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Benutzername: 
Juma

Bewertungen

Insgesamt 162 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2022
Lincoln Highway
Towles, Amor

Lincoln Highway


ausgezeichnet

Phantastisches Roadmovie - Kopfkino vom Feinsten

Für mich eine ungewöhnliche Location, ungewöhnliche Menschen, ungewöhnliche Ereignisse - und doch bin ich tief eingetaucht in dieses Roadmovie. Die Stimmen der Sprecher sind so passend ausgewählt, dass man nach einer Weile meint, die Personen zu kennen. Uve Teschner sticht besonders hervor mit seiner unnachahmlichen Stimme, er versetzt sich wie in Trance in seine Figuren, lässt sie leiden und leben. Bestes Kopfkino. Emmett und sein kleiner Bruder Billy begeben sich auf eine Amerikareise, die es in sich hat. Emmett, gerade aus der Jugendhaft entlassen, und Billy, acht Jahre, überaus neunmalklug und phantasiebegabt, beide nun Fast-Waisen ohne Bleibe, versuchen ihr Glück, wollen nach Kalifornien, um Billys Traum zu erfüllen. Er will seine abgehauene Mutter finden. Dass das kein gerader und kurzer Weg wird, dafür sorgt zuallererst Dutch. Was auf ihrer Reise geschieht, muss jeder selbst hören. Es gibt witzige und nachdenkliche Szenen, philosophische Gespräche und blutige Nasen. Den kleinen Billy wird jeder lieben. Ich empfehle das Hörbuch aus vollem Herzen, es ist wunderbar.

#LincolnHighway #NetGalleyDE

Bewertung vom 23.07.2022
Am liebsten sitzen alle in der Küche
Karnick, Julia

Am liebsten sitzen alle in der Küche


sehr gut

Julia Karnick, Hamburgerin wie es scheint mit Leib und Seele, hat sich an ihren ersten Roman gewagt. Und gewonnen! Das ist schon ein beeindruckendes Debüt, das die Journalistin jetzt zur Schriftstellerin macht.
„Am liebsten sitzen alle in der Küche“ ist so ein herrlicher Buchtitel, da muss man einfach zugreifen, es erinnert an die eigene Kindheit und Jugend, wo die Küche noch DER Aufenthaltsraum der Familie, der Freunde, der Kinder war. Dass man hier auch essen kann oder kochen muss, schließt das mit ein, aber über die nächtelangen Gespräche geht nichts. Karnick könnte vom Alter her meine Tochter sein, das brachte für mich noch einmal zusätzlich einen anderen Blickwinkel in die Geschichte, denn wie die heute um die 50jährigen ticken, das ist doch ein wenig anders als vor 20 Jahren.
So lernen wir im Buch dann auch das Küchenwunder Almut kennen, frisch geschieden, ab und zu mit Hetti, der pubertierenden Tochter beglückt oder geschlagen, ganz wie man‘s nimmt. Nummer zwei am bald jeden Donnerstag stattfindenden „Abendmahl“ ist Tille, alleinerziehende Urologin, mit dem ebenfalls pubertierenden Jan. Die dritte im Bunde ist Yeliz, Werbefrau, verheiratet mit Morten, dem Dänen, der perfekt tischlern kann, aber etwas glücklos ist, und mit einer türkischen, nicht ganz einfachen Schwiegerfamilie geschlagen.
Nachdem sich die drei Frauen also angefreundet haben, beginnt der Alltag in die traute Runde ab und an Kerben zu schlagen. Je nachdem, welche gerade eine Spitze abbekommt, bei der ist das beleidigt sein mal inwendig mal äußerlich, aber irgendwann geht es weiter mit den Treffen. Wenn, ja wenn, es keine störenden bzw. verstörenden Männer gäbe, dann könnte das Leben soooo schön sein. Leute wie Herr Vennemahn könnten einem das Leben echt zur Hölle machen, aber da sind ja noch die Freundinnen, mit denen man das Ungemach teilen kann.
Auf den im Klappentext angekündigten Rachefeldzug muss man dann doch ganz schön lange warten, die Story verliert manchmal ein bisschen an Fahrt, nimmt diese aber zum Schluss wieder gut auf.
Karnick erzählt ihre Geschichte auf eine heitere, ironische und punktgenaue Art, es gibt köstliche Szenen, die man gleich zweimal lesen kann, um herzhaft zu lachen. Ob es Tilles Praxis ist, in der da so einiges schiefläuft oder die Firma von Yeliz, mit ihren „Werbefuzzis“, Karnick legt den Finger in jede verfügbare Wunde. Mich hat der Stil ein klein wenig an den Donnerstagsmordclub von Richard Osman erinnert, insbesondere Verstärker wie „sagte…“, „fragte…“ sind zwar lustig, aber in der Wiederholung wirken sie manchmal etwas aufgesetzt.
Ob dem Leser der Racheplan gefällt, das muss jeder für sich entscheiden, ich hatte eigentlich etwas Spektakuläreres erwartet. Aber es waren 350 unterhaltsame Seiten, so muss es sein bei einem Roman, der so einen schönen Titel hat.
Kauf- und Leseempfehlung!

Bewertung vom 13.07.2022
Mord mit Limmatblick
Mathies, Susanne

Mord mit Limmatblick


sehr gut

Der Leser stolpert gemeinsam mit Florian, dem gerade etwas schreibblockierten Krimischriftsteller, der eigentlich gern Selbstmord begehen würde, in einen Kriminalfall, der sich als Mordversuch an seiner (Ex-)Freundin herausstellt. Ort des Mordversuchs ist das Hotel Storchen, Florian flieht Hals über Kopf, was natürlich der Polizei nichts anderes sagt, als dass der Flüchtige auch der Mörder sein muss. Drunter und drüber geht es, es treten neue Protagonisten in den Fokus, allen voran Marie, die Tochter der beinahe ermordeten Lena, und im nahen Literaturhaus lernen wir sowohl Cressida Kandel als auch Dieter Tobler kennen. Der verdächtige Florian zieht immer mehr die Blicke der Polizei auf sich, als auch noch ganz in seiner Nähe eine junge Frau ermordet aufgefunden wird, mit der er gerade noch ein Glas Wein trank. Er landet im Polizeigewahrsam und hat eine sicher unruhige Nacht hinter sich, als ihn eine gerissene Anwältin erst einmal herauspaukt und Florian wieder auf freien Füßen nichts Besseres zu tun hat, als nun nach dem Mordmotiv zu suchen. Über den weiteren wilden Verlauf der Geschichte schreibe ich nun nicht mehr, es soll spannend bleiben.

Mir hat von der ersten Seite an der Stil total gut gefallen, der leicht ironische Unterton, die flotten Dialog, die kurz und treffend beschriebenen Charaktere - da passte alles. Ganz entgegen meinen Gewohnheiten habe ich das Buch in kürzester Zeit gelesen, weil es mir solchen Spaß machte.

Wie so oft bei Krimis hat man natürlich das eine oder andere "Wahrscheinlichkeitsproblem", zum Ende hin gibt es einige Unwahrscheinlichkeiten (Myriam und Tobler) im Geschehen, aber das tat meinem guten Gesamteindruck keinen Abbruch.

Sehr schön finde ich das Cover, die Gestaltung mit den bedruckten, gespiegelten Innenseiten ist gut gelungen! Eine schöne optische Erinnerung an meinen Zürichbesuch vor einigen Jahren. Übrigens ist auch die Typographie sehr gelungen, die Schrift nicht zu klein, der lockere Satzspiegel gut gewählt, das liest sich dann auch fürs Auge angenehm!

Ich empfehle dieses Buch, es passt an den Strand und auf den Balkon!

Bewertung vom 03.07.2022
Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2
Abel, Susanne

Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2


sehr gut

Ich habe auch dieses Buch sehr gern gelesen, aber die überzeugende Wirkung des ersten Bandes hat es bei mir nicht erreicht. Der Stil war teilweise etwas stakkatoartig, viele, oft zu viele Details sollen den Leser erreichen und berühren. Ich habe viele Kenntnisse über den 2. Weltkrieg, Euthanasie, Holocaust, Vertriebene, Gefangenschaft usw., da kam mir der Buchtext manchmal wie eine verstärkende Wiederholung im Geschichtsunterricht vor. Einerseits sind viele geschichtliche Details nur angerissen, andererseits springt die Autorin in den Abläufen oft hin und her. Manchmal wäre mir ein ruhiger Erzählfluss lieber gewesen, als dieses nervöse Gedankenkarussell. Im Laufe der Geschichte gibt es dann auch immer wieder Rückblicke auf den ersten Band. Eigentlich wäre es wohl besser, jeder der dieses Buch lesen möchte, liest zuerst "Stay away from Gretchen", das Wissen um die Hintergründe erleichtert einem das Verständnis für die Geschehnisse im zweiten Teil sehr.
Das Nachwort habe ich dann mit Interesse gelesen, hier werden die Quellen und Inspirationen beschrieben, die für die Autorin wichtig und ermutigend waren. Ich empfehle das Buch gern allen, die sich für deutsche Geschichte und den Umgang damit interessieren. Sie bekommen einen wunderbaren Liebes- und Gesellschaftsroman. Sogar mit Lesebändchen!

Bewertung vom 23.06.2022
Autorenwegweiser
Cziehso, Gerrit P.

Autorenwegweiser


sehr gut

Dr. Gerrit P. Cziehso hat sich ein Thema vorgenommen, das heute in vielen Köpfen eine kleine oder auch große Rolle spielt. Jeden Tag erscheinen neue Bücher, kann ich das auch? Diese Frage wird beantwortet, Cziehso zeigt den steinigen Weg, wenn jemand sich fest entschlossen hat, einen eigenen Roman zu schreiben. Ja, er zeigt sogar, wie man ganz zu Beginn überhaupt zu einer Idee kommt für eine solchen Roman. Ich merkte schon nach den ersten Seiten: spannendes Thema, interessante Vorgehensweise.
Schon allein die Ideenfindung ist schwierig, Cziehso macht im Buch verschiedene Vorschläge, wie man es angehen kann. Das Sammeln der Ideen, der spezielle Geistesblitz, die nächtliche Eingebung, Schicksale von Fremden oder Freunden, was auch immer, es könnte geeignet sein für einen Roman. Das gefiel mir ausnehmend gut. Die gesammelten Ideen müssen gefiltert, strukturiert und bewertet werden, ist da etwas, was „funktionieren“ kann? Und was ist das Ziel des Schreibens? Die vier Punkte, die der Autor hier nennt, sind jeder für sich aber auch in Kombination möglich. Schon beim Lesen des Kapitels „Die Idee“ war mir klar, ich suche weder wirtschaftlichen Erfolg, noch will ich die Welt verbessern, aber für die Selbstverwirklichung und die Vermittlung einer Grundidee könnte ich mich schon begeistern.
Für mich der interessanteste Teil des Buches ist das Kapitel „Der Schreibprozess“. Die Ratschläge zur Strukturierung des geplanten Romans sind allesamt nachvollziehbar und praxisnah. Ich konnte feststellen, dass ich bei meinen Sachbüchern teilweise ähnlich vorgegangen bin, zuerst ein Storybuch (ich nannte es für mich damals ausführliches Inhaltsverzeichnis), für den Roman dann das „Charakterbuch“ für die einzelnen Personen, für Ablauf und Rückblenden einen Zeitstrahl. Dieser Zeitstrahl hat es mir besonders angetan, ich überarbeite gerade mein letztes Buch, in dem ich viel mit Rückblenden, Zeitabläufe, verkürzt oder gedehnt, arbeite. So ein Zeitstrahl wird mir sicher helfen, das Buch noch besser zu machen.
Gerade auch die lapidaren Sätze, die Cziehso einflicht in seine Erklärungen, sind für das praktische Arbeiten ein Segen. Zu Beginn des Schreibens soll man z. B. nie vergessen: „Ihr Ziel ist es, einen ersten Entwurf zu erstellen, keine Endversion.“ Bei mir lag da der Finger sofort auf der Wunde… So erging es mir des Öfteren, dass ich meine eigenen Fehler beschrieben fand.
Ich will hier keinesfalls das ganze Buch von Cziehso wiedergeben, es sollen ja Interessierte auch noch Neues und Unbekanntes darin finden. Über die Werkzeuge und Stilmittel bis hin zur Überarbeitung des halbwegs fertigen Textes ist alles berücksichtigt. Am Ende hat man einen druckreifen Text. Unterstützend zur Verfügung stehen Wegweisertipps sowie Downloadmaterialien.
Nun wendet sich der Autor der ganz entscheidenden Frage zu: Wie veröffentlichen? Man hat die Qual der Wahl, Verlag, Literaturagent oder Selfpublishing mit oder ohne Lektorat… Oh je, das ist schwierig und ich gebe ehrlich zu, ich habe mich bei all meinen Büchern für die allerletzte Variante entschieden. Die ist einfach, birgt aber den geringsten Erfolg.
Das umfangreichste Kapitel ist „Nach der Veröffentlichung“. Hier nun wird es sehr spannend, sehr schwierig und sehr steinig für einen jungen Autor. Ich fand die Erklärungen zu Facebook, Instagramm und sozialen Medien im Allgemeinen wirklich spannend, habe mir bisher darüber wenig Gedanken gemacht und glaube, dass für mich Instagramm als Multiplikator noch am ehesten in Frage kommt. Jüngere Leute als ich werden sich da vielleicht noch mehr ins „Getümmel“ stürzen, die Möglichkeiten scheinen endlos.
Die schwierige Suche im sog. Offline-Bereich (stationärer Buchhandel, Werbung, Marketingmaßnahmen) ist schon eher etwas für echte Profis unter den Autoren. Es gehört eine Menge Willen, Durchsetzungsvermögen, viel Zeit und teilweise auch Geld dazu, um ohne oder zusätzlich zum Verlag etwas auf die Beine zu stellen. Aber auch hier mein Fazit: Von nichts kommt nichts.
So kan

Bewertung vom 30.04.2022
Mord in Montagnola / Moira Rusconi ermittelt Bd.1
Vassena, Mascha

Mord in Montagnola / Moira Rusconi ermittelt Bd.1


sehr gut

Ein Mix aus Mord und Liebe im Tessin

Zuerst fällt mir auf, dass das Cover sich gewaltig von den bisher erschienenen Büchern der Autorin abhebt. Das Mystische, Dunkle und Romantisierende ist verschwunden und macht einem Pastellhimmel Platz, davor auf einer Anhöhe ein Anwesen mit einem Campanile, eine Kirche, ein Kloster, wer weiß. Auf jeden Fall einladend italienisch! Der „Umzug“ zu Eichborn ist so auch bildlich sofort erkennbar. Der Text hinten auf dem Cover verspricht einen „Destinationskrimi“ – auf dem Titel ist es „Ein Tessin-Krimi“. Also auf gut Deutsch ein Regionalkrimi. Mascha Vassena kennt sich aus in der Gegend, sie wohnt am Luganer See. So sind denn die Tessinbeschreibungen auch alle durchweg nachvollziehbar und ja, sie laden zum Hinfahren und Ansehen und Erwandern ein. Destinationskrimi passt da also recht gut, insbesondere, wenn man außerdem Lust auf Montagnola und Hermann Hesse hat. Ich glaube, der blaue Himmel vom Cover findet sich auch in den wunderschönen kleinen Bildern von Hesse wieder, der ja nicht nur Bücher schrieb, sondern im Tessin auch malte. Kein Wunder, dass man ihn tourismuswirksam vor Ort und im Buch ordentlich feiert.
Hauptperson ist Moira, eine Übersetzerin, die in eben jenem Ort geboren wurde und nun nach jahrelanger Abstinenz ihren Vater besucht. Dieser hatte einen Schlaganfall, den er überraschend gut überstanden hat, sich aber trotzdem über den Besuch freut. Moira schaut sich um, beim Vater und auch im Ort, Erinnerungen werden wach und sie trifft Luca, ihren Jugendschwarm, der sich sehr verändert hat und jetzt der Gerichtsmediziner des Kantons ist. Da hört man sie trapsen, die Nachtigall…
Der Prolog verspricht nämlich nichts Gutes, in jedem Fall einen Toten und einen Mord, den es aufzuklären gilt. Dass im Laufe des Geschehens Moira in die Aufklärung eben jenen Mordes einbezogen wird, ist ein kleines bisschen unglaubwürdig, nur so per Absprache, aber, andere Länder, andere Sitten. Eine Art Miss Marple in jung wird geboren. Und dann bahnt sich da auch noch ein Flirt mit Luca an. Wie es weitergeht, müssen künftige Leser bitte selbst herausfinden. Spoiler gibt’s hier nicht.
Das Buch liest sich recht schnell und leicht, einzig das heutzutage um sich greifende „geschlechtergerechte Deutsch“ störte mir ab und zu den Lesefluss. Wenn Moiras Vater fünf Katzen mit eindeutig weiblichen Vornamen sein eigen nennt, ist das zwar nicht meine Vorliebe, aber eigentlich in Ordnung. Wenn diese fünf dann als „Kätzinnen“ beschrieben werden, weiß ich zwar, dass es das Wort im Duden gibt, aber es ist völlig sinnlos eingesetzt. Wie auch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte… Geschmackssache. Mich interessieren bei einem Buch doch mehr die Handlung und die Charaktere und beim Krimi die Spannung, genau die bleibt ab und an ein wenig auf der Strecke.
Fazit: Schöne Gegend Tessin, nette Protagonisten, weniger nette gibt es auch, zwischenzeitlich etwas lang, zum Ende wieder ganz auf der Höhe. Gute Unterhaltung und wieder eine Destination, die mich reizt.

Bewertung vom 13.04.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


sehr gut

Anders, als erwartet: Maseratis Coming of Age

Von Alina Bronsky habe ich eigentlich Ironie, beißenden Spott, absurde Begegnungen und jede Menge Übermut erwartet. Aber dieses Buch ist ganz anders, als die, die ich bisher las. Sanft, gedankenverloren, unsicher, die Hauptfiguren an der Grenze zwischen verspielten Kindern und jungen, unfertigen Erwachsenen. Eine Coming-of-Age-Geschichte in der ostdeutschen Pampa wird hier erzählt.
Maserati lebt auf dem Dorf, fernab der Großstadt hat sich ihre Oma mit ihr niedergelassen und betreibt eine kleine Gaststätte. Maserati, so ein Vorname muss einem ja auch erst einmal einfallen, aber da der kleine Bruder Paris heißt, ahnt man, woher der Wind weht. Die Mutter offenbar eine verkrachte Künstlerexistenz, der Vater nicht genau zu definieren, so kam Maserati aus "zerrütteten" Verhältnissen zu ihrer Oma, die nun als Erziehungsberechtigte leider in eine immer stärker werdende Demenz abdriftet, aber noch gut kochen kann. Den "Rest" stemmt Maserati als Vollzeitkraft und lässt die Schule sausen. Dass ihr Lehrer sie gern zurückholen würde, ändert nichts am Drama der Verhältnisse. Maserati sitzt die Angst im Nacken, dass irgend jemand merkt, dass die Oma nicht mehr als Erziehungsberechtigte taugt und sie und auch die Oma in ein Heim müssten. Denn Maserati wird im Buch gerade erst 17.
Und mit ihren 17 Jahren hat sie nun jede Menge um die Ohren, es zieht eine Familie ins Dorf, die alles andere als "pflegeleicht" ist. Annabell, die Mutter, ist ziemlich ungeeignet, sich um den halbwüchsigen Theo und seinen Cousin Casper zu kümmern, die beiden machen auf ihre Art Bekanntschaft mit Maserati und ihr auch abwechselnd und mit wechselndem Erfolg den Hof. Beide irgendwie mit Traumata behaftet, die erst nach und nach ans Licht kommen. Maserati ist mit Georg, einem tauben jungen Mann befreundet, den sie je nach Stimmung ausnutzt und benutzt, bis es ihm zu viel wird. Er geht als Gärtner und Haushälter in Annabells Villa und kommt als heimlicher Liebhaber wieder heraus. Nichts für die zarte Seele von Maserati.
Eine tragende Rolle im Buch spielt außerdem ein altes Schallplattencover, auf dem zur Verblüffung von Theo und Caspar ein Abbild von Maserati zu sehen ist, dass es ihre Mutter ist, weiß man von Anfang an, Theo hat sich die Platte zur Lebens- oder auch Sterbensmelodie auserkoren, das zieht sich durchs ganze Buch.
Die Gedanken und Erlebnisse von Maserati, Theo und Caspar sind liebevoll geschildert, man glaubt, die drei zu kennen am Ende des Buches. Ob man sie kennen möchte, sei dahingestellt, besonders, wenn man schon selbst im Oma-Alter ist.

Bewertung vom 01.04.2022
Das Mädchen und der Totengräber / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.2
Pötzsch, Oliver

Das Mädchen und der Totengräber / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.2


ausgezeichnet

Perfekte Unterhaltung - Der Totengräber ist wieder da!

Das Buch und das Hörbuch sind frisch erschienen, lang erwartet, habe ich mich aufs Hörbuch gestürzt und bin genauso begeistert, wie vom ersten Band "Das Buch des Totengräbers". Hans Jürgen Stockerl liest es so wunderbar, jede Szene ist herrlich, der leichte österreichische Unterton gibt dem Ganzen eine besondere Würze.
Der tote Professor im Museum ist ja erst der Anfang der Geschichte, es schälen sich da ungeahnte Entwicklungen heraus. Inspektor Leopold von Herzfeldt hat auch in diesem Buch neben dem Kriminalfall mit dem unterschwelligen und teilweise auch sehr heftig daherkommenden Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu kämpfen. Das macht aus den teilweise kauzigen Figuren schnell einmal Leute, die man per se nicht mag.
Wie sich von Herzfeldt und der Totengräber Augustin Rothmayer nun mit dem Mord abmühen, besser gesagt mit des Aufklärung, das verrate ich hier nicht.
Lese- und Hörempfehlung von mir!

Bewertung vom 18.03.2022
Doppelporträt
Pleijel, Agneta

Doppelporträt


ausgezeichnet

Ein magisches Buch
Es gibt Bücher, die werden wie Freunde, wenn man sie zu Ende gelesen hat, möchte man sie in den Arm nehmen, an sich drücken und flüstern, Du bist wunderbar. Doppelporträt ist eines dieser seltenen Bücher. Es hat auf mich magisch gewirkt, wie ein warmer Wind am Mittelmeerstrand, wie ein Sonnenstrahl im Winter.
Oskar Kokoschka, hochbetagt, berühmt, wird um ein Porträt von Agatha Christie gebeten. Sie mag es nicht, angestarrt zu werden, schon gar nicht gemalt zu werden. Sie findet sich mit ihren knapp achtzig Jahren vielleicht auch nicht mehr schön und attraktiv genug. Trotzdem gibt sie nach, ihrem Enkel Matthew und ihrem Mann Max zuliebe wird sie sich zu sechs Sitzungen mit Kokoschka entscheiden, nicht mehr nicht weniger.
Es ist ein Vergnügen, zu lesen, wie der alte Maler sich aus dem Taxi windet und mit seiner Frau Olda und allen Malutensilien, wozu natürlich auch Whiskey gehört, und bei Agatha Christie zur ersten Sitzung erscheint. Olda macht sich schnell aus dem Staub und es beginnt das äußerst schwierige Kennenlernen. Oskar ist derjenige, der spricht, Agatha hält sich zurück, sie redet nicht gern, sie schreibt lieber. Aber dieser Oskar Kokoschka bringt es doch fertig, sie wie eine verklemmte Auster Stück für Stück zu öffnen. Er breitet vor ihr sein Liebesdrama mit Alma Mahler aus, erzählt von Kindheit und Krieg, und er lässt nicht ein bisschen locker. Agatha scheint reserviert, aber sie hat längst Feuer gefangen und fast am Ende der Sitzungen entblößt auch sie ihr Innerstes, erzählt wie in Trance von ihrem Verschwinden für einige Wochen, das nicht nur ihren Ehemann, sondern ganz England damals in Unruhe versetzte. Diese beiden alten Künstler entwickeln ein so inniges Verhältnis, dass es zu Tränen rührt. Aber noch immer weigert sich Agatha standhaft, das Porträt anzusehen, das nun in der sechsten Sitzung tatsächlich fertig geworden ist, das mit keinem Pinselstrich mehr verbessert werden könnte, das so sehr Agatha ist, dass jeder, der es sieht, fasziniert ist. Kokoschka hängt seine schmutzige Malerschürze darüber und es muss bis zur „Einweihung“ warten. Als Agatha es sieht, moniert sie nur die Nase, mehr nicht.
Aus diesen sechs Sitzungen und dem Porträt ist eine Freundschaft entstanden, die bis zum Tod der beiden Künstler und darüber hinaus reicht. Aber sie sehen sich nie wieder, nur Briefe werden gewechselt, diese aber anrührend und von großer Menschlichkeit geprägt.
Kokoschka schreibt, was er heute nicht schreiben könnte angesichts der Katastrophe, die in der Ukraine geschieht: „Alt zu werden, …, ist nicht so übel. Erst da kann man die Struktur erkennen. Lass uns übrigens einander gratulieren, dass kein Krieg herrscht. Hast du daran gedacht, Agatha, dass jetzt mehr Jahre vergangen sind, als zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg lagen?“ Agatha, die Skeptikerin, fragt zurück. „Soll das eine Garantie sein?“
Für mich eines der schönsten Bücher der letzten Zeit, wundervoll geschrieben und übersetzt, stilvoll bis zur letzten Zeile. Das Original ist schwedisch, ich bin froh, dass es eine so schöne deutsche Entsprechung gefunden hat. Die Typographie angemessen großzügig und edel.
Ich habe nur eines vermisst, das Porträt von Agatha Christie, das es ja tatsächlich gibt, auch wenn die Geschichte der sechs Sitzungen und der dabei geführten Gespräche fiktiv sind. Ich habe mir das farbenfreudige Bild im Internet angeschaut. Eine alte Frau schaut den Maler an, etwas irritiert, wie es scheint, sitzt sie vor ihrem Bücherschrank in einem großen Sessel, harrt der Dinge, die da kommen. Das Bild hat eine beachtliche Größe von 112 mal 81 cm und befindet sich nach wie vor in Privatbesitz, vermutlich in der Familie. Die Glücklichen!

Bewertung vom 11.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


gut

1923 - mehr als nur das Jahr des Hitlerputsches
Ich interessiere mich sehr für die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es gibt einige Schriftsteller, die die Art des "Kalenderschreibens" oder "Jahrbuchschreibens" bereits eingeführt haben. Ich nenne hier Florian Illies, der mit "1913" das erste Buch dieser Art schrieb, das ich gelesen habe. Danach noch einige mehr, nun hatte ich "1923" vorablesen können.
Dieses Buch, die Ereignisse und Begebenheiten nach Monaten geordnet, hat es mir aber doch recht schwer gemacht, durchzuhalten bis zum Schluss. Christian Bommarius schreibt zu den einzelnen Personen und Geschehnissen sehr ausführlich und gewissenhaft. Ein wenig erinnerte mich das an Dissertationen, die sich mit Vehemenz der Thematik zuwenden und nicht damit rechnen, dass auch Leser diesen Text konsumieren könnten, die nicht so tief in der Materie stehen. Für mich blieb in der Fülle der Informationen der Unterhaltungswert stecken, so dass ich die eine oder andere Seite sogar überblättert habe.
Trotzdem habe ich für mich Neues und Interessantes entdeckt und auch gern gelesen. So zum Beispiel über die Besetzung von Rheinland und Ruhrgebiet, mein Vater wurde 1911 in Hamborn (heute Duisburg) geboren, er erlebte als Arbeiterkind mit fünf Geschwistern die Armut, den Hunger, die Inflation, den Kappputsch und die schwierigen Verhältnisse machten ihn zum Kommunisten.
Wenn wir heute auf die Tanksäule schauen und ob der nach oben gehenden Preise den Kopf schütteln, denke ich an die Brotpreise, die Bommarius in seinem Buch zu einer Art "Barometer" der Inflation macht.
Eine weitere Geschichte, die mich sehr interessierte, war die von Maximilian Harden, über den ich so ausführlich noch nichts gelesen hatte.
Das Buch bietet einen weiten Überblick, zeigt die Widersprüchlichkeit der Entwicklung in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg. Aus meiner Sicht ein gutes Nachschlagewerk für Geschichtsinteressierte.
Übrigens: das Cover passt hervorragend in die Zeit, das Buch hält aber nicht ganz das Versprechen einer unterhaltsamen Lektüre. Es ist doch eher eine wissenschaftliche Art des Herangehens, auch wenn einige Ironie eingeflochten wurde.