gebrüder Grimm, wo das Rumpelstilzchen aus Stroh Gold spinnt und als Lohn das Kind der Königin einfordert. Dieses Bild löst Anna auf: die Gruppe der Stilzchen interessiert sich nicht für andere Menschen, sondern nur für Gold, nur für das eigene Fortkommen, nur für die Festigung ihrer eigenen Machtposition, nur für ihre eigenen Vorteile. „Was zählt, ist die Demonstration der absoluten Macht.“ Und so wird Annas Text eine wütende und auch verzweifelte Anklage gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Zeit und ihres Landes.

Ein zweites Märchen spielt eine Rolle: das Märchen vom Barmherzigen Land. Dieses Land verzeiht auch vielfachen Mördern, und es wird gegen Ende des Romans eine besondere Rolle spielen. „ Ohne Barmherzigkeit werden die normalen Menschen zu den neuen Stilzchen.“

Ein provozierender, bissiger Roman!

Bewertung vom 01.05.2023
Schubert, Helga

Der heutige Tag


sehr gut

Helga Schubert wählt für ihr Buch den Untertitel „Stundenbuch“ und erinnert damit an die liturgischen Stundenbücher des Christentums, die dem Laien Gebete rund um die Uhr, meist beginnend ab Mitternacht, anbieten. Der Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ wird dem Leser schnell klar: Die Ich-Erzählerin dient ihrem schwer kranken Mann rund um die Uhr, und das aus Liebe.

Man kann wohl davon ausgehen, dass Ich-Erzählerin und Autorin in diesem Buch identisch sind. Sie beginnt mit dem Morgen und verschont ihre Leser nicht mit den Pflege-Handgriffen, die jeden Morgen zu erledigen sind. Sie verschont ihre Leser grundsätzlich nicht: wir erfahren harte Details ihrer Rund-um-die-Uhr-Pflege, die sie trotz ihres eigenen hohen Alters – 83 Jahre alt und selber nicht gesund - auf sich nimmt.

Sie lernt, dass sie keine Dankbarkeit erwarten kann, z. B. in Form von Unterstützung bei der Pflege, und umgekehrt erlebt sie auch uneigennützige Hilfen, die sie nicht erwartet hatte. Sie erzählt auch vom Rat, ihrem Mann mit einer höheren Dosis Morphium aus dem Leben zu helfen, weil sein Leben doch nicht mehr lebenswert sei. Sie selber sieht durchaus die Vorteile, die sie von seinem Tod hätte: nicht nur das Ende einer Dauersorge, sondern auch der Rückzug in die Großstadt, Teilnahme an Sitzungen des PEN-Clubs, Lesungen in entfernteren Städten etc.

Und der Leser fragt sich, was es ist, dass sie die Pflege ihres Mannes auf sich nimmt. Diese Frage beantwortet die Autorin mit vielen Rückblenden in das gemeinsame Leben, angefangen vom ersten Kontakt an der Universität bis zum Umzug aufs mecklenburgische Land. Diese Rückblenden lassen manchmal den Zusammenhang vermissen und wären überflüssig. Viele sind aber von Verzicht geprägt (z. B. dem Verzicht auf die Ausreise in den Westen), und sie zeigen die tiefe Verbundenheit dieser beiden Menschen.

Und so wird dem Leser klar, wie sehr es Helga Schubert schmerzen muss, dass ihr Mann sich nun alleine aufmacht in eine andere Welt. Und sie erkennt ihre neue Lebensaufgabe: das Annehmen dieses Weggangs und das Loslassen. Dabei hilft ihr das Schreiben, sagt sie: „Ich rette mich durch Schreiben.“

Sie begleitet ihn, und sie ist dankbar für die kleinen gemeinsamen Freuden, die ihnen bleiben: der Vogelgesang, die Sonnenstrahlen im Garten und vor allem die Freude an jedem kleinen gemeinsamen Moment.

Ruth Reinecke, die das Hörbuch eingelesen hat, spricht sehr deutlich, eher langsam und sehr prononciert, ihre Stimme habe ich als hart, fast hölzern empfunden. Mir hätte eine wärmere und flexiblere Stimme besser gefallen. Geschmackssache.

Bewertung vom 25.04.2023
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


ausgezeichnet

“No one but the corbeaux know that inside their bodies the souls of the dead transform and release.”

Der Roman entführt seine Leser in die Karibik, nach Morne Marie auf Trinidad. Die Großmutter erzählt ihrer Enkelin eine Geschichte: In einem vorzeitlichen Paradies lebten einmal riesig große Papageien, die sich nach einer Art Sintflut veränderten. Die einen werden zu den kleinen bunten Vögeln, wie sie die Enkelin täglich beobachten kann, die anderen aber verwandeln sich in die schwarzen „Corbeaux“, in Aasfresser, in deren Körper sich die Seelen der Toten verwandeln und bereit werden für den Übergang in eine andere Welt.

In Morne Marie begegnen sich die beiden jungen Menschen, deren Geschichte der Roman erzählt. Da ist Darwin, ein junger Rastafari, der dringend eine Arbeit sucht, um seiner Mutter Medikamente kaufen zu können. Dafür übertritt er seine Glaubensgebote und stutzt sich Haare und Bart, und obwohl ihm sein Glaube den Umgang mit Toten verbietet, nimmt er die harte Arbeit als Totengräber auf dem großen Friedhof Fidelis an.

Und da ist Yejide, eine junge Frau aus einer alten Familie, die in einem großen ehemals herrschaftlichem Plantagen-Haus wohnt. Sie ist Traditionen auch in anderer Weise verbunden. Ihre Ahnenreihe wird bestimmt durch Frauen, und jeweils eine Frau in jeder Generation wird die Fähigkeit und die Aufgabe vererbt, Seelen nach dem Tod auf dem Weg in die andere Welt zu begleiten und sie so zu erlösen. In ihrer Generation ist es nun Yejide, die sich schweren Herzens dieser Gabe und dieser Aufgabe bewusst wird, auf die sie die Großmutter mit der Sage von den Corbeaux schon vorbereitet hatte.

Beide hadern mit ihrer Situation, und der Friedhof ist es, auf dem sie zusammentreffen. Hier in dieser Totenstadt kreuzen sich die Wege der Lebenden und der Toten, auch der lebenden Toten, die sich materialisieren und mit den Lebenden in Verbindung treten. Der Autorin mischt die beiden Welten zu einer einzigen Welt zusammen. Darwin ist trotz seiner Arbeit und seiner Situation lebensfroh, während Yejide sich aufgrund ihrer Gabe den Toten näher fühlt. Sie unterscheidet dabei zwischen „Neutoten“, die sich in ihr Schicksal nicht fügen wollen und „Arbeit machen“, und „Alttoten“, die zwar schon weitergezogen sind, aber immer noch an ihren Knochen hängen.
Diese Vermischungen von Leben und Tod zeigen sich in wunderschönen, fast märchenhaften Bildern, aber auch in furchterregenden und bedrohlichen Wirbelstürmen und Sturmfluten.

Die Autorin vermischt auch die Realitätseben und schafft für ihren Leser eine magische Welt, die aber zugleich sehr realistisch ist (z. B. Darwins Jugend) und im Hier und Heute existiert.

Dazu trägt auch die realistische Sprache entscheidend bei. Das Original wurde geschrieben im trinidad-kreolischen Englisch und von Michaela Grabinger adäquat übersetzt, sodass die Sprache erfrischend aktuell ist.

Eine wunderbare Geschichte! Ein Märchen, eine Liebesgeschichte, ein Krimi, eine Geistergeschichte, eine Geschichte über soziale Probleme, über paranormale Phänomene, über Traditionen und Familienwurzeln, bunt und farbig wie das Cover.

Bewertung vom 17.04.2023
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Der Klappentext lässt vermuten, dass Judith Hermann in diese Frankfurter Vorlesungen Privates einfließen lässt. Und so liest man dann von einer traumatisierenden Kindheit in Berlin, vom Alkoholismus des Großvaters, von der überlasteten Mutter, die der Ernährer der Familie war, vom depressiven Vater, der zugemüllten Wohnung der Eltern und anderen unerfreulichen Dingen. Judith Hermann sagt gleich zu Beginn dieser Vorlesungsreihe: „Ich schreibe über mich. ... Ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Kein Wunder, denkt sich der Leser, wenn sie ihrer Freundin Ada so bereitwillig folgt, die das Prinzip einer Wahlfamilie vertritt und sie nun ihre Herkunftsfamilie ersetzt durch eine Wohngemeinschaft, mit der sie viele Sommer im geerbten Haus an der Nordsee verlebt. Sehr schnell aber merkt der Leser, wie die Autorin diese Autofiktionalität in Frage stellt und ihren Leser in der Schwebe hält. „Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich. ... Schreiben heißt auslöschen.“

Die Autorin spielt ein Versteckspiel mit ihrem Leser, und dieses Spiel erinnert an ihr Puppenhaus der Kindertage, das sie ausführlich beschreibt: ein Haus mit fensterlosen Räumen und mit geheimen Kammern zum Verstecken. In diesem Puppenhaus konnte sie ihre Puppen verstecken, so wie sie sich in diesem Text versteckt, und nicht umsonst sitzt eine der Puppen dieser Puppenhaus-Tage auf ihrem Schreibtisch und begleitet sie.

Allerdings gibt sie zu, dass ihr Schreiben ihr Leben imitiere, aber eben nur als Inspiration, nicht als Dokumentation: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang.“

„Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben" lautet der Untertitel der Vorlesungsreihe, und damit weist sie auf ein Strukturprinzip ihres Schreibens und auch dieses Buches hin. Sie verschweigt ihren Zuhörern ihre tatsächliche Biografie und versteckt sich hinter einem Erzähler-Ich, aber „Diese Erzählerin ist Ich. Und sie ist ein Traumbild. Ich träume sie, und sie träumt mich.“ Damit versperrt sie ihren Zuhörern bzw. Lesern den Einblick in ihr Privates, obwohl sie genau das vorgibt zu tun.

Dieses Prinzip des Verschweigens lässt sich in ihren Romanen beobachten. Immer schafft sie Leerstellen, die der Geschichte ihre Eindeutigkeit nehmen, sie in der Schwebe halten und den Leser in die Pflicht nehmen. Oder um das Bild des Puppenhauses wieder aufzugreifen: ihre Geschichten haben Verstecke und dunkle Kammern, in denen sich ein Geheimnis verbirgt, eine Leerstelle, die der Leser füllen kann.

Fazit: Ein intelligentes Spiel mit Fiktionalität und Realität, ein Spiel mit der eigenen Biografie und mit den Erwartungen des Lesers.