Benutzer
Benutzername: 
Miro76
Wohnort: 
Österreich

Bewertungen

Insgesamt 183 Bewertungen
Bewertung vom 11.09.2021
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


ausgezeichnet

Herr Schmidt ist bereits Rentner, als er eines Tages aufwacht und alles ist anders. Er riecht keinen Kaffee und hört kein Hantieren aus der Küche. Wo steckt nur Barbara, seine Frau, die immer sein Leben organisierte.

Doch Barbara ist im Bad umgefallen und fühlt sich nicht gut. Herr Schmidt hilft ihr auf und führt sie ins Bett, wo sie quasi liegen bleibt.

Herrn Schmidt ist das alles ein Rätsel. Sie war doch immer gesund, hat sich nie beklagt. Wer soll den jetzt für ihn kochen und seinen Tag strukturieren?

Mühsam lernt Herr Schmidt auf eigenen Füssen zu stehen und beginnt dabei Barbaras Tätigkeiten endlich zu würdigen. Nicht alles gelingt ihm auf anhieb, aber er bessert sich.

Wenn Herr Schmidt von seiner Frau spricht, dann hat man als Leser*in das Gefühl, er spricht von einem Haustier. Er erzählt davon, wieviel Geduld er anfangs mit ihr hatte, weil das Essen nicht so schmeckt wie bei Mutti und ist stolz darauf, dass er sie nie geschlagen hat. Das liest sich streckenweise schon sehr heftig, aber man liest auch zwischen den Zeilen, dass sich Barbara ihr Leben wohl organisiert hat und nicht nur auf das Wohlwollen ihres Mannes angewiesen war. Manche seiner Aussagen jagen mir einen Schauder über den Rücken, aber über manche kann man auch schallend lachen. Er ist ein Urdeutscher, der es einfach nicht schafft, ein bisschen Weltoffenheit in sein Leben zu lassen.

Extrem amüsant fand ich, wie Harr Schmidt über seine Tochter denkt, die mit ihrer "besten Freundin" zusammenlebt. Auf den Gedanken, dass seine Tochter eine Frau hat, kommt er nicht einmal ansatzweise.

Doch Herr Schmidt beginnt mit seinen Aufgaben zu wachsen. Er öffnet seinen Geist, sein Horizont wird weiter und es könnte Sympathie für ihn aufkommen, bis es ihm wieder einen typischen Altnazisatz raushaut. Er kann eben doch nicht aus seiner Haut.

Wäre der Anlass nicht so traurig, würde es richtig Spaß machen, ihn bei seiner Entwicklung zu begleiten. Doch auch davor verschließt Herr Schmidt seine Augen, denn Barbara stirbt nicht!

Mit diesem Buch beschäftigt sich Alina Bronsiky, wie schon in den Vorgängern mit den Verschrobenheiten der älteren Generation. Doch diesmal setzt sie einen Großvater ins Zentrum und tut das mit gewohntem Wortwitz, kritisch und dennoch sensibel. Sie gibt diesem typischen Rollenbild eine Stimme; zeigt, dass auch unter der rauesten Schale ein weicher Kern stecken kann und dass man nie zu alt für Veränderung sein kann.

Mir hat das Buch hervorragend gefallen. Ich mag diesen schwarzen Humor und habe mich gut amüsiert bei der Lektüre, auch wenn ich mir manchmal dachte, dass man besser hinter vorgehaltener Hand lachen soll. Daher vergebe ich 5 Sterne und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2021
Schreiber, Jasmin

Der Mauersegler


sehr gut

Prometheus ist auf der Flucht. Mit seiner schwarzen Arztkutsche rast er in den Norden, bis er am Strand in Dänemark nicht mehr weiterkommt. Ja, er wollte ins Meer fahren; der Sand hat seine Räder blockiert.

Gefunden wird er von einer mürrischen, älteren Dame, die ihn erst mal mitnimmt auf ihren Hof, den sie gemeinsam mit ihrer Frau Helle betreibt. Sie haben außerdem eine kleine Pension und derzeit keine Gäste.

Die beiden Frauen sehen Prometheus seine Verzweiflung an und stelle erstmal keine Fragen. In der Natur kann er seiner Trauer freien Lauf lassen und die Arbeit mit den Tieren gibt ihm wieder Halt unter den Füßen.

Doch irgendwann muss sein Geheimnis an die Oberfläche und natürlich sind wir als Leser*innen auch gespannt, ob er sich nur die Schuld an Jakobs Tod gibt, oder tatsächlich auch schuldig ist.

Wie schon in ihrem ersten Roman beschäftigt sich Jasmin Schreiber mit dem Tod eines nahestehenden Menschen. Doch wo "Marianengraben" durchzogen von feinsinnigem Humor war, findet sich hier nur Verzweiflung. Das Ganze ist zwar aufgelockert durch Erzählungen aus der Kindheit der beiden Freunde. Wir erfahren, wie sie sich kennenlernten, was sie miteinander erlebten und wie nahe sie sich immer standen.

Die ganze Geschichte ist sehr berührend, aber Prometheus' Entscheidungen haben mich bei der Lektüre auch wütend gemacht und den Humor habe ich ganz klar vermisst. Trotzdem hat mir das Buch gefallen.

Bewertung vom 07.09.2021
Knecht, Doris

Die Nachricht


sehr gut

Ruth betrauert noch immer ihren vor 3 Jahren verstorbenen Mann, als sie beginnt, sich wieder zu verabreden. Wie es scheint, hat sie einen Mann kennengelernt, der ihr hilft, wieder Lust am Leben zu empfinden.

Da trudelt eine ominöse Nachricht bei ihr ein, die ihr zu denken gibt, denn kaum jemand weiß vom Inhalt dieser Nachricht.

Da sie beruflich immer wieder in der Öffentlichkeit stand und aktiv in den sozialen Netzwerken schreibt, ist sie an ein gewisses Maß an Beschimpfungen und Internettrolle gewöhnt. Sie reagiert erst mal nicht auf diese Nachricht.

Doch dann kommen immer mehr von diesen Nachrichten, werden immer perfider und gehen schließlich auch an ihre Freunde und Geschäftspartner.

Ruth versucht diese Nachrichten zu ignorieren, muss aber feststellen, dass die Inhalte bei ihrem Umfeld doch hängenbleiben und immer wieder überlegt wird, ob nicht doch ein Funken Wahrheit drinsteckt.

Als Leser*in beginnt man natürlich sofort zu raten, wer Verfasser*in dieser Anschuldigungen sein könnte. Die Autorin lenkt geschickt den Verdacht und man ertappt sich dabei, selbst in jede Falle zu tappen. Die Autorin spielt mit Opfer-/Täterumkehr und zeigt mit diesem Buch auf, wie schnell man bereit ist ein Urteil zu fällen.

Bis zum Schluss bleibt unklar, wer hier Verfasser dieser perfiden Nachrichten ist. Die Autorin zeigt auf, wie machtlos man als Betroffene ist und auch wenn man noch so stark ist, verändern einen die Inhalte. Langsam schleichen sich diese Anschuldigungen in die eigenen Gedanken ein und man beginnt, den Wahrheitsgehalt bzw. den Mangel daran zu hinterfragen.

Geschickt eingefädelt, spannend umgesetzt und doch bleibt eine gewisse Distanz zur Protagonistin. Sie ist nicht die sympathischste Person dieser Geschichte. Diese Kühle, die die Protagonistin ausstrahlt, macht mich zwar nachdenklich, verursacht aber auch, nicht so mitzuleiden, wie sie es eigentlich verdient hätte. Daher ziehe ich einen Stern ab.

Bewertung vom 27.08.2021
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Martin ist ein aufgeweckter Junge und das muss er auch sein, denn als Mündel eines Dorfes ist es im Mittelalter nicht einfach sein Auskommen zu finden. Niemand fühlt sich für ihn verantwortlich, aber alle schätzen seine billige Arbeitskraft, denn er hütet schon mal für eine einzige Zwiebel einen ganz Tag lang die Ziegen.

Aber Martin ist ein schlauer Fuchs und erkennt recht früh die Dummheit der Dorfleute, deren Denken im Allgemeinen von der Kirche und von Mythen geprägt ist. Mit einem Wandermaler zeiht er weiter, denn er hat eine Mission. Er will die entführten Kinder retten, die die schwarzen Reiter mitgenommen haben.

Auf seiner Reise erlebt er allerhand Grausamkeiten, die im Mittelalter leider gängig sind. Mit detektivischem Spürsinn deckt er Ungereimtheiten auf und kommt seinem Ziel immer näher. Geheimnisse werden offengelegt, Mythen werden obsolet und der Intellekt gewinnt.

Eine großartige Geschichte hat Stefanie vor Schulte hier veröffentlicht! Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, so gefesselt hat mich die Reise dieses charismatischen Jungen.

Dieses Buch hat alles, was ein echter Pageturner braucht: spannende Handlung, ein smarter Protagonist und ein fesselnder Schreibstil. Deshalb gibt es ganz klar eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Bewertung vom 08.08.2021
Zürcher, Tom

Liebe Rock


sehr gut

Timm ist Schulabbrecher, jobbt in einem Supermarkt und bezeichnet sich selbst als Schriftsteller. Er hat zwar noch kein Buch veröffentlich, aber er schreibt zusammenhanglose Sätze in sein Wachspapierheft, das er immer und überall dabei hat.

Außerdem kann er ganz ordentlich trinken, wie ein richtiger Schriftsteller. Seine Zeit verbringt er bevorzugt in einer Spelunke, wo seine Angebetete Rock kellnert. Um nicht mehr bei den Eltern wohnen zu müssen, zieht er kurzerhand in die Rumpelkammer zu Rock und Marc und bringt ordentlich Wirbel in die WG.

Eigentum hat er keins und respektiert auch fremdes nicht. Er bedient sich in Marks Zimmer auch noch, als dieser es mit einem zusätzlichen Vorhängeschloss sichert.

Und er schafft es tatsächlich einen Roman zu veröffentlichen. Aus seinen Sätzen und Marks Dissertation bastelt er mit der Cut-up Methode ein Buch mit dem Titel 1.

Er lügt, betrügt und bleibt dabei in seiner kindlichen Naivität doch irgendwie sympathisch, bis er gegen Ende hin den Bogen in seiner Bessenheit Rock zu erobern, überspannt.

"Liebe Rock" ist ein Briefroman. Von Anfang an wird die Erwählte angesprochen und Timm's ganzes Handeln auf sie ausgerichtet, obwohl Rock wirklich nichts tut, was ihn dazu auffordert. Timm ist ein interessanter Charakter. Er wirkt kindlich naiv und überschreitet pausenlos sämtliche Grenzen, die er finden kann. Trotzdem hat damit irgendwie Erfolg und verliert auch nicht die Sympathie der Mitmenschen und der Leser*innen.

Mich hat das Buch hervorragend unterhalten, obwohl ich unendlich dankbar war, niemals einen Mitbewohner wie ihn gehabt zu haben.

Spannend fand ich auch, dass die Kapitel als Countdown angelegt sind. Das Buch beginnt bei 100 und als Leser*in kann man sofort rätseln, worauf es zusteuern wird.

Und lustig fand ich, wie der Autor das Feuilleton aufs Korn nimmt. Diese Abschnitte darf man natürlich mit einem Augenzwinkern lesen, man darf aber auch laut lachen!

Bewertung vom 06.08.2021
Krien, Daniela

Der Brand


ausgezeichnet

Rahel und Peter sind seit vielen Jahren verheiratet. Ihre Kinder sind erwachsen, die Tochter selbst schon Mutter, der Sohn angehender Gebirgsjäger. Ihre Familie hat sich wieder auf die beiden als Paar reduziert. Ihre Liebe ist ihnen im Alltag abhanden gekommen. Sie schlafen nicht mehr im selben Zimmer und seit einiger Zeit auch nicht mehr miteinander.

Peter scheint das nichts auszumachen. Er war schon immer sehr introvertiert, eher ein Kopfmensch, dem seine Triebe nicht so wichtig sind. Doch Rahel leidet darunter. Sie versucht ihren Körper straff zu halten, weiß aber, dass ihre Tage als schöne Frau vorbei sind.

Ihren ersten Corona-Sommer wollten die beiden in einer Hütte in den Bergen verbringen, doch wie es der Zufall will, werden sie das Haus einer Freundin in der Uckermark hüten und deren Tiere versorgen.

So stehen die beiden vor völlig neuen Aufgaben und stellen fest, dass ihnen das Landleben gefällt. Anfangs schleichen sie umeinander, gehen sich aus dem Weg und suchen doch immer wieder das Gespräch.

Ihre Ehe scheint unrettbar und als Leserin hatte ich das Gefühl, die Einsamkeit der Uckermark wird den Abgrund zwischen ihnen noch verstärken.

Doch ihre Ehe hätte nicht so lange gehalten, wenn sie sich nicht immer aufeinander verlassen könnten, ehrlich miteinander umgehen, auch wenn es nicht immer der einfachste Weg ist und sich Raum geben, wenn es nötig ist.

Das Buch scheint mitten aus dem Leben gegriffen. Ihre Probleme sind stellvertretend für viele Paare, die versuchen ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Eine Ehe verläuft nicht linear und Daniela Krien zeigt auf, wie es laufen kann, wenn man bereit ist, für den Erhalt etwas zu tun, um einen geliebten Menschen zu kämpfen.

"Der Brand" liest sich fast wie von selbst. Es passiert nichts dramatisches, es ist aber auch nicht langweilig. Die Geschichte ist so durchschnittlich, wie ein ganz normales Leben und das macht sie wieder besonders. Manche werden sich darin finden, andere nicht und wieder andere sehen vielleicht ihre Eltern darin.

Die Geschichte ist gänzlich unaufgeregt. Aber dadurch hat sie mich emotional nicht berührt. Das Buch hat mir gefallen, mitgerissen hat es mich nicht. Daher vergebe ich 4 Sterne.

Bewertung vom 24.07.2021
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


ausgezeichnet

Was ist dein Leiden? Was fehlt dir?

Diese Frage durchzieht dieses Buch.

Die Erzählerin begleitet ihre Freundin aus Studientagen in ihren letzten Tagen, da diese an einer tödlichen Krebserkrankung leidet.

In dieser Zeit stellt sie sich selbst in Frage, erinnert sich und lebt weiter.

Die Autorin geht der Frage in verschiedensten Herangehensweise nach und wir lesen hier Anekdoten, die das Buch wie einen Erzählband wirken lassen. Zusammengehalten ist das alles von der sterbenden Freundin, die sie vornimmt ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, bevor der Krebs das erledigt.

Doch auch das bleibt ein hehres Ziel, denn im Angesicht des Todes weiß niemand, wie er/sie sich verhalten wird.

Sigrid Nunez zeigt uns in diesem Buch einen Krimi, einen Dokumentarfilm über Gläubige, einen hoffnungslosen Klimawandelexperten und einiges an Literatur. Mit den vielen Geschichten umkreist sie das titelgebende Thema. Wir sollten viel häufiger zuhören. Nachfragen und wirklich zuhören, denn jede*r hat eine Geschichte zu erzählen, die es wert ist, gehört zu werden.

Ich habe diesen Roman nicht ungern gelesen, aber so richtig fesseln konnte mich die Autorin mit diesem Buch nicht. Irgendwie hatte ich auch immer das Gefühl, sie redet um den Brei. So geht es mir immer, wenn Menschen nicht über ihre Gefühle sprechen können und stattdessen Liedtexte, Bücher oder Gedichte dafür heranziehen. Vergleiche können helfen sich verständlich zu machen, dennoch braucht es auch die tatsächliche Geschichte. Hier hatte ich das Gefühl, als würde ich die gesammelten Fussnoten eines Tagebuchs lesen. Die Geschichten sind interessant, keine Frage, aber es hat mir was gefehlt. Mir fehlt hier die Empathie der Erzählerin, die diese letzten Tage und Wochen an der Seite hier Freundin verbringt. Sie nähert sich ihr an, aber sie durchdringt ihre Sorgen und Ängste nicht. Zumindest konnte ich das bei der Lektüre nicht erkennen. Mir war diese Geschichte zu distanziert.

Bewertung vom 23.07.2021
Hecht, Janina

In diesen Sommern


ausgezeichnet

"In diesen Sommern" erzählt von Teresas Kindheit und Jugend. Episodenhaft gewährt uns die Ich-Erzählerin Einblick in ihr Aufwachsen am Land. Sie erzählt vom ersten Mal Fahrrad fahren, von den Tagen im Schwimmbad, von der Weinlese auf Großvaters Hof und von den sonnigen Urlauben in Italien.

Doch alle Geschichten sind durchzogen von einer Düsternis, die nie weicht und immer schwerwiegender wird. Denn der Vater ist Alkoholiker und neigt zu Gewalt, die sich anfangs eher gegen die Mutter richtet, aber später auch gegen die Kinder.

Diese Erinnerungsfragmente zeichnen langsam ein Bild der Familie. Der Konflikt zwischen Liebe und Hass und immer wieder das schwappen auf eine der beiden Seiten.

Es ist ein Aufwachsen mit ständiger Wachsamkeit, es kommt aber auch immer wieder zu einem Herausfordern, einem Überschreiten der Grenzen. Die kurzen Kapitel geben dem Erzähltem viel Gewicht. Die Geschichte ist auf das nötigste reduziert und transportiert diese innere Zerrissenheit ausgesprochen gut.

Das Aufatmen, als die Mutter mit den Kindern den Vater verlässt können wir gut nachvollziehen, doch für die Teresa und ihren Bruder löst sich nicht alles. Sie fühlen sich ihrem Vater dennoch irgendwie verpflichtet und kämpfen mit der Frage, wie viel Bedeutung ihre schönen Erinnerungen haben Angesichts der Gewalt, die sie durch ihren Vater erfahren haben.

Ich bin begeistert, von der Art, wie uns die Autorin an diese Geschichte heranführt. Der Mut zur Lücke macht das Buch besonders, denn dadurch hat jeder Satz Gewicht.

Janina Hecht hat mit diesem Buch ihr Talent zum Schreiben mehr als bewiesen und ich bin überzeugt, dass wir von dieser Autorin noch viel erwarten können. Ich freue mich schon jetzt auf ihr nächstes Buch, denn dieses hier konnte mich restlos überzeugen.

Bewertung vom 18.07.2021
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Jan streift durch sein Leben in einer dystopisch anmutenden Kleinstadt im ehemaligen Osten Deutschlands. Er arbeitet als Hol- und Bringdienst in einem Krankenhaus, das kurz vor der Schließung steht und Personal und Patienten bereits auf ein Minimum reduziert sind.
Genauso reduziert wirkt die Stadt. Die Fabriken sind Ruinen, die Plattenbausiedlungen stehen ohne Fenster und Türen da und sind dem Verfall anheim gegeben.
Selbst sein Leben ist dominiert von Leerstellen. Seine alkoholkranke Mutter hat die Familie verlassen und sein Vater trauert seinem ehemaligen Leben als Fischer nach. Zwischen der Freiheit der Wende und der Hoffnungslosigkeit einer fehlenden Zukunft verläuft nur ein ganz schmaler Grat.
In einem zweiten Erzählstrang lesen wir von dem Maler Georg von Baselitz, der kurz vor dem Mauerbau in den Westen geflüchtet ist. Sein Bruder wollte ihm folgen, war aber ein paar Tage zu spät dran und wurde von der Mauer überrascht. Eine Flucht ist ihm in den folgenden Jahren nie gelungen.
Baselitz Bilder beschäftigen sich mit den Helden, bzw. gefallen Helden von früher. Berühmt wurde er mit seinen Kopfüber Bildern. Die Menschen hängen quasi in der Luft, gefangen in einem Vakuum, dass sie treiben lässt.
Und genau so nimmt Jan auch seine Eltern wahr. Sie treiben als Raumfahrer in der Leere der Wende.
Mit diesen zwei Erzählstängen spannt Lukas Rietzschel einen Bogen zwischen der Nachkriegszeit und der Nachwendezeit verbunden durch Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Der Aufwind dieser beiden Umschwünge weht definitiv anderswo.
Die Sprünge zwischen den zwei Erzählspträngen sind leider manchmal etwas verwirrend. Es braucht etwas, bis man sich an die chaotische Erzählweise gewöhnt, aber dem Autor gelingt es, diese beiden Geschichten zusammenzuführen und zu klären, wie die Ereignisse um Baselitz auch Jans Leben prägen.
Dadurch entspinnt sich ein Stück Erinnerungskultur, das eher die dunkle Seite der Geschichte zeigt.
Ich habe das Buch gerne gelesen, auch wenn man streckenweise nicht weiß, worauf das alles hinausläuft. Schlußendlich fügt sich alles und es ergibt sich ein schlüssiges Bild dieser verlorenen Gesellschaft. Wie Raumfahrer schweben sie durch ihr perspektivenloses Leben, ihrer Wurzeln beraubt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.