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Christian1977
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Leipzig

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Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 06.11.2021
Ramadan, Danny

Die Wäscheleinen-Schaukel


ausgezeichnet

Vancouver, in der näheren Zukunft: In seiner neuen Heimat lebt der Ich-Erzähler gemeinsam mit seinem sterbenskranken Lebensgefährten - und versucht, diesen zu retten, indem er ihm seine Geschichten erzählt. Während der Tod im wahrsten Sinne des Wortes schon anwesend ist und auf eine neue Seele wartet, entpuppt sich der "Hakawati", was "Geschichtenerzähler" bedeutet, als verletzlicher und verletzter Liebhaber, als Flüchtling, der die Heimat betrauert, als unverstandenes Kind unter der rigiden Herrschaft der psychisch kranken Mutter - und letztlich als moderne Scheherazade.

"Die Wäscheleinen-Schaukel" ist der bemerkenswerte Debütroman von Ahmad Danny Ramadan. Es ist ein Werk, das sowohl formal, als auch inhaltlich außerordentlich überraschend und farbenfroh ist. Da ist zunächst einmal die sehr ungewohnte, aber faszinierende Erzählperspektive. Über weite Strecken des Romans greift Ramadan auf das "Du" zurück, mit dem der Erzähler nicht nur seinen sterbenden Geliebten direkt anspricht, sondern auch eine unmittelbare Nähe zu den Leser:innen erzeugt. Was anfangs noch ein wenig sperrig wirkt, führt doch relativ schnell zu einer gewissen Sogwirkung.

Seine stärksten Momente hat der Roman in den zahlreichen Geschichten, die der Hakawati seinem Liebsten erzählt. Sie handeln von Trauer, Verlust, Gewalt, von der Kindheit und nahezu immer von der Liebe. Mal ist es die Liebe zu seiner Großmutter, mal zu seinen Freunden. Es ist die Auseinandersetzung mit seiner Homosexualität, mit seinen ersten, auch sexuellen Erfahrungen. Sehr häufig spielt aber die Liebe zu Syrien, zu Damaskus die größte Rolle. Seine Trauer über den Verlust der kriegszerstörten Heimat ist in fast jeder Zeile zu spüren, wobei Ramadan sie durch seine poetischen Worte wiederauferstehen lässt. Diese Farben und Gerüche, die Geräusche, die Eigenheiten der Damaszener: Ramadan schafft es ganz wunderbar, die Leser:innen in die Vergangenheit zu versetzen, auch wenn immer wieder Tod und Zerstörung die Idylle trüben.

Überhaupt ist es die Sprache, mit der es Ramadan eindrucksvoll gelingt, dieses Debüt zu etwas ganz Besonderem zu machen. Die Poesie, die Perspektivwechsel, manchmal mitten in den Erzählungen, sorgen immer wieder für überraschende Momente, die gleichermaßen berühren wie unterhalten.

Die eigentliche Rahmenhandlung der beiden gealterten Männer in Vancouver um das Jahr 2050 herum kann da mit den Geschichten aus der Kindheit und Vergangenheit nicht ganz mithalten. Zu häufig säuseln sich die Männer ein "Ich liebe dich" zu, das mit der Zeit ein wenig an Intensität verliert, weil es sich eben zu oft wiederholt. Die physische Anwesenheit des Todes halte ich jedoch für bereichernd, denn der Gevatter präsentiert sich als durchaus umgänglich und weiß selbst, die ein oder andere Geschichte zum Gelingen des Romans beizutragen.

Umso intensiver sind aber die Geschichten des Hakawati, die zudem im bewegenden Finale um eine wahrlich überraschende Pointe erweitert werden und die Beziehung der beiden Männer noch einmal ganz neu bewerten lässt.

"Die Wäscheleinen-Schaukel" ist ein wichtiger und beeindruckender Roman, der auch noch einmal deutlich macht, wie schwer es ein LGBTQ-Aktivist in der arabischen Welt hatte und wohl auch immer noch haben wird. Für sein Engagement und seine Offenheit gebührt Ramadan der allergrößte Respekt, sein Roman wird hoffentlich viele Leser:innen erreichen und könnte bei allem Schmerz auch denjenigen Kraft schenken, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.

Bewertung vom 03.11.2021
Heyden, Florian

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater


gut

Walter Ulbricht ging in die deutsch-deutsche Geschichte, ja sogar in die Weltgeschichte als der Mann ein, der die Berliner Mauer hat bauen lassen. Doch über seine Biografie, sein Privatleben, seine Kindheit war bislang so gut wie gar nichts bekannt. Wer war der Mann, dessen berühmtester Satz wohl in jedem deutschsprachigen Geschichtsbuch zu finden ist? Und wer ist die Familie hinter diesem Mann? Florian Heyden gibt Antworten in seinem Buch "Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater".

Nach dem vor allem durch die Süddeutsche Zeitung bekannt gewordenen Streit mit dem ersten Verlag konnte Heyden das Buch nun endlich nach seinen Vorstellungen herausbringen und erläutert diese glaubhaft im "Vorwort zur Neuauflage". Im anschließenden Prolog werden die Beweggründe Heydens, überhaupt dieses Buch geschrieben zu haben, noch deutlicher. Das "gut gehütete" Familiengeheimnis "Walter Ulbricht", über das nicht gesprochen werden sollte, nicht gesprochen werden durfte und doch zeitweise wie ein Schatten über dieser Familie lag. Es ist ein bemerkenswert ehrlicher Prolog, so berührend wie offenherzig und emotional. Umso bedauerlicher erscheint es, dass Florian Heyden diese Emotionalität im Buch selbst so gut wie möglich verstecken will. Dabei handelt es sich doch um so viel mehr als ein gewöhnliches Sachbuch.

"Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater" liest sich in den erklärenden Texten nahezu emotionslos, fast nüchtern. Die Ereignisse und Figuren aus Walter Ulbrichts Leben rauschen an den Leser:innen vorbei, man nimmt sie wahr, doch im nächsten Moment sind sie schon wieder verschwunden. Man muss die emotionalen Stellen, die im Prolog noch so deutlich werden, förmlich mit der Lupe suchen. In einer Bildunterschrift auf S. 392 bezeichnet Heyden seinen Urgroßvater als "emsigen Einheitsapostel", an anderer Stelle macht der Autor deutlich, dass Ulbricht die Partei immer näher war als die eigene Familie. Dann gibt es wiederum Passagen, in denen Heydens Respekt vor Walter Ulbricht erkennbar ist - vor diesem Mann, der sich auch als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus auszeichnete und als Kommunist oder Sozialist nahezu ständig behördlicher Verfolgung ausgesetzt war. Doch leider gibt es diese Stellen zu selten.

Umso erfrischender und erhellender wirken im Kontrast dazu die Originalquellen, die den Menschen Walter Ulbricht mit all seinen Stärken und Schwächen präsentieren. Die jugendlichen Klagen darüber, "nur ein Prolete" zu sein, ein zärtlich-verspielter und liebevoller Brief an die Tochter, dazu die Fotos, die Walter Ulbrichts Leben von früher Kindheit an begleiten - hier beweist der Autor, welch großes Potenzial dieses Buch hat und wie spannend es ist, seinem Urgroßvater zu folgen. Ein besonders beeindruckendes Bild zeigt Walter Ulbricht als jungen Sozialdemokraten am Vorabend des Ersten Weltkriegs. "Gebildet, kultiviert und selbstbewusst", urteilt Heyden und verlässt hier noch einmal die ansonsten vorherrschende Nüchternheit.

Leider weist das Buch jedoch auch formale Mängel auf. Zwingend fehlt ein Namensregister, denn es tauchen so viele Personen auf, dass ich mich manchmal fragte, wer denn nun beispielsweise "Jacob Herzog" nun wieder ist und ich erst mühsam zurückblättern musste, um in ihm einen Jugendfreund Walters wiederzuerkennen. Die textlich so beeindruckenden "Familienerinnerungen im Besitz des Autors" werden nicht näher erläutert, so dass ich manchmal nicht einmal wusste, von wem das Zitat gerade stammt. Historische Figuren werden zudem zu häufig als bekannt vorausgesetzt. Vielleicht kann man als Autor erwarten und hoffen, dass wirklich ein jeder Leser gleich weiß, wer bei der Ersterwähnung mit "Liebknecht" gemeint ist, doch man kann es eben nicht voraussetzen. Hier hätte Florian Heyden häufiger eine kurze Erläuterung und in jedem Fall bei der Ersterwähnung den Vornamen verwenden müssen.

Dennoch ist "Walter Ulbricht - Mein Urgroßvater" ein lesenswertes Buch geworden. Vor allem die erwähnten Originalzitate und Fotos, aber auch

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.10.2021
Helfer, Monika

Vati


sehr gut

Nachdem sich Monika Helfer im letzten Jahr in "Die Bagage" vornehmlich mit ihrer Großmutter Maria befasste, widmet sie den zweiten Teil ihres autobiografischen Projekts vor allem Vater Josef. Der wollte von seinen Kindern "Vati" genannt werden, weil es so modern klinge, erfahren wir gleich zu Beginn des Romans. Alles andere als modern ist das Buch selbst - muss es aber auch nicht, denn erneut trifft Monika Helfer in ihrer unsentimentalen und dennoch sehr berührenden Geschichte die richtigen Töne.

Der Sprachstil unterscheidet sich erwartungsgemäß dabei nicht von der "Bagage", fast meinte man, die beiden Romane hätten aufgrund ihrer Kürze durchaus auch in ein Buch gepasst. Die Sätze sind meist kurz, manchmal lakonisch, immer wieder angereichert mit Anekdoten aus der Kindheit und der Gegenwart der Autorin. Zusammen fügen sich diese Anekdoten zu einem stimmigen Bild und einem überzeugenden Roman.

Die größte Überraschung für mich war, dass die Figuren in "Vati" den Leser:innen nicht so nahe kommen wie in der "Bagage", und das obwohl Monika Helfer diesmal eigentlich viel näher dran sein sollte an der Nachkriegs-Generation ihres Vaters und ihrer Mutter. Vielleicht ist es auch eine bewusst gesetzte Grenze, denn den Schmerz über die lange andauernde Abwesenheit des Vaters ist dem Roman trotzdem fast in jeder Zeile anzumerken. Mal fehlt er nach einem missglückten Suizidversuch, mal wegen der Trauer um die verstorbene Ehefrau. Und selbst wenn er anwesend ist, wirkt er nicht immer präsent und spricht nicht besonders viel mit seinen Kindern. Dennoch ist die besondere Verbindung Monika Helfers zu ihrem Vater zu spüren, die sich nicht allein durch die gemeinsame Liebe für die Bücher und Literatur definiert.

Unweigerlich vergleicht man "Vati" und "Die Bagage" miteinander, weil sich die Bücher so ähneln, auch wenn es vielleicht nicht ganz gerecht ist. Und während ich mich in der "Bagage" vor allem mit Monika Helfers Onkel Lorenz, in dem Buch noch als Kind auftretend, identifizieren konnte und in ihm eine unglaublich schillernde und spannende Figur erkannte, fehlte mir diese Figur in "Vati" ein wenig. Lorenz selbst darf auch nochmal auftreten, trägt aber erstaunlich wenig zur Handlung bei.

So komme ich zu dem Schluss, dass mich "Die Bagage" insgesamt noch ein Stückchen mehr berührt und mitgerissen hat, obwohl dies sicherlich Klagen auf hohem Niveau sind. Unbestritten ist jedoch, dass auch "Vati" äußerst lesenswert ist und mit seinem recht unerwarteten, fast schon abrupten Ende die Türen für den dritten Teil, der sich wohl um Bruder Richard drehen soll, weit aufstößt.

Bewertung vom 13.10.2021
Sok-Yong, Hwang

Vertraute Welt


sehr gut

Als der 13-jährige Glupschaug zusammen mit seiner Mutter die Slums in der Nähe Seouls verlässt, um sich zur "Blumeninsel" aufzumachen, weiß er noch nicht, was die beiden dort erwartet: eine überdimensionierte Müllkippe, auf der sie fortan als Arbeiter unter der Anleitung des "Barons" eingesetzt werden. Eine unerträgliche Situation, die für Glupschaug vor allem dadurch leichter wird, dass er sich mit Glatzfleck, dem zehnjährigen Sohn des Barons anfreundet. Gemeinsam müssen sich die beiden beweisen, in dieser von Erwachsenen dominierten Welt des Schmutzes...

Hwang Sok-Yong zeichnet in "Vertraute Welt", im koreanischen Original bereits 2011 erschienen, das düstere Bild einer Wegwerfgesellschaft zu Beginn der 1980er-Jahre, das noch immer erschreckend aktuell wirkt. In knappen, lakonischen Sätzen, lässt Hwang von Beginn an keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gelten: den Armen und Schwachen, den von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Weggeworfen. Und natürlich den Kindern, denn Protagonist Glupschaug ist mit großem Abstand die wichtigste Figur. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es keine einzige Szene, die ohne ihn auskommt.

Ganz wunderbar gelingt es dem Autoren, die Empathie für Glupschaug und Glatzfleck auf die Leser:innen zu übertragen. Das führte so weit, dass ich in ständiger Sorge um den kleinen Glatzfleck war und überall Gefahren witterte, wo häufig gar keine waren. Der Schreibstil wirkt dabei ein wenig aus der Zeit gefallen, vielleicht gar altmodisch, was mich aber nicht störte. Gerade in den Dialogen der Kinder fühlte ich mich manchmal an diese alten wunderbaren DEFA-Filme erinnert, wo die jungen Darsteller ihre Beiträge auch häufig einmal mit dem Ausruf "Mensch..." einleiteten.

Insbesondere das erste Drittel des Romans hat mir in diesem Zusammenhang sehr gut gefallen. Sensibel und mit dem nötigen Ernst schildert Hwang die sich leise anbahnende Freundschaft zwischen Glupschaug und Glatzfleck, die später und aufgrund des Verhältnisses zwischen Glatzflecks Vater, dem Baron, und Glupschaugs Mutter sogar zu einer brüderlichen Beziehung wird.

Leider kann der Roman diese Intensität nicht über die vollen gut 200 Seiten bewahren. Gerade mit der Zunahme von metaphysischen Erscheinungen und geisterhaften Gestalten kam ich nicht so gut zurecht, da der Roman zu Beginn doch auf eine harte Realität setzt. Das mag aber auch mit der fernöstlichen Literatur allgemein zusammenhängen, wo Geisterwesen wohl des Öfteren eine größere Rolle spielen.

Auch das Ende überzeugte mich nicht vollends. Ohne zu viel zu verraten, passiert etwas so Drastisches, über das in meinen Augen einfach zu schnell hinweg gegangen wird. Auch innere Konflikte werden in der Folge dieses Ereignisses nicht austariert.

Leichte Kritikpunkte an einem insgesamt aber überzeugenden Roman über die dunklen Seiten Südkoreas, der gleichermaßen aufrüttelt wie berührt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2021
Vallès, Tina

Das Gedächtnis des Baumes


ausgezeichnet

Der zehnjährige Jan ist sich unsicher: "Darf ich mich freuen?", fragt er die Eltern, als sie ihm erzählen, dass seine Großeltern künftig gemeinsam mit ihnen in ihrer Wohnung in Barcelona leben werden. Jan ist ein empathischer, feinfühliger kleiner Junge, der spürt, dass etwas Größeres hinter diesem Umzug stecken muss. Nach und nach stellt sich heraus: Großvater Joan, dessen Verbundenheit zu seinem Enkel nur durch das "O" im Vornamen getrennt wird, leidet an Demenz. Wie geht ein Kind damit um, wenn es Schritt für Schritt einen geliebten Menschen verliert? Darüber schreibt Tina Vallès in ihrem kleinen Roman "Das Gedächtnis des Baumes".

Es ist ein in Form und Inhalt bemerkenswerter Roman geworden - und nicht überraschend, dass das katalanische Original mit dem "Anagram Award" ausgezeichnet und in acht Sprachen übersetzt wurde. Die deutsche Version verströmt in der Übersetzung von Ursula Bachhausen eine Wärme, der man sich schwer entziehen kann.

Zunächst einmal sollte man sich nicht durch den auf dem Cover etwas irritierenden Zusatz "Inspirierender Roman" verunsichern lassen, der mich zunächst an eine gewisse Esoterik glauben ließ. "Das Gedächtnis des Baumes" ist weit entfernt von irgendwelchen Engeln oder Lebensratgebern. Dennoch ist es ein Buch, das Trost spendet und Mut macht. Besonders Leser:innen, die Erfahrungen mit demenzkranken Verwandten oder Bekannten gemacht haben oder machen, werden sich von der Empathie der Figuren angesprochen fühlen.

Allen voran ist da der kleine Ich-Erzähler Jan, auf dessen Perspektive sich Tina Vallès voll und ganz einlässt und trotz vieler philosophischer und auch erwachsener Gedanken eben so erzählt, wie ein Kind vielleicht erzählen würde: in kurzen Miniaturen. Jeweils elf kleine Abschnitte bilden zusammen ein Kapitel, von denen der Roman zehn aufweist. Ein Abschnitt geht vielleicht über nur ein paar Zeilen, ein längerer mal über eine Seite hinaus. Eine ungewöhnliche Erzählform, für die ich anfangs eine gewisse Zeit brauchte, um mich im Buch zurechtzufinden und einen Lesefluss aufkommen zu lassen.

Doch je weiter der Roman - und die Krankheit des Großvaters - voranschreiten, desto intensiver empfand ich den Inhalt und die bisweilen poetische Sprache. Der Zusammenhalt der Familie, die gegenseitige Liebe und Wärme, insbesondere aber die wirklich tiefgründige und ernste Beziehung zwischen Jan und seinem Großvater machen "Das Gedächtnis des Baumes" zu einem unvergesslichen kleinen Juwel.

Überhaupt nimmt Vallès ihre Figuren so ernst wie sie es verdienen. Die Sorgen des Jungen, die Ängste des Großvaters (oder andersherum) - egal, wie groß oder klein sie sein mögen, die Autorin schenkt ihnen Beachtung und geht gut mit den Charakteren um.

Insbesondere die Bäume spielen in der Beziehung zwischen den Joans (einer mit, einer ohne "O") eine bewegende und große Rolle. Und so darf man als Leser:in Jan begleiten auf einem langen, schmerzhaften, aber auch tröstlichen Weg, um seinem Großvater endlich das Geheimnis der Trauerweide zu entlocken, die Joan immer und immer wieder erwähnt...

"Das Gedächtnis des Baumes" ist ein bewegender und äußerst lesenswerter Roman, der einmal mehr die Kreativität der katalanischen Literaturszene unter Beweis stellt. Er bleibt in meinem Gedächtnis.

Bewertung vom 06.10.2021
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


gut

Südengland, 1989: Die beiden Außenseiter Redbone und Calvert haben das Ziel, am Ende des Sommers den perfekten Kreis zu erstellen. Was niemand weiß: Die Männer sind verantwortlich für das Phänomen der "Kornkreise", die damals weltweit für Aufsehen sorgten...

"Der perfekte Kreis" von Benjamin Myers ist ein knapper Roman, der sich in zehn Kapiteln mit der Arbeit der beiden Männer beschäftigt. Vor allem sprachlich überzeugt er, während er auf der Handlungsebene selbst mir zu langsam war, obwohl ich ein Freund des langsamen Erzählens bin.

Myers findet berührende und philosophische Metaphern, die Beschreibungen der Natur wirken zum Teil kontemplativ. Redbone und Calvert sind empathische Beobachter, ihnen geht es darum, die Natur zu wahren und auch keinen der Weizenhalme zu zerstören, die sie für ihre Kreise auf den Boden falten. Sie sind auf Suche nach der vollkommenen Schönheit, nach dem Höhepunkt ihres Schaffens.

Dennoch erfährt man über die Protagonisten zu wenig, um eine echte Bindung zu ihnen aufbauen zu können. Zwar unterhalten sich die beiden, während sie nachts in den Feldern unterwegs sind, doch der Funke wollte auf mich nicht überspringen.

Am gelungensten sind die Momente, in denen die Männer durch andere auftauchende Nebenfiguren gestört werden. Gemeinsam suchen sie in einer wirklich berührenden Szene nach dem vor 80 Jahren entlaufenen Hund einer demenzkranken Frau. In einer weiteren Situation verwechselt der Gutsbesitzer Redbone mit einem Feldarbeiter, was zu einem kuriosen und komischen Dialog führt.

Doch insgesamt stellte sich über weite Strecken eine gewisse Eintönigkeit ein, weil die Handlung eben sehr stark auf das Erstellen der Kornkreise beschränkt ist. Dabei hätten die Figuren durchaus Potenzial gehabt, stärker entwickelt zu werden. Und auch die Grundidee, über die Kornkreise einen philosophischen Roman zu schreiben, halte ich für wirklich gelungen.

Bewertung vom 02.10.2021
Crane, Stephen

Die tristen Tage von Coney Island


ausgezeichnet

Der "Pendragon Verlag", der in diesem Jahr selbst sein 40-jähriges Bestehen feiert, gratuliert kurz vor dessen 150. Geburtstag einem Autoren, der in letzter Zeit wohl so etwas wie das Lieblingskind des Verlags geworden ist: Stephen Crane, dem "James Dean der amerikanischen Literatur", wie es im Klappentext heißt. Das Geschenk: "Die tristen Tage von Coney Island", ein Buch, das 13 der wichtigsten Erzählungen Cranes und ein informatives und lehrreiches Nachwort enthält. Ich gratuliere ebenfalls - zu einem wunderbaren Band, der dazu beiträgt, Crane unvergessen zu machen...

Cranes Roman "Die rote Tapferkeitsmedaille" und Andreas Kollenders literarische Verbeugung "Mr. Crane" sind letztes Jahr im Verlag mit dem liebenswerten kleinen Drachen bereits erschienen, nun hat Herausgeber Wolfgang Hochbruck 13 Geschichten des mit 28 Jahren viel zu früh verstorbenen Schriftstellers zusammengestellt.

Es ist eine bemerkenswerte Sammlung geworden. Insbesondere sprachlich brilliert Crane. In oftmals lakonischen Sätzen schafft er es dennoch, eine ganz eigene und besondere Atmosphäre heraufzubeschwören. Sehr oft arbeitet er mit Lichtern und Farben, mit Naturschauspielen und persönlichen Schicksalen und entfachte bei mir dadurch wohlige Schauder der Melancholie. Verlassene Jahrmarktattraktionen in der Titelgeschichte, die auch auf dem Buchcover sehr schön festgehalten werden, vom Mond beleuchtete unruhige Wellen, die schwer wogten "wie ein längst in der Erinnerung entschwundener Busen, in dem das junge, unschuldige Herz noch vor Wonne rast" (aus "Seefahrer wider Willen", S. 31) - solche eindringlichen und wunderbaren Sätze bekommt man heute leider nur noch selten zu lesen.

Zudem entpuppt sich Crane als ironischer Gesellschaftsbeobachter mit spitzer Zunge, der sich auch einmal über seine Figuren lustig macht. Menschen, die sich "selbst im Angesicht des unerwarteten Todes" an das klammern, "was ihnen besonders wichtig war" - dem Programmheft des brennenden Theaters im kurzen unkonventionellen "Gefesselt" (S. 56) sind genauso Opfer seines feinen Spotts wie ein frisch verheiratetes Paar in "Die Braut kommt nach Yellow Sky", das am Ende genau wegen seines zuvor belächelten Verhaltens zum großen Gewinner der Geschichte wird.

Wenn die Menschen sich nicht selbst richten und bedrohen, sind es vor allem die Elemente, die ihnen bei Crane zu schaffen machen. Insbesondere Feuer und Wasser entpuppen sich als schwer besiegbare Gegner, doch auch eiskalte Blizzards machen es den Figuren des Buches nicht leicht. Dabei hat man das Gefühl, dass Crane selbst immer auf der Seite der Schwachen und Kranken steht - was wohl auch auf dessen eigene Biografie zurückzuführen ist. Crane lebte zeitweise "auf der Straße unter Bettlern und Kriegsveteranen", erfahren wir vom Verlag.

Mit den oftmals überraschenden Schlusspointen hält Crane den Leser:innen nicht selten den Spiegel vor. Ich fühlte mich ertappt, das Opfer einer Geschichte selbst vorschnell verurteilt zu haben, bevor das Finale eine ganz neue Sichtweise auf den Mann hervorbringt. In der Titelgeschichte schmunzelte ich am Ende über mich selbst, da Crane hier nicht nur den Protagonisten, sondern auch die Leser:innen ein wenig vorführt.

Und auch wenn das Buch mit drei Kriegserzählungen endet, die an die Zeit Cranes als Kriegsberichterstatter erinnern und vielleicht nicht die stärksten des Bandes sind, bleibt unter dem Strich ein wunderbares Denkmal an einen Autoren, der nicht in Vergessenheit geraten darf. Crane und den Literaturliebhaber:innen ist zu wünschen, dass der "Pendragon Verlag" seine ehrenwerte Arbeit daran in den nächsten Jahren fortführt.

Meine persönlichen Favoriten eines insgesamt beeindruckenden Buches: "Die tristen Tage von Coney Island", "Männer im Sturm", "Das blaue Hotel" und "Das offene Boot".

Bewertung vom 29.09.2021
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

Die 15-jährige Hauptschülerin Julia hat es nicht leicht. In der österreichischen Provinz hat sie nur ihre Freund:innen der "Crew", aber keine Perspektive. In einem Experiment im Geschichtsunterricht soll sie die UNO spielen. Doch während ihre Mitschüler:innen immer stärker in ihren Rollen aufgehen, bleibt Julia tatenlos - und gerät mehr und mehr ins Abseits.

"2001" von Angela Lehner ist ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman mit einer liebenswerten (Anti-)Heldin, die man so schnell nicht vergisst. Der Roman erzählt - eben im Jahr 2001 - von Julias letztem Jahr in der Schule und ganz nebenbei vom politischen Weltgeschehen dieses so unvergessenen Jahres. Doch im Vordergrund steht ganz klar Julias Entwicklung. Ihre zunächst so intensiven Freundschaften mit der "Crew", verbunden durch die gemeinsame Liebe zum Hip-Hop, zarte Liebesbemühungen auf der Suche nach dem ersten Freund oder auch die gegenseitige Unterstützung mit ihrem großen Bruder Michael - Angela Lehner konzentriert sich ganz auf die Perspektive ihrer jungen Erzählerin.

Dies ist zugleich Stärke und Schwäche des Romans, denn einerseits kommt man Julia dadurch als Leser:in sehr nah, andererseits sieht man eben nur das, was auch Julia sieht. Und das ist in einigen Momenten sehr wenig. Geschickt spielt die Autorin hier mit den Erwartungen der Leser:innen. Wird das Geschichts-Experiment ausarten wie einst "Die Welle"? Wie verhält sich Julia hinsichtlich des aufkommenden Rechtsradikalismus in ihrer Heimatstadt, dem Tal? Und was ist eigentlich mit ihren Eltern los?

Nach und nach werden diese Fragen beantwortet. Erstaunlich dabei ist, dass an einigen Stellen von "2001" sehr wenig passiert und ich mich trotzdem nie langweilte. Denn gerade diese Tatenlosigkeit Julias und ihre fehlende Perspektive werden zu den zentralen Themen der Geschichte.

Angela Lehner schaffte es, mich zum Weinen und zum Lachen zu bringen. Berührt schlug ich mich bedingungslos auf Julias Seite und hoffte ein ums andere Mal, es möge gut für sie ausgehen. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tragik vergessen Lehner und Julia aber nie ihren Humor, der oftmals ein wenig melancholisch, aber immer ehrlich wirkt.

Zudem überzeugt "2001" mit seiner eindringlichen und authentischen Figurenzeichnung, auch in den Nebenfiguren. Nicht nur in den Rollen im Geschichtsunterricht, sondern vor allem im "wahren Leben" stimmt diese Mischung aus Langeweile, Planlosigkeit, einem derben jugendlichen Slang und einem großen Herzen.

So ist "2001" ein Roman, der lange nachwirkt und im Gedächtnis bleibt. Mit Traurigkeit und Humor, mit zahlreichen Überraschungen - und mit Julia, einer der bemerkenswertesten und liebenswertesten Figuren, die mir in diesem Literaturjahr begegnet sind.

Bewertung vom 24.09.2021
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Köln, 1952: Handwerker Willi soll in der Wohnung der etwa gleichaltrigen Margot und deren Sohn Fred eine Wand einziehen, um den beiden mehr Privatsphäre zu ermöglichen. Unverständlich für Willi, denn die Wand würde der Wohnung so viel Licht nehmen. Trotzdem strahlt Margot eine gewisse Magie aus, so dass sie Willi fortan nicht aus dem Kopf gehen mag. Ist das der Beginn einer großen Liebesgeschichte?

"Wenn wir heimkehren" von Andrea Heuser ist eine Mischung aus Familienroman, Generationenporträt und Liebesroman fast epischen Ausmaßes. Über 600 Seiten und mehr als 80 Jahre spannt sich die Handlung. Hervorzuheben ist die große Empathie, die Heuser ihren Figuren gegenüber zeigt. Mit viel Wärme und Liebe werden die drei Protagonist:innen Margot, Willi und Fred porträtiert und es gelingt der Autorin spielend leicht, die Leser:innen auf deren Seite zu ziehen. Vor allem der kleine Fred wuchs mir schnell ans Herz, doch auch die sich anbahnende Beziehung zwischen Margot und Willi ist berührend. Hoch anzurechnen ist Andrea Heuser, dass sie dabei nie zu sentimental wird und eine durchaus drohende Kitschgefahr souverän umgeht.

Auch der Aufbau der Geschichte hat mich durchaus überzeugt. Die Rückblicke, die sich von 1952 aus vor allem auf die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs erstrecken, sind originell und ermöglichen ein besseres Verständnis der Figuren und ihrer Geheimnisse. Schön auch, wie Heuser verschiedene Sprachen einfließen lässt, vor allem in der luxemburgischen Familie Margots.

Leider hat mir jedoch der Schreibstil mit zunehmender Dauer des Romans immer weniger gefallen, streckenweise musste ich das Buch gar ein wenig entnervt zur Seite legen. Vor allem lag das an den Momenten, in denen "Wenn wir heimkehren" auch ein Generationenporträt sein will. Ständig werden Lieder der jeweiligen Zeit wie aus dem Nichts in den Text geworfen, die die Figuren mal mehr, mal weniger fröhlich mitsingen. Das störte nicht nur den Lesefluss, sondern wird auch viel zu häufig eingesetzt. Vollends kurios wird es, wenn ein Lied eingebunden wird, das überhaupt nicht aus dieser Zeit stammt. So singt die Familie 1982 im Auto das Lied "Lemon Tree" von Fool's Garden - aus dem Jahre 1995. Da hätte zumindest das Lektorat drüber stolpern können.

Neben der hohen Dialogdichte fand ich es außerdem ebenfalls enervierend, dass vorangegangene Zitate ständig wiederholt werden. Das mag bei einem so umfangreichen Roman manchmal sinnvoll sein, doch als so oft eingesetztes Stilmittel störte es mich und zog das ohnehin sehr dicke Buch doch arg in die Länge. Auch die häufig ausformulierten Laute wie "kling kling kling", "tock tock tock", "tuuuut tuuuut" hätte ich nicht benötigt.

Im kürzeren zweiten Teil des Romans verlor ich zudem die Bindung an die Figuren ein wenig. Der Grund dafür sind doch ziemlich große Zeitsprünge, bei denen man die Entwicklung der Charaktere aus den Augen verliert. Andererseits kann ich die Autorin natürlich verstehen, dass "Wenn wir heimkehren" nicht noch länger werden sollte. Tatsächlich hätte ich es am besten gefunden, wenn die Geschichte nach dem ersten Teil des Romans beendet worden wäre.

Ich habe es bedauert, den Roman nicht mehr gemocht zu haben, denn das Potenzial ist durchaus groß und die Hauptfiguren sind wirkliche Sympathieträger:innen. Schon wegen Fred, Margot und Willi und weil man in jedem Moment spürt, wie wichtig der Autorin diese autobiografische Geschichte ist, wünsche ich "Wenn wir heimkehren" trotz aller Kritik viele Leser:innen.

Bewertung vom 20.09.2021
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Die Brüder Benjamin, Nils und Pierre kehren zum Sommerhaus ihrer Kindheit zurück, um den letzten Wunsch ihrer verstorbenen Mutter zu erfüllen. Ihre Asche soll dort verstreut werden. Doch die Zusammenkunft ist geprägt von Tränen und Gewalt. Was geschah vor gut 20 Jahren wirklich im Sommerhaus - und wie lässt sich damit leben?

"Die Überlebenden" ist der Debütroman des schwedischen Autors Alex Schulman. Es ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes Debüt. Aufregend und klug ist die Komposition des Textes. In abwechselnden Kapiteln berichtet Schulman über die Vergangenheit und die Gegenwart, wobei die gegenwärtigen Kapitel zeitlich rückwärts erzählt werden. Komplex und herausfordernd, aber sehr gelungen, denn so gelingt es Schulman, nach und nach ein Bild aus allen kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen, dessen Wahrheit den Leser:innen durch Mark und Bein geht.

Gleichzeitig entwickelt sich so beinahe ein zweigleisiger psychologischer Spannungsroman mit Cliffhangern, die erst klar werden, wenn man das nächste oder übernächste Kapitel gelesen hat.

Genauso stark sind die Worte, die Schulman findet. Insbesondere in den Kindheitsepisoden entfalten sie eine enorme Kraft, die mich sehr berührt hat und für eine permanente Gänsehaut sorgte. Ob es die Naturbeschreibungen sind oder insbesondere die Gefühle der Jungen, die permanent zwischen Liebe und Hass, zwischen Zusammenhalt und Ablehnung changieren - Schulman kreiert hier einen Höhepunkt der Coming-of-Age-Literatur und Szenen, die man schwer vergisst und in ihrer Melancholie ein wenig an Stephen Kings "Die Leiche" (Film: "Stand By Me") erinnern.

Auch die Figurenentwicklung überzeugte mich. Nicht nur die Brüder, auch die über weite Strecken versagenden Eltern sind fein und ambivalent gezeichnet. Wobei sich Schulman in erster Linie auf Protagonist Benjamin konzentriert und seine Empathie für diese Figur sich nahtlos auf mich übertrug. Nicht nur altersmäßig in der Mitte der Brüder, ist er es, der es sich zur Aufgabe macht, die Familie zusammenzuhalten. Und Benjamin ist es auch, der zwischen dem aufgeregt-aggressiven, vernachlässigten kleinen Pierre und dem desinteressiert-klugen großen Bruder Nils vermittelt.

Seine erste kleine Schwäche zeigt der Roman ausgerechnet im Finale mit einer völlig unerwarteten Wendung, die ein wenig plötzlich und überkonstruiert wirkt. Dennoch schmälerte diese für mich nicht die herausragende Gesamtqualität des Buches.

Für mich ist "Die Überlebenden" eines meiner Lesehighlights des Jahres - und ein sehr kluger und neuer Beitrag zur Coming-of-Age-Literatur.