Benutzer
Benutzername: 
Verena

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 22.09.2020
Poulin, Jacques

Volkswagen Blues


gut

Ich bin hin- und hergerissen. Im Roadnovel Volkswagen Blues spricht der frankokanadische Autor Jacques Poulin wichtige Themen an, schöpft aber ihr Potential nicht aus. Würde der 1984 erschienene Roman auch heute noch zu einem modernen Klassiker werden & Preise erhalten? Ich bezweifle das.
Jack Waterman, Schriftsteller in einer Schaffenskrise, sucht nach seinem Bruder Théo, den er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Einziger Anhaltspunkt ist eine Postkarte, aufgegeben in Gaspé im Osten Québecs. Hier trifft er auf Pitsémine, Große Heuschrecke genannt, die eine indigene Mutter hat. Sie schließt sich Jack an & gemeinsam durchqueren sie den nordamerikanischen Kontinent, Großteils entlang des Oregon-Trails, den im 19. Jhd. die Pioniere zurücklegten.
Jacks Suche nach Théo scheint vielmehr eine Suche nach der eigenen Identität zu sein. Dabei hält er sich an Kindheitserinnerungen fest: Théo verehrte ruhmreiche Pioniere. Jack muss während der Reise allerdings den Fall dieser Helden verarbeiten – die Große Heuschrecke spricht immer wieder die Gräuel an, die diese vermeintlichen Helden der indigenen Bevölkerung Amerikas angetan haben. Die teils längeren Monologe werden von Jack völlig unkommentiert im Raum stehen gelassen, er nennt sie „Unwetter“. Mir ist nicht klar geworden, ob das von Poulin gewollt war, oder ob er – wie Jack – unfähig ist, den Verbrechen seiner Vorfahren eine Reaktion entgegenzubringen? Auch Pitsémine wirkt dadurch unausgeschöpft, wo doch die Figur so interessant ist! Sie fühlt sich ausgeschlossen, weder weiß noch indigen. Schade, dass auch diese innere Zerrissenheit beinahe komplett unkommentiert bleibt.
Viel mehr Gewicht legt Poulin bei seiner weiblichen Protagonistin auf ihre „Offenherzigkeit“. Ein junges Mädchen, das ohne Fragen zu einem deutlich älteren Mann in den VW-Bus steigt & mit ihm monatelang den Kontinent durchquert, sich dabei regelmäßig vor ihm & anderen Männern auszieht. All das wird als komplett normales Verhalten dargestellt – so kann das nur von einem Mann geschrieben worden sein & erinnerte mich stark an ein von mir verhasstes Buch. Einzig Jacks Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen hat die Situation leicht gerettet, aber wirklich besser macht es das Gesamtbild nicht. Ich hatte mir deutlich mehr erwartet.