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Bücherfreundin

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Insgesamt 325 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2023
Dutzler, Herbert

Die Welt war voller Fragen


ausgezeichnet

Unterhaltsame Reise ins Österreich der sechziger Jahre
In seinem neuen Buch "Die Welt war voller Fragen" erzählt der österreichische Autor Herbert Dutzler die Geschichte des kleinen Siegfried Niedermayr im Österreich der sechziger Jahre. Das Buch knüpft an den Vorgängerroman "Die Welt war eine Murmel" an, als Siegfried gerade die Volksschule beendet hat und sich aufs Gymnasium freut. Beide Bücher können gut unabhängig voneinander gelesen werden.

Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen. Im Hier und Jetzt begleiten wir den erwachsenen Siegfried, der nach dem Tod seiner Mutter das Elternhaus ausräumt, was in ihm viele Erinnerungen weckt.

Auf der Vergangenheitsebene beschreibt der 10-jährige Ich-Erzähler Siegfried seinen Alltag in der Schule und das Zusammenleben mit seiner Familie. Gemeinsam mit seinen Eltern Adolf und Edeltraud sowie der jüngeren Schwester Uschi lebt er in einem alten Bauernhaus. Das Obergeschoss des Hauses bewohnen Adolfs Eltern.
Siegfried ist ein pfiffiger und wissbegieriger Junge, der beim Kochen hilft, leidenschaftlich gern die Bücher von Karl May liest und der Mondlandung entgegenfiebert. Er erlebt sein erstes Schuljahr auf dem Gymnasium und muss die bittere Erfahrung machen, dass sein Wissensdurst nicht bei allen Lehrern gut ankommt, dass er sich sogar großen Ärger damit einhandelt.
Auch innerhalb der Familie gibt es Probleme, als Siegfrieds Mutter den Wunsch äußert, wieder arbeiten zu gehen, ein Ding der Unmöglichkeit für Adolf. Und obendrein wünscht sie sich nicht nur ein Auto für die Familie, sondern will sogar den Führerschein machen ...

Es hat mir sehr gut gefallen, in die mir vertraute Welt der sechziger Jahre einzutauchen, als der Haushalt noch Frauensache und es verpönt war, dass Frauen einen Beruf ausübten und sogar den Führerschein machten. Die Erziehung sowohl zuhause als auch in der Schule war autoritär, ein Kind hatte folgsam zu sein und den Mund zu halten. Sehr zum Schmunzeln gebracht hat mich die Beschreibung des Weihnachtsfestes im Hause Niedermayr. In dem Buch geht es neben der Emanzipation der Frauen auch um ein Familiengeheimnis und den Umgang mit Lehrern, die eine Nazivergangenheit hatten.

Der Lesefunke ist bereits auf der ersten Seite auf mich übergesprungen, ich war sehr angetan von dem schönen Sprachstil und der Geschichte, die mit viel Herz und Humor erzählt wird. Dem Autor ist es gelungen, die Charaktere bildhaft und authentisch zu skizzieren. Ich habe den kleinen, pfiffigen Siegfried sofort ins Herz geschlossen, und ich mochte den erwachsenen Siegfried, der sich viel Zeit für das Ausräumen seines Elternhauses nimmt und dabei seinen Erinnerungen nachhängt. Der Wechsel von der Vergangenheit in die Gegenwart ist durch die Kursivschrift gut zu erkennen.

5 Sterne von mir und absolute Leseempfehlung für diese großartige und wunderbar erzählte Geschichte!

Bewertung vom 15.10.2023
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Obdachlos in den Hamptons
Nach ihrem erfolgreichen Debütroman "The Girls" hat die amerikanische Autorin Emma Cline nun ihr Buch "Die Einladung" vorgelegt.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 22-jährige Alex. Sie lebt in den Tag hinein und verdient ihr Geld als Callgirl. Bei ihren WG-Mitbewohnern hat sie Mietschulden, und auch ihr Exfreund Dom ist nicht gut auf sie zu sprechen. Da trifft es sich gut, dass sie den vermögenden Kunsthändler Simon kennenlernt. Er ist in den Fünfzigern und beschenkt Alex mit teuren Kleidungsstücken und Schmuck. Seine Einladung, ihn für den Monat August in sein Sommerhaus in den Hamptons zu begleiten, nimmt sie mit Freuden an und genießt den Luxus, der ihr dort geboten wird. Auf einer Party bei Simons Freunden kommt es zu einem Zwischenfall, aufgrund dessen Simon Alex am nächsten Morgen vor die Tür setzt.
 
Alex plant nun, die fünf Tage bis zu Simons traditioneller Labor Day-Party, bei der sie ihn mit ihrer Anwesenheit überraschen möchte, irgendwie zu überbrücken. Sie ist davon überzeugt, dass er sie liebt und wieder bei sich aufnimmt. Leider ist sie nahezu mittellos und führt nur eine Tasche mit sich, in der sich die Kleidung befindet, die Simon ihr geschenkt hat, und einige Gegenstände, die sie gestohlen hat. 
 
Es ist mir schwer gefallen, Zugang zu Alex zu finden. Wir erfahren nicht sehr viel über sie und ihre Vergangenheit, ihre Motive bleiben im Dunkeln. Mit ihrem Charme, ihrer Schönheit und Dreistigkeit schafft sie es immer wieder, Anschluss zu finden. Ihr Ziel ist es, auch zu den Schönen und Reichen zu gehören, aber sie wird nur als Simons austauschbare Freundin auf Zeit wahrgenommen und wenig beachtet. Selbst das Hauspersonal schaut auf sie herab. Sie ist nicht sympathisch, sie ist tablettensüchtig, lügt, stiehlt und betrügt, versucht, ihre Mitmenschen zu manipulieren. Einblicke in ihre Gefühlswelt bleiben uns verwehrt, lediglich Jack und Margaret zeigt sie ihre fürsorgliche Seite. Trotzdem tat sie mir leid bei ihren verzweifelten Bemühungen, Wege aus ihrer Obdachlosigkeit zu finden. 
 
Das Buch ist in klarer und beeindruckender Sprache geschrieben, es liest sich sehr flüssig bis zum - leider für mich - enttäuschenden Ende. 

Bewertung vom 12.10.2023
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


gut

Rückzug aus dem Internet
In ihrem Debütroman "Zeiten der Langeweile" erzählt Jenifer Becker die Geschichte der 34-jährigen promovierten Kulturwissenschaftlerin Mila, die im Oktober 2021 den Entschluss fasst, offline zu gehen. Sie will online nicht mehr gesehen werden und auch niemanden sehen. Also beginnt sie mit der Löschung ihrer Accounts in den sozialen Medien. Ersatzweise konsumiert sie daraufhin zunächst verstärkt YouTube-Videos. Nach und nach löscht sie sich immer mehr aus dem Internet, tilgt alle Spuren von sich im Netz, streamt nicht mehr, verzichtet auf Online-Banking und Online-Shopping. Ihr Smartphone ersetzt sie durch ein einfaches Handy, mit dem sie lediglich telefonieren und SMS verschicken kann. Ihre Aktion hat zur Folge, dass sie sich zunehmend langweilt. Sie hat sich eine berufliche Auszeit genommen und ist in den Sozialen Medien für andere nicht mehr erreichbar. Langsam beginnt sie zu vereinsamen ...
 
Die Autorin zeigt in ihrem Buch auf, was geschieht, wenn man sich aus dem Internet löscht, und was mit Kontakten passiert, die in den Sozialen Medien bisher eifrig gepflegt wurden. Das ist sehr interessant beschrieben, und ich fand es erschreckend, wie schnell es aufgrund andauernder Internetabwesenheit innerhalb kurzer Zeit zur Isolation kommen kann. 

Vor dem Hintergrund aktueller Themen, wie der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg, begleiten wir Mila durch ihren Alltag und blicken in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Wir erleben auch ihren Frust darüber, dass sie anscheinend von niemandem im Netz vermisst wird und ihre zunehmende Angst vor jeglicher Strahlenbelastung.
 
Das Buch liest sich für mich nur teilweise flüssig, zahlreiche Abkürzungen und Begriffe aus der digitalen Welt haben meinen Lesefluss immer wieder gebremst. Ich fand die Grundidee des Romans sehr interessant und habe mich auf die Lektüre gefreut. Das Buch ließ mich nicht nur meinen eigenen Internetkonsum auf den Prüfstand stellen, sondern machte mich auch hinsichtlich der Themen allgemeines Konsumverhalten und ökologischer Fußabdruck nachdenklich. Die vielen, mir unbekannten Begriffe, haben meine Lesefreude allerdings deutlich getrübt. 
 
Ich empfehle das Buch jungen Lesern, die mit dem Internet aufgewachsen sind und sich mit den Fachbegriffen der digitalen Welt gut auskennen.

Bewertung vom 10.10.2023
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


sehr gut

Starke Frau und faszinierende Künstlerin
Mit "Ich bin Frida" legt Caroline Bernard nach "Frida Kahlo und die Farben des Lebens" ihren zweiten Roman über die mexikanische Künstlerin vor. Diesmal widmet sie sich jedoch nur einer kurzen Zeitspanne aus Frida Kahlos Leben. Die Handlung beginnt im August 1938 und endet Ende März 1939.

Frida ist 31 Jahre alt und seit 10 Jahren mit Diego Rivera, dem berühmten mexikanischen Maler, verheiratet. Sie führt den Haushalt, kocht für Diego, unterstützt ihn bei seiner Arbeit und hat seinetwegen ihre eigenen Ambitionen als Künstlerin zurückgestellt. Diego hat zahlreiche Affären, dennoch liebt sie ihn. Als er sie wieder einmal enttäuscht, beschließt sie, nicht länger nur seine Muse zu sein. Sie will sich von Diego finanziell und emotional emanzipieren, will nicht länger in seinem Schatten stehen. Frida kocht nicht mehr für ihren Mann und widmet sich nun ihrer eigenen Kunst. Bald schon erhält sie das Angebot, ihre Bilder in der Galerie von Julien Levy in New York auszustellen.

Die Autorin nimmt uns mit auf Fridas Reisen nach New York und Paris. Wir erleben Fridas triumphale erste Ausstellung in New York und ihre Wiederbegegnung mit Nickolas Muray. Der Fotograf verliebt sich in die schöne Künstlerin und wünscht sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Frida erwidert zwar Nicks Liebe, aber sie liebt auch Diego und fühlt sich ihm trotz seiner Eskapaden tief verbunden. 

Caroline Bernard beschreibt diese intensive Phase von Frida mit viel Empathie. Die Künstlerin hat nach ihrem schweren Unfall immer wieder große gesundheitliche Probleme, kämpft mit körperlichen Einschränkungen. Trotzdem verfolgt sie mit viel Leidenschaft ihr Ziel, frei und unabhängig zu sein. Sie ist sehr willensstark und will der Welt beweisen, dass nicht nur Diego malen kann. Frida, die weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird, brennt nicht nur für ihre Kunst, sie genießt auch das Leben und gestattet sich Affären.          

Ich habe das Buch gern gelesen, auch wenn es leider nur eine sehr kurze Zeitspanne umfasst. Es liest sich leicht und sehr flüssig und lässt uns tief in Fridas Gedanken- und Gefühlswelt blicken, ihre Höhen und Tiefen miterleben. Ich fand es sehr spannend, vieles über die Welt der Kunst zu erfahren und Persönlichkeiten der damaligen Zeit, wie Picasso und Josephine Baker, zu begegnen. Erwähnen möchte ich auch das lesenswerte Nachwort am Ende des Buchs und die Liste der wichtigsten Bilder von Frida Kahlo, die in New York und Paris ausgestellt wurden. 

Bewertung vom 07.10.2023
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Fesselnder und tiefgründiger Roman
In seinem neuen Roman widmet sich Daniel Kehlmann dem Leben des Regisseurs Georg Wilhelm Pabst, kurz G.W. Pabst genannt. Pabst gelangte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zuerst mit seinen Stummfilmen, später mit Tonfilmen, zu großer Berühmtheit. Er drehte zahlreiche künstlerisch wertvolle Filme, die auch kommerziell erfolgreich waren. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, weilte der "Rote Pabst" mit seiner Frau Trude und dem gemeinsamen Sohn Jakob in Frankreich und zog später nach Hollywood. Er ließ sich überreden, den Film "A Modern Hero" zu drehen, mit dem er jedoch keinen Erfolg hatte. Wenige Jahre später ging er zurück nach Frankreich und drehte dort bis 1939 mehrere Filme. Seine Pläne, zurück nach Amerika zu gehen, konnte er wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs nicht mehr umsetzen. Er befand sich gerade mit seiner Familie im Haus der Mutter und durfte das Deutsche Reich nicht mehr verlassen. Bald schon setzte sich der Propagandaminister mit ihm in Verbindung ... 
 
Daniel Kehlmann lässt in seinem Roman Realität und Fiktion zu einer spannenden und berührenden Geschichte verschmelzen. Wir tauchen ein in die hochinteressante Welt des Films und begleiten den Regisseur während der dreißiger und vierziger Jahre. Dabei wählt der Autor unterschiedliche Perspektiven, so dass wir Pabst nicht nur aus seiner Sicht, sondern auch aus Sicht seiner Frau Trude, des Sohns Jakob und seines Assistenten erleben. Wir erleben, wie sich die Ehe von G.W. und Trude unter den veränderten Gegebenheiten entwickelt, und wir sehen Jakobs zunehmende Begeisterung für das totalitäre Regime. 
 
Ich fand es sehr spannend, hinter die Kulissen der Filmindustrie zu blicken und dabei auch den Filmgrößen der damaligen Zeit zu begegnen, wie Werner Krauß, Heinz Rühmann, Hilde Krahl und Werner Hinz. Auch das Verhältnis zu Leni Riefenstahl, die den Machthabern sehr verbunden war, wird beleuchtet. 
 
Das Buch ist in brillanter Sprache geschrieben, meisterhaft und authentisch beschreibt der Autor die interessanten Charaktere.
Die Geschichte über G.W. Pabst vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus ist erschütternd und fesselnd zugleich. Wir erleben seine innere Zerrissenheit, als er, das gefeierte Genie, das eigentlich nur Filme drehen möchte, nun unter Zwang für die Bavaria Film arbeiten und Propagandafilme für die Nazis drehen muss. Als Gegenleistung stellt ihm das Ministerium alle Mittel zur Verfügung, die er benötigt. 
Genial und packend wie einen Krimi erzählt der Autor die Episode über den Film "Der Fall Molander", die am Anfang des Buches mit Franz Wilzek, Pabsts damaligem Assistenten, beginnt und im Schlusskapitel ihr Ende findet.
 
Absolute Leseempfehlung für diesen fesselnden und tiefgründigen Roman!

Bewertung vom 05.10.2023
Fuchs, David

Zwischen Mauern


sehr gut

Fürsorge für alle Menschen am Ende ihres Lebens?
Im Mittelpunkt des neuen Romans von David Fuchs steht die junge Bankangestellte Meta Blum, die während ihres Urlaubs ihr Ehrenamt in einem Pflegeheim antritt, das bald geschlossen wird. Ihre Aufgabe ist es, in den kommenden Nächten am Bett des schwerkranken Herrn T. Sitzwache zu halten. Er schreit, wenn er allein ist, und wenn es dunkel ist. Im Pflegeheim sind nur noch zwei Stationen belegt, für die Nacht gibt es lediglich einen einzigen Pfleger, den engagierten Moses, der für 52 Personen zuständig ist. Der betreuende Arzt des Heims ist Dr. Wendelin Pomp, der bald in Rente gehen wird und nur noch gelegentlich in seiner Praxis arbeitet.

Meta hat im Umgang mit Herrn T. viel Geduld, singt Kinderlieder für ihn und liest ihm Märchen vor. Zu ihrer Freude beruhigt sich Herr T. und schläft bald ein. Als Moses ihr etwas Schlimmes über Herrn T.'s Vergangenheit erzählt, gerät Meta in einen Gewissenskonflikt. Soll sie weiter an Herrn T's Bett sitzen und seine Hand halten, oder soll sie gehen?

In seinem Roman stellt der Autor die zentrale Frage, ob ein Mensch, der einmal etwas Böses getan hat, es verdient hat, dass man ihn so behandelt wie jeden anderen Menschen. Verdienen alle Menschen die gleiche Fürsorge, unabhängig davon, wie sie ihr Leben gelebt haben?

Das Buch ist in 6 Kapitel mit kurzen Abschnitten gegliedert, jeder Nacht ist ein Kapitel gewidmet. Es ist in klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Dem Autor ist es gelungen, nicht nur die bedrückende Atmosphäre im Pflegeheim, das keine Zukunft mehr hat, sondern auch den allgemeinen Pflegenotstand sehr treffend aufzuzeigen. Er beschreibt neben Moses' und Pomps professioneller Arbeit während der letzten Tage im Heim auch Metas Ringen um die richtige Entscheidung sehr eindrücklich. Neben Meta, Moses, Pomp und Herrn T. begegnen wir auf eine ganz besondere Weise Frau Else, die seit vielen Jahren im Heim lebte, und der Krankenschwester Angelika, die Tagesdienst hat.
Meta zeigt vom ersten Tag an sehr viel Einsatz und versucht, beruhigend auf Herrn T. einzuwirken und ihm seine Situation zu erleichtern. Das hat mich sehr berührt, ebenso wie Moses' Rituale vor der letzten Reise eines Bewohners.

Ich habe das Buch gern gelesen, hätte aber auch gern mehr über das Leben der Protagonisten erfahren.
Die Geschichte hat mich betroffen und nachdenklich gemacht - Leseempfehlung!

Bewertung vom 29.09.2023
Hagen, Kimberly

Tränen, Liebe, Lebensgier


sehr gut

Schritt für Schritt in ein neues Leben
Der Langen Müller Verlag hat "Tränen Liebe Lebensgier", das aktuelle Buch von Kimberly Hagen, veröffentlicht. Es ist ein Trauertagebuch, das die Autorin nach dem Tod ihres Mannes über den Zeitraum eines Jahres geschrieben hat. Das Cover ist äußerst liebevoll gestaltet und zeigt eine Libelle, die für Kimberly Hagen eine tiefere Bedeutung bekommen hat. 
In einem herzlichen Vorwort erzählt Pfarrer Rainer Maria Schießler über seine Begegnungen mit der Autorin, die durch ihre Tätigkeit als Gesellschaftskolumnistin bei der Münchner Abendzeitung im süddeutschen Raum keine Unbekannte ist.
 
Kimberly und Clemens Hagen sind ein glückliches Paar, seit sie sich 13 Jahre zuvor auf dem Oktoberfest kennengelernt haben. Es ist bei beiden Liebe auf den ersten Blick, nur 5 Tage später zieht Clemens bei Kimberly ein. Am 10. April 2022 bricht ihre Welt zusammen, als sie vom Krankenhaus die Mitteilung erhält, dass ihr Mann nach einem Routineeingriff vollkommen unverhofft verstorben ist. Mit ihren 41 Jahren ist sie zur Witwe geworden, muss nun nicht nur die Beerdigung des geliebten Mannes organisieren und viele Entscheidungen treffen, sondern auch ihr Leben neu ordnen, ihrer Trauer Raum geben.
 
Die Autorin durchlebt unterschiedliche Phasen der Trauer und lässt uns durch ihre Tagebuchaufzeichnungen an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Auch ihre Ängste und Panikattacken beschreibt sie mit großer Offenheit.
Ein soziales Netz fängt sie auf, ihre Familie, die Freunde, sie sind immer da für Kimberly und helfen ihr mit viel Geduld und Liebe durch eine schwere Zeit. Sie lachen und weinen mit ihr, sie lenken sie ab durch unzählige Treffen und Unternehmungen, und sie tragen sie durch ihr erstes Jahr ohne den geliebten Ehemann. Kimberly entdeckt für sich die heilende Kraft der Natur und gewinnt langsam ihre Lebensfreude und Lebensgier zurück. 
 
Das Buch ist in schöner, bisweilen recht jugendlicher Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Trotz des ernsten Themas lässt die Autorin sehr viel Humor in ihr Tagebuch einfließen, erzählt auch von vielen lustigen Erlebnissen. Das Buch ist kein Ratgeber, kann es nicht sein, denn jeder Mensch trauert anders. Aber es gibt viele Denkanstöße, vermittelt völlig neue Sichtweisen, macht Mut und gibt Hoffnung. Vieles hat mich berührt, vieles zum Schmunzeln gebracht, für einiges fehlte mir allerdings das Verständnis. 
 
Ich habe das Trauertagebuch gern gelesen. Es ist das sehr persönliche Buch einer starken Frau, die nach dem Verlust ihres Mannes Schritt für Schritt in ein neues Leben findet. Das Buch ist wunderschön gestaltet, es finden sich viele Schwarzweißfotos, und immer wieder begegnen uns fein gezeichnete Libellen. Leseempfehlung!
 

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.09.2023
Öziri, Necati

Vatermal


sehr gut

Bewegender Debütroman
Der Claassen Verlag hat "Vatermal", den Debütroman von Necati Öziri, veröffentlicht. Das Buch befindet sich auf Erfolgskurs und steht auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises.

Der junge Literaturstudent Arda Kaya leidet an einer Autoimmunhepatitis mit Organversagen und liegt auf der Intensivstation. Seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin besuchen ihn täglich, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Seit 10 Jahren haben die beiden nicht mehr miteinander geredet. Seinen Vater Metin hat Arda nie kennengelernt, dieser ging zurück in die Türkei, bevor sein Sohn geboren wurde. Ümran ist mit ihrem Alltag nach der Trennung vollkommen überfordert, sie trinkt zu viel Alkohol, das Geld ist knapp. Aylin hält es zuhause nicht mehr aus und wird von einer Pflegefamilie aufgenommen.

Arda, der nicht weiß, ob er seine schwere Krankheit überleben wird, schreibt dem Vater, von dem er weiß, dass er wiederverheiratet ist und zwei Kinder hat, einen Brief. Es ist sein Wunsch, dass der Vater, nach dem er sich immer gesehnt hat, ihn auf diese Weise kennenlernt, dass er weiß, was für ein Mensch sein Sohn ist und was er erlebt hat. Aus eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Mutter und der Schwester lässt Arda sein Leben und das von Ümran und Aylin Revue passieren. In seinem Brief erzählt Arda dem Vater von seiner Kindheit und Jugend, seinen Freunden und einem traumatischen Erlebnis. Er beschreibt nicht nur den Rassismus, dem er tagtäglich ausgesetzt ist, sondern auch den langen und zermürbenden Kampf gegen die Bürokratie der deutschen Behörden, bis er mit 18 Jahren endlich die ersehnte deutsche Staatsbürgerschaft erhält.

Das Buch ist in jugendlichem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Der Autor lässt viele türkische Begriffe in die Geschichte einfließen, für deren Bedeutung ich mir am Ende ein Glossar gewünscht hätte. Obwohl "Vatermal" kein emotionales Buch ist, haben mich die unterschiedlichen Lebenswege von Ümran und Aylin, denen der Autor erfreulicherweise viel Raum gibt, sehr berührt. Ich habe das Buch gern gelesen, auch wenn mir einige der Kapitel, in denen Arda sich mit seinen Freunden trifft, etwas zu langatmig waren. Die Figuren beschreibt Necati Öziri authentisch und bildhaft. Der Roman, in dem es auch um häusliche Gewalt, Ausgrenzung und Drogen geht, hat mir sehr gut gefallen.

Leseempfehlung für dieses beeindruckende und intensive Debüt!

Bewertung vom 18.09.2023
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe


sehr gut

Unterhaltsame Familiengeschichte
Die Autorin Elisabeth Sandmann hat einen faszinierenden Familien- und Gesellschaftsroman veröffentlicht, dessen Handlung sich über einen Zeitraum von beinahe 80 Jahren erstreckt und der auf zwei Zeitebenen spielt.

London, 1992: Gwen, Mitte dreißig und frisch von ihrem Freund getrennt, kommt morgens vom Joggen in ihre Wohnung zurück, als sie einen Anruf ihrer betagten Tante Lily erhält. Lily möchte mit ihr und einer Freundin in die ehemalige DDR und von dort nach Polen reisen. Gwen hat eigentlich vor, gemeinsam mit ihrer Freundin Laura den bereits länger geplanten Urlaub in Italien anzutreten und ist vom Vorschlag der Tante wenig begeistert. Nach reiflicher Überlegung beschließt sie jedoch, Lily ihren Wunsch zu erfüllen und freut sich darüber, dass Laura mit von der Partie sein wird. Es wird nicht nur für Gwen eine emotionale Reise in die Vergangenheit.
 
In einem zweiten Handlungsstrang begegnen wir im Jahr 1918 der jungen Ella. Ihre Eltern sind arm, sie können kein weiteres Schulgeld mehr für ihre intelligente Tochter zahlen. So tritt Ella mit 13 Jahren eine Stelle bei Frau Huber an, die in Tölz eine Pension führt. Neben ihrer Tätigkeit beschäftigt Ella sich intensiv mit Kräuterheilkunde und geht wenige Jahre später für eine kaufmännische Ausbildung nach München. Anschließend tritt sie im legendären Hotel Schloss Elmau eine Stelle an, wo sie die junge und vermögende Ilsabé kennenlernt, die auf der Suche nach einem reichen Ehemann ist. Die beiden sehr unterschiedlichen Frauen werden zu Schicksalsfreundinnen. 

Gwen, deren Mutter Marga bereits in Folge eines Unfalls verstorben ist, weiß wenig über die Geschichte ihrer Familie. Ihr Interesse wird jedoch geweckt, als sie die roten Tagebücher von Ella liest, die diese über mehrere Jahrzehnte hinweg geführt hat. Gwen taucht intensiv ein in Ellas Leben und stößt dabei auf dramatische Geheimnisse. Nach und nach gelingt es ihr mit Hilfe von Briefen, Fotos, der Tagebücher, und durch viele Gespräche die Familiengeschichte aus unzähligen kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen. 

Der komplexe Familienroman, in den die Autorin auch viele historische Ereignisse hat einfließen lassen, hat mir gut gefallen. Zu Beginn bedarf es einer gewissen Konzentration, um sich die Namen der zahlreichen Personen und ihre Beziehung zueinander einzuprägen. Das Buch hat mich von Anfang an gefesselt. Es ist in angenehm klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die interessanten Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Es war spannend, Gwen bei ihrer Spurensuche und der Aufdeckung der Familiengeheimnisse zu begleiten. Meine absolute Lieblingsfigur war Ella, deren Lebensweg mich am meisten beeindruckt hat.  
Ich habe die Geschichte gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt, allerdings fand ich, dass das Buch am Ende leider etwas ins Kitschige abdriftete.

Leseempfehlung für diese unterhaltsame Familiengeschichte! 

Bewertung vom 17.09.2023
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


sehr gut

Allein in der Wildnis
Der neue Roman der amerikanischen Autorin Lauren Groff spielt im 17. Jahrhundert in Nordamerika. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein junges Mädchen, Lamentatio Venal genannt, das im Alter von 4 Jahren in England von der Frau eines Goldschmieds aus dem Armenhaus geholt wird und als Dienstmagd arbeitet. Ein Jahr später wird die kleine Bess geboren, um die sich Zett, wie die Herrin Lamentatio nennt, fortan kümmert. Später wandert die Familie, die Dienstherrin ist inzwischen mit einem Pfarrer verheiratet, in die Neue Welt aus.

Nun befindet sich das Mädchen auf der Flucht Richtung Norden. Es ist Winter, das Mädchen, "sie ist 16, 17 oder 18 Jahre alt" friert und ist hungrig. Sie kämpft ums Überleben, jeder Tag stellt sie vor neue Herausforderungen. Ständig ist sie auf der Suche nach Essbarem und Gefahren durch wilde Tiere und Verfolger ausgesetzt. Verletzungen und Fieber zwingen sie zu Ruhepausen, sie hat Visionen und Halluzinationen. Sie lässt ihre Vergangenheit Revue passieren und erinnert sich an ihr hartes Leben in der kolonialen Siedlung, an die Gewalt, der sie hilflos ausgesetzt war, an Krankheiten und Nahrungsmangel. Auch der junge Glasbläser aus Holland, in den sie sich auf der Überfahrt nach Amerika verliebte, ist in ihren Gedanken. Nach und nach enthüllt sich Lamentatios Leben, das voller Entbehrungen war, und wir erfahren den erschütternden Grund für ihre Flucht. 

Die Autorin schildert sehr eindrucksvoll den Überlebenskampf des Mädchens in der rauen und kargen Wildnis und ihre wachsende Verzweiflung in sehr spezieller und auch bisweilen drastischer Sprache. Ich fand es nicht angenehm, immer wieder detailreiche Schilderungen der Verdauungsvorgänge zu lesen. Die Beschreibung der Einsamkeit und Trostlosigkeit des Mädchens, ihr Kampf ums Überleben in der Wildnis und ihre Auseinandersetzung mit dem Glauben gehen unter die Haut und haben mich sehr berührt. Faszinierend fand ich die Darstellung der kargen Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten mit ihren jeweiligen Wetterverhältnissen.

Die Überlebensgeschichte hat mir gut gefallen, sie ist spannend und hat mich sehr berührt. Leseempfehlung für dieses außergewöhnliche Buch, das ich mir sehr gut als Vorlage für einen Film vorstellen kann.