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Verena

Bewertungen

Insgesamt 143 Bewertungen
Bewertung vom 21.09.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


gut

Intensives Debüt mit Luft nach oben

„Die schönste Version“ hat auf Bookstagram große Wellen geschlagen, war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 und behandelt ein ebenso relevantes wie intensives Thema.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Protagonistin Jella: ihr Aufwachsen in einer ostdeutschen Kleinstadt, die Begegnung und Beziehung zu Yannick, das harte Erwachen und die Rückkehr in ihr Kinderzimmer.

Was mir an dem Roman gefiel? Er verdeutlicht, wie schon im frühsten Jugendalter Mädchen und jungen Frauen ihr Dasein unter dem Male Gaze eingetrichtert wird. Jellas ganzes Coming-of-Age scheint darauf ausgelegt zu sein. Auch die toxische Dynamik zwischen Jella und Yannick wird überzeugend dargestellt – vom romantischen Kennenlernen über die Gewaltausbrüche bis hin zur Scham und der inneren Zerrissenheit, diese Beziehung zu verlassen.

Was mir weniger zusagte? Der Stil. Was als „stilistische Brillanz“ angepriesen wird, entpuppt sich als ein weiterer Roman, dessen vulgäre Ausdrucksweise wohl provozieren möchte? Inzwischen habe ich einige derartige Werke, meist Debütromane, gelesen und kann dieser Sprache leider wenig abgewinnen. Warum das so ist? Das lässt sich schwer greifen – es liegt nicht am Vulgären an sich, vielmehr an der plakativen und plumpen Umsetzung, die keinen echten stilistischen Mehrwert bietet.

Darüber hinaus konnte mich „Die schönste Version“ auch inhaltlich nicht komplett abholen, da mir die Figur der Jella zu unvollständig erschien. Sie beginnt zwar, ihr eigenes Handeln zu reflektieren und wird sich klar über die Gewalt in der Beziehung (physischer und psychischer Natur), doch all das wird nur oberflächlich angeschnitten. Ich denke, das entspricht leider häufig der Realität, aber gleichzeitig blieb unklar, welche Botschaft der Roman vermitteln möchte.

Bewertung vom 10.09.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Eine Geschichte wie ein Fluss

"Gestern war ich ein Fluss. Morgen komme ich vielleicht als Regentropfen zurück."

„Am Himmel die Flüsse“ war mein erster Roman von Elif Shafak und hat mich absolut begeistert. Ihre poetische Sprache, die Fähigkeit, komplexe Themen miteinander zu verweben, sodass am Ende alles harmonisch zusammenläuft, sind beeindruckend.

In viktorianischem London lernen wir Arthur kennen und begleiten ihn von seiner Geburt bis zu seinem Lebensende. Im Jahr 2014 reisen wir in die Türkei und den Irak, wo die kleine jesidische Narin durch ihre Großmutter über ihre Vergangenheit lernt. Im Jahr 2018 kehren wir nach London zurück und treffen Zaleekhah, eine Hydrologin, die vor ihrer eigenen Vergangenheit flieht.

Der Roman behandelt zentrale Themen wie Identität, Zugehörigkeit, Liebe, Verlust, Kunst, Tradition und Moderne, Heimat und Exil und all die damit verbundenen menschlichen Erfahrungen über Jahrhunderte hinweg. Die drei drei Protagonist:innen haben eigene Träume, Sehnsüchte und Herausforderungen, die oft auf brutalste Weise spürbar sind. Shafaks Kunst, die Geschichten am Ende zu einem großen Ganzen zu vereinen, ist eindrucksvolles. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto klarer werden die Verbindungen – sei es der Grabstein von Arthur oder ein zartes, verstecktes Tattoo in Keilschrift.

Das zentrale verbindende Element im Roman ist Wasser; es spielt in den Biografien von Arthur, Narin und Zaleekhah eine bedeutende Rolle. Auch die historische und gesellschaftliche Wichtigkeit des Wassers wird immer wieder deutlich. Die Themse, der Tigris, „verlorene“ Flüsse, künstliche Staudämme und die Klimakrise als globale Wasserkrise veranschaulichen eindrücklich, welchen Einfluss unsere Handlungen auf die Natur und auf zukünftige Generationen haben.

Ich möchte nicht zu viel über die Handlung verraten, um Spoiler zu vermeiden. Hervorheben ist aber die wundervolle Übersetzung, die die poetische, beinahe lyrische Sprache und die vielen teils subtilen Verbindungen zwischen den Erzählsträngen meisterhaft ins Deutsche überträgt. Eine absolute Leseempfehlung!

Beim Lesen wechselte ich ab zwischen Print und Hörbuch; letzteres ist zwar leider ein bisschen gekürzt, aber dennoch ebenfalls eine große Empfehlung, denn einerseits half es mir, die Namen und Orte mit der richtigen Aussprache zu verbinden, andererseits war Pegah Ferydoni die ideale Wahl, zur Vertonung dieses Romans. Ihr schauspielerisches Können gibt den drei Erzählsträngen mit Arthur, Narin und Zaleekhah je eine eigene Dimension. Ihre Stimme, melancholisch und weich, trägt die Emotionen, ist angenehm zu hören und das perfekte Pendant zu Shafaks wundervoller Sprache.

„Wir schaffen Kunst, um eine Spur für die Zukunft zu hinterlassen, eine kleine Krümmung im Fluss der Geschichten, der viel zu schnell fließt und viel zu wild ist, als dass wir ihn erfassen könnten.“

Bewertung vom 16.08.2024
Pi mal Daumen
Bronsky, Alina

Pi mal Daumen


gut

Nett für Zwischendurch

In „Pi mal Daumen“ trifft Oscar auf Moni. Oscar ist 16, hochbegabt, hat einen Adelstitel und sehr wohlhabende, einflussreiche Verwandte, ist aber noch nie mit der U-Bahn gefahren. Moni hingegen, eine über 50-jährige Frau mit mehreren Jobs, drei Enkeln und einer Leidenschaft für Glitzer sowie High Heels, umgeben von einer Parfümwolke, ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Oscar. Beide starten als Erstsemester im Mathematikstudium.

Oscar hält Moni zunächst für die Putzfrau, dann sieht er in ihr die perfekte Lösung, die verpflichtende Gruppenhausaufgabe erfüllen zu können, ohne wirklich Kontakt mit den Kommiliton:innen haben zu müssen, denn das mag er gar nicht. Von Moni als Person hält er fast genauso wenig wie von ihren Mathefähigkeiten.

Natürlich kommt es ganz anders und obwohl Moni große Lücken hat was das Mathewissen aus der Schule betrifft, zeigt sich schnell, dass sie Oscar mathematisch gesehen absolut ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist (das sage ich als Geisteswissenschaftlerin, die die Matheanspielungen 0,0 verstanden hat^^). Komplizierte Mathematik fällt ihnen leicht, doch beide kämpfen mit dem Alltag – ihre Probleme sind jedoch ganz unterschiedlicher Natur. Es entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft, die im Laufe des Semesters auch die Familien der beiden einschließt.

Es ist eine schöne Idee und ich habe den Roman gerne flott gelesen, man möchte wissen, wie es weitergeht, aber richtig abholen konnte mich Bronsky leider nicht. So sehr sich die Autorin auch bemüht, die Botschaft zu vermitteln, dass Menschen nicht über Klischees oder Stereotypen definiert und gar reduziert werden sollten, so nutzt sie selbst zu oft diese Klischees und es gelingt ihr leider nicht, sich im Verlauf der Handlung von ihnen zu befreien.
(Ein bisschen zu verworren war mir auch der Erzählstrang um Jan/Mr Brown/Daniel/Monis Schulzeit.)

Insgesamt bleibt es jedoch ein unterhaltsamer, leicht lesbarer Roman, der sich gut für Zwischendurch lesen eignet.

Bewertung vom 02.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


schlecht

Inspiriert von schlechten Jugendroman-Dreiecks-Lovestories?

Die persönliche Geschichte der Autorin, die in der 2. Lebenshälfte zum Schreiben kam und sich damit einen Herzenswunsch erfüllte, berührt mich mehr als der Roman selbst. Ich freue mich wirklich für sie, deshalb fällt es mir schwer, diese Rezension zu schreiben.

Um sie während des Zweiten Weltkriegs vor Luftangriffen zu schützen wird Beatrix, 11, von London in die USA geschickt. Fünf Jahre verbringt sie bei Familie Gregory: Sie genießt dort ein glückliches Familienleben, doch die Abwesenheit ihrer Eltern schmerzt. Diese innere Zerrissenheit beeinflusst die familiären Beziehungen nachhaltig, selbst als Bea schließlich nach London zurückkehrt.

Ein spannendes Thema, dachte ich mir. Leider wird der Krieg und dessen Auswirkungen auf die Menschen lediglich als Mittel genutzt, um das Kind in die USA zu bringen. Nach den vielversprechenden ersten Kapiteln sinkt die Qualität stark: kurze Kapitel, aus der Perspektive von acht Figuren erzählt, stilistisch unterscheiden sie sich kaum; unklare Zeitsprünge; wichtige Ereignisse, die im Off geschehen. Wenn die Handlung stagniert stirbt eine Person, doch der Tod der Figuren wird wie der Krieg nur als Mittel genutzt, um die Handlung voranzutreiben. Echtes Mitgefühl bleibt aus, da die ständigen und schlecht gestalteten Perspektivwechsel die Charaktere flach wirken lassen.

Das Schlimmste kommt jetzt. Im Laufe des Romans deutet sich bereits der klischeehafte Verlauf an, doch ich dachte, so platt wird es nicht. Kennt ihr diese Jugendromane, in denen ein Mädchen viel Zeit mit einer anderen Familie verbringt und mit deren Söhnen aufwächst, bis das Mädel in die Pubertät kommt? Plötzlich verlieben sich beide Söhne in das Mädchen und es entsteht ein ewiges Hin und Her, bis schließlich einer der beiden ihr das Herz gewinnt – ein vertrautes Muster. (looking at you, Jenny Han)

Nun ja. Leider passiert hier genau das, und zwar auf äußerst langatmige Weise. Obwohl das Buch nur 350 Seiten hat, zog es sich endlos langweilig hin. Anfangs wollte ich 2 Sterne für die tolle Grundidee vergeben, doch das Ende (argh!!) bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen – daher nur 1 Stern.

Bewertung vom 02.08.2024
Wir treffen uns im nächsten Kapitel
Bickers, Tessa

Wir treffen uns im nächsten Kapitel


sehr gut

Die Liebe zum Lesen, zu sich selbst und zueinander

Anfangs hatte ich keine großen Erwartungen an dieses Buch (pun intended). Doch 2 Aspekte weckten mein Interesse: die Idee des Büchertauschs zwischen zwei Fremden, die sich dabei verlieben, und die Erwähnung meines Lieblingsklassikers „Große Erwartungen“ direkt im Klappentext.

Tessa Bickers schafft es, die Themen Familie, Freundschaft, Liebe und Verlust kreativ zu verweben. Die Protagonisten Erin und James haben verschiedene Ansätze, mit ihren Entscheidungen umzugehen. Erin hat Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen und kündigt schließlich impulsiv ihren ungeliebten Job, was sie zwingt, sich ihrer Vergangenheit zu stellen um ihre Zukunft gestalten zu können. James hingegen entscheidet rational, was ihn jedoch nicht glücklich macht. Beide Charaktere tragen ein schweres Päckchen, und obwohl ich kein Fan von ständigem Drama in Liebesgeschichten bin, wurde dies hier glaubhaft dargestellt – wenngleich etwas weniger auch nicht geschadet hätte. (Wermutstropfen: Es werden heikle Themen behandelt, weshalb Triggerwarnungen sinnvoll gewesen wären, trotz des respektvollen Umgangs der Autorin)

Mit James konnte ich mich teils gut identifizieren; Erin fand ich nicht immer sympathisch. Dennoch gelingt es Bickers, die inneren Konflikte ihrer Figuren nachvollziehbar darzustellen. Positiv überrascht haben mich auch die gut entwickelten Nebenfiguren, die die Geschichte wirklich bereichern, was in diesem Genre nicht selbstverständlich ist.

Der Schreibstil von Tessa Bickers ist angenehm leicht und flüssig – beeindruckend für einen Debütroman. Die Bücher, die Erin und James austauschen, spielen eine wichtige Rolle in der Erzählung, und die Liebe zum Lesen zieht sich durch das gesamte Werk. Ich bin gespannt auf zukünftige Veröffentlichungen von Tessa Bickers und kann „The Book Swap“ / „Wir treffen uns im nächsten Kapitel“ empfehlen.

Bewertung vom 28.07.2024
Die Sache mit Rachel
O'Donoghue, Caroline

Die Sache mit Rachel


weniger gut

Unreflektiertes Chaos

Den Hype um „Die Sache mit Rachel“ kann ich leider nicht nachvollziehen. Die Handlung wirkt oft flach und beliebig. Die Figuren waren mir entweder völlig gleichgültig oder gänzlich unsympathisch – ein Nachteil, wenn die Handlung so stark von ihren Charakteren getragen wird. Sie bleiben eindimensional und blass; es ist schwierig, sich mit ihnen zu identifizieren oder Interesse an ihrem Schicksal zu entwickeln. Besonders die titelgebende Rachel, aus deren Perspektive erzählt wird, wirkt stereotyp. Motivation für ihre Handlungen wird nie richtig rübergebracht, es fehlt Emotion und Reflexion. (Ich musste mehrmals an den Roman von Dolly Alderton denken, in dem die Protagonistin ebenfalls im wortwörtlichen Rausch umherirrt, ohne ihr Handeln zu hinterfragen. Ironischerweise wird Alderton in der Danksagung der Autorin erwähnt.)

Sehr unangenehm fand ich, dass Rachel sich ständig durch Beziehungen zu verschiedenen Männern definiert; sie zeigt eine passive Haltung und schiebt gleichzeitig anderen die Verantwortung für ihre Probleme zu. Es werden zwar mehrere wichtige Themen angesprochen, doch sie gehen in belanglosem Geplänkel unter. Besonders die finanziellen Schwierigkeiten von Rachel und ihrem besten Freund James werden zwar häufig thematisiert, ihre Probleme, einen Job zu finden und Geld zu sparen, doch gleichzeitig gehen sie mehrmals pro Woche aus, betrinken sich, kaufen Drogen. Da dies nie reflektiert wird – weder von der 21- noch von der 31-jährigen Rachel – war es für mich eine große Lücke in der Erzählung. Auch die Thematik rund um das irische Abtreibungsrecht wirkt nicht authentisch. Rachel nimmt nichts ernst, reflektiert in keinem Bereich ihres Lebens ihr Verhalten, aber dann soll ich der Autorin abnehmen, dass die Figur, so wie sie sie präsentiert, ab dem Moment ihrer ersten Periode wusste, welch großes Unrecht irischen Frauen durch das rigide Abreibungsrecht angetan wird? Nur ein weiteres sehr ernstes Thema, dem die Autorin nicht gerecht werden kann.

Insgesamt kann ich „Die Sache mit Rachel“ leider nicht empfehlen. Es bleibt der Eindruck von schwachen Charakteren und einer uninspirierten Erzählweise.

Bewertung vom 22.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


weniger gut

Schneeweißchen und Rosenrot im Pazifischen Nordwesten

Zwei Schwestern, Sam und Elena, leben mit ihrer kranken Mutter in prekären Verhältnissen auf einer kleinen Insel im Pazifischen Nordwesten. Erzählt wird aus Sams Perspektive. Ihr großer Traum ist es, nach dem Tod der Mutter das Haus zu verkaufen, mit Elena die Insel zu verlassen und in einer Stadt ein gutes Leben zu leben. Dann taucht ein Bär auf der Insel auf und alles ändert sich.
Eine spannende Ausgangslage; Cover, Titel, Klappentext und Location versprechen einen atmosphärischen Roman – eine wunderbare Kombination, die ich gerne lese. Im Original heißt der Roman schlicht „Bear“ und der nimmt eine relativ große Rolle ein. Recht bald wird klar, dass die Geschichte inspiriert ist durch „Schneeweißchen und Rosenrot“. Eigentlich auch interessant, ein modernes Märchen, aber die Umsetzung konnte mich überhaupt nicht abholen. Kennt ihr die DDR-Verfilmung von Schneeweißchen und Rosenrot? Die, in der der Zwerg die Schwestern wunderbar kreativ beschimpft? Beim Lesen fühlte ich mich ein bisschen wie der Zwerg, denn die völlig irrationalen Handlungen von Sam und Elena sind nicht ohne. Natürlich liegen heftige psychische Probleme zugrunde, natürlich sind da enorme Abhängigkeiten, natürlich ist Sam eine absolut unzuverlässige Erzählerin und natürlich könnte man (vor allem wenn einen literaturwissenschaftlichen Hintergrund hat) endlos interpretieren, was das alles eigentlich soll. Aber – und das ist mein größter Kritikpunkt – all das wird erzählerisch nicht transportiert. Vieles, sehr vieles wird angedeutet und gefühlt noch mehr wird offengelassen. Dabei hätte selbst die letztlich sehr makabre Geschichte (das Ende deutet sich zwar bald an, aber ist schon ein bisschen heftig), die die Autorin wohl erzählen wollte, funktionieren können. Hinzu kommt, dass Philips auch sprachlich nicht überzeugen konnte; wie man aus der Location so wenig herausholen kann, erschließt sich mir nicht. Schade.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


gut

Potential nicht ganz ausgeschöpft

Meine Rezension zu "Mitternachtsschwimmer" von Roisin Maguire fällt zwiespältig aus. Das Setting der Pandemie, das im Klappentext groß angekündigt wird, wirkt unrealistisch und scheint letztendlich nur als Vorwand zu dienen, um den Protagonisten Evan in Ballybrady, einem kleinen Dorf, festzuhalten. Ein Kritikpunkt ist, dass Luca, der kleine Sohn, viel zu spät im Roman auftaucht und selbst in Evans Gedanken zunächst kaum eine Rolle spielt.
Es ist fast schon ironisch, wie realistisch es letztendlich ist: Evan gibt sich ganz seiner Trauer hin, schmeißt seinen Job und zieht isoliert in ein Airbnb in einem kleinen Küstendorf. Währenddessen muss seine Frau Lorna, die ebenfalls ein Kind verloren hat, weitermachen und sich um das noch lebende Kind kümmern, das zudem eine Behinderung hat – mit der Evan offensichtlich nicht zurechtkommt. Manchmal wirkte es auf mich so, dass Lorna als die Böse dargestellt wurde, um Evans Gefühle zu validieren. (Hin und wieder musste ich mich daran erinnern, dass der Roman von einer Autorin und nicht von einem Autor geschrieben wurde.)
Die erste Hälfte des Buches zieht sich mit extremen Längen hin; erst im letzten Drittel kommt Bewegung in die Handlung, jedoch beinahe überladen mit zu vielen Figuren und einer seltsamen Szene des gemeinsamen Nacktschwimmens am Ende, die sehr out of character wirkte.
Insgesamt hinterlässt "Mitternachtsschwimmer" gemischte Gefühle: Während die Darstellung der Trauer und des Verlusts interessante Ansätze bietet und man auch die Pandemie geschickter hätte nutzen können, wirken einige Elemente des Settings und der Handlung unrealistisch oder überladen. Alles in allem blieb der Roman hinter meinen Erwartungen zurück.

Bewertung vom 13.06.2024
Stolz und Vorurteil
Austen, Jane;Kühn, Claudia

Stolz und Vorurteil


weniger gut

Wenig Austen

Graphic Novels sind absolutes Neuland für mich, daher hatte ich mich sehr gefreut, eines meiner absoluten Lieblingsbücher als solche zu lesen. Leider konnte mich das Ganze nicht überzeugen. „Stolz und Vorurteil“ wird dabei ausschließlich auf die Lovestory reduziert (hätte ich mir irgendwie denken können, da mit „dem ultimativen Bookboyfriend Darcy“ geworben wird). Das ist sehr schade, denn Austens Gesellschaftskritik, ihr Gespür für Sprache und ihr ganz fabelhafter Wortwitz gehen dabei gänzlich verloren. Mir ist klar, dass es nicht einfach ist, sprachliche Feinheiten in Graphic Novels ebenso zu transportieren wie in einem klassischen Roman, aber ich hätte mich gefreut, wenn die Autor:innen es wenigstens versucht hätten.

Viel mehr gestört haben mich aber andere Dinge. Ein Großteil der Szenen und Darstellungen sind mehr oder weniger Eins-zu-Eins Kopien der Verfilmung aus dem Jahr 2005. Regisseur Joe Wright hat bekanntlich an einer Kunsthochschule studiert, was sich sehr stark an seiner Bildkomposition bemerkbar macht. Das eignet sich natürlich auch gut für Illustrationen, aber wo bleibt da die Originalität? Was mich sehr irritiert hat sind die Übergänge. Manchmal gibt es einfach keine – ist das normal bei Graphic Novels? Ich kenne die Geschichte natürlich sehr gut und habe die Zusammenhänge trotzdem verstanden, aber wie ist das bei Austen-Neulingen?

Wirklich positiv hervorheben kann ich nur die detailliert und liebevoll gestalteten Zeichnungen; auf die Schnörkelschrift in den Briefen hätte ich auch gut verzichten können, eher unangenehm zu lesen.

Bewertung vom 04.06.2024
Das Licht in den Birken
Fölck, Romy

Das Licht in den Birken


sehr gut

Heile Welt im besten Sinne

Ich verwende das Wort ungern, weil es bei Buchblogger:innen inflationär verwendet wird, aber „Das Licht in den Birken“ war ein Wohlfühlbuch.
Nach über 20 Jahren kehrt Thea zurück nach Deutschland, nachdem sie in Portugal als Ziegenhirtin lebte. In der Lüneburger Heide zieht sie mit ihren beiden Lieblingsziegen beim wortkargen Eigenbrötler Benno ein, der auf seinem Gnadenhof Wohnungen ausgebaut hat, um irgendwie den Hof zu retten. Schon bei der ersten Begegnung ecken die beiden, die unterschiedlicher nicht sein könnten, an. Dann taucht noch Juli auf, die nach dem Abi zu Fuß nach Amsterdam wollte, nun aber mit einer Fußverletzung auf dem Hof festsitzt.
Alle haben ein Geheimnis, keines davon ist wirklich überraschend, aber bei der dichten, atmosphärischen Sprache störte mich das kaum. Bald haben Thea, Benno und Juli ein gemeinsames Ziel: den Gnadenhof retten. Dafür stellen sie ihre persönlichen Probleme hinten an, aber auch irgendwie nicht, denn durch die gemeinsame Arbeit und das Zusammenleben beginnen sie, sich einander zu öffnen. Manchmal in Zweiergesprächen, manchmal zu dritt am Küchentisch, manchmal bei der Selbstreflexion während einsamer Spaziergänge. Streit gibt’s, unschöne Worte, Verletzungen, aber auch Entschuldigungen und Gespräche. Das ist einerseits wirklich unrealistisch, hin und wieder musste ich schmunzeln, weil es mich gar an eine Art Gruppentherapie erinnerte. Aber das war auch erstaunlicherweise genau das, was ich als Wohlfühlaspekt der Erzählung wahrnahm: es könnte so schön sein, wenn wir uns alle mehr so verhalten würden.
Der sprachliche Stil und vor allem Tessa Mittelstaedt, die das Hörbuch eingesprochen hat, trugen weiter dazu bei, dass das Buch ein Highlight für mich war. Mittelstadt gibt allen drei Figuren eine ganz eigene Emotionalität und wertet die Geschichte dadurch zusätzlich auf.
Spoiler: Es gibt Happy End um Happy End – tatsächlich ein bisschen kitschig und auch der Grund, warum ich keine 5 Sterne vergebe, aber gleichzeitig wäre ich mit nichts anderem zufrieden gewesen.