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sleepwalker

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Insgesamt 534 Bewertungen
Bewertung vom 16.01.2023
Tuominen, Arttu

Was wir verbergen / River Delta Bd.2


ausgezeichnet

Nach „Was wir verschweigen“ ist „Was wir verbergen“ der zweite Teil der Delta-Reihe des finnischen Autors Arttu Tuominen. Das Buch behandelt mit einem homophob motivierten Anschlag auf einen Nachtclub ein völlig anderes Thema (Band 1 handelte von einem Mord aus Rache), ist aber nicht minder spannend und auch in diesem Teil kommt die psychologische Komponente nicht zu kurz. Man kann das Buch lesen, ohne den ersten Teil zu kennen. Aber warum sollte man? Sie sind beide echte Pageturner.
Aber von vorn.
Im Club „Venus“, einem bei Homosexuellen beliebten Nachtclub explodieren zwei Handgranaten. Fünf Menschen sterben, viele werden teils schwer verletzt. Ein Bekennervideo zeigt einen selbsternannten „Gesandten“, der für die Tat religiöse Motive angibt. Kommissar Henrik Oksman von der Kripo in Pori übernimmt zusammen mit seinen Kollegen die Ermittlungen und bringt sich in eine Bredouille: er war selbst kurz vor dem Anschlag in dem Club. Da er aber ungeoutet lebt, darf davon niemand wissen, zumal er mit blonder Perücke und einem roten Kleid dort war. Die Ermittlungen führen ihn und die Kollegen in verschiedene Richtungen, zumal die Granaten aus dem Bestand der finnischen Armee stammen. In den Fokus rückt schnell die Neonazi-Organisation White Order deren Mitglieder den Anschlag feiern („Ich kann tatsächlich nicht behaupten, dass es mich besonders mitnimmt, wenn ein paar Schw***teln abkratzen. Ehrlich gesagt hat mich seit Langem nichts so gefreut.“). Der Anschlag spaltet die Bevölkerung in diejenigen, die ihn verurteilen auf solche, die ihn gutheißen, ja sogar befürworten. Und als dann noch ein Vater und sein Sohn als vermisst gemeldet werden, die die Zeitschriften der Zeugen Jehovas verteilen wollten, in deren aktuellen Ausgaben lange Artikel über Homosexualität enthalten sind, sieht Oksman als einziger einen möglichen Zusammenhang. Langsam läuft den Ermittlern die Zeit davon.
Wie gesagt, das Buch hat mich gefesselt und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgelesen, mit der traurigen Erkenntnis am Schluss, dass ich nun eine ganze Weile auf die Fortsetzung warten muss. Sei’s drum. Sprachlich topp, Übersetzung gelungen. Konzeptionell hervorragend und rasant spannend. Die beiden Erzählebenen beinhalten sowohl die Ermittlungen als auch die Perspektive des „Gesandten“, in Gegenwart und in Vergangenheit. Man lernt ihn besser kennen und erkennt die Motive hinter seiner Tat, erfährt aber erst am Schluss, wer er ist. Die Charaktere (dieses Mal steht mit Henrik Oksman ein anderer Polizeibeamter im Mittelpunkt als in Teil 1) sind sauber ausgearbeitet, ebenso das Setting in der eigentlich ruhigen Hafenstadt, die plötzlich von einer Welle aus Gewalt und Gegengewalt überrollt wird. Wie schon in „Was wir verschweigen“ gelingt es Arttu Tuominen nicht nur, einen packenden Krimi zu konstruieren, er schafft es auch, ein aktuelles Thema darin so zu verarbeiten, dass es ein politischer Krimi wird, ohne zu politisieren. Er nimmt auch die Gesellschaft unter die Lupe: die Frömmler, die Neonazis und die aus anderen Gründen Homophoben. Am Beispiel von Pfarrer Mikael Fredriksson zeigt er, dass nicht alle Pfarrer Homosexualität verurteilen. Außerdem legt er ein Augenmerk auf die Scheinheiligkeit derer, die sich auf die Bibelstelle „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel“ beziehen, denen aber „du sollst nicht töten“ egal ist. Während Hendrik Oksmans Doppelleben (ob er nun Crossdresser oder Transvestit ist, wird nicht aufgeklärt) ein essenzieller Teil der Handlung ist, sind Ausflüge in Jari Paloviitas Privatleben eher Verschnaufpausen fürs Publikum.
Vielleicht bin ich als ebenso wie Hendrik Oksman Betroffener voreingenommen. Mich hat das Buch tief ins Herz getroffen und es wird noch lange nachhallen. Was Erziehung, Fanatismus und Hass anrichten können, ist erschreckend und mir „ein Gräuel“. Das Buch ist für mich ein echtes Highlight und eine klare Lese-Empfehlung. Fünf Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11


sehr gut

Interfamiliäres Drama kostet auch noch Jahrzehnte später die Leben Unschuldiger. So würde ich Camilla Läckbergs neues, lange erwartetes Buch „Kuckuckskinder“ kurz zusammenfassen. Fünf Jahre nach „Die Eishexe“ hat sie den elften Teil ihrer Fjällbacka-Serie um Autorin Erica Falck und ihren Mann, den Polizisten Patrik Hedström, vorgelegt. Obwohl ich ein großer Fan der Serie bin, muss ich sagen, dass mich das Buch etwas zwiegespalten zurücklässt. Es ist wie eine Achterbahnfahrt mit (zu) langen flachen Passagen, die gegen Ende rasant spannend wird.
Aber von vorn.
In Fjällbacka laden Henning Bauer und seine Frau Elisabeth zur Feier ihrer goldenen Hochzeit ein. Ein rauschendes Fest mit viel Alkohol und Tanz – das Paar ist ja nicht irgendwer. Henning ist ein berühmter Autor und als möglicher Literaturnobelpreisträger im Gespräch und Elisabeth ist eine erfolgreiche Verlegerin. Noch während die Gesellschaft feiert, wird in der Stadt ein Freund des Paares, der Fotograf Rolf Stenklo, in seiner Galerie ermordet. Er war dabei, eine Ausstellung vorzubereiten, die eine Reise in die Vergangenheit darstellen sollte. Während Patrik und seine Kollegen in dem Mordfall ermitteln, stößt Erica auf einen mysteriösen Todesfall in Rolf Stenklos Vergangenheit und stellt ihre eigenen Recherchen für ein neues Buch an. „Lola“ ist der Name, der immer wieder auftaucht, eine trans Frau und Mutter, die 1980 zu Tode kam. Während sie erschossen wurde, kam ihre sechsjährige Tochter Julia, genannt Pytte, bei einem Feuer in der Wohnung ums Leben. Wie Lola und Rolf, aber auch Henning und Elisabeth zusammengehören, ist für Erica lange ein Rätsel. Während sie entwirrt, wie die Fäden bei „Blanche“, einem elitären „Kulturverein“ zusammenlaufen, passieren in Fjällbacka weitere schreckliche Morde und Patrik stößt an seine Grenzen.
Die Idee hinter dem Buch ist gut, sprachlich ist es (bis auf einen ärgerlichen Rechtschreibfehler auf der letzten Seite) ebenfalls gut und sehr leicht zu lesen. Der Spannungsbogen verläuft allerdings wie exponentiell: er steigt sehr langsam und schleppend, ist er aber dann mal in Fahrt, dann steigt er stark an, das Buch wird packend und man möchte es nicht mehr aus der Hand legen. Die Themen, die Camilla Läckberg aufgreift, sind unter anderem Familientragödien und LGBTQ+. Verarbeitet werden diese sensibel, vor allem das Thema trans Frau als Mutter, aber alles in allem für meinen Geschmack ein wenig zu stereotyp. Leider war der Schluss für mich zu vorhersehbar und das Buch wurde insgesamt nicht zu dem Highlight, das ich mir gewünscht hätte.
Alles andere ist, wie man es aus den anderen zehn Teilen der Serie gewohnt ist: Patrik zeigt in den Ermittlungen wieder Kompetenz und Überblick und ist der ruhende Pol unter den Kollegen. Erica recherchiert für ihr neues Buch so, wie sie es sonst auch macht. Etwas planlos, impulsiv und – wie immer erfolgreich. Wer die Serie kennt, freut sich unter anderem über ein Wiedersehen mit Polizeichef Bertil Mellberg und seiner Lebensgefährtin Rita (sie müssen mit Ritas Krebsdiagnose klarkommen), den Polizisten Gösta Flygare, Paula Morales, Martin Molin und Ericas Schwester Anna. Ebenso ist die Leserschaft auch parallel erzählte Handlungsstränge von der Autorin gewöhnt, die zum Schluss stimmig verflochten werden. Da bildet auch dieses Buch keine Ausnahme. Die Langatmigkeit der Erzählung kannte ich von der Autorin jedoch nicht. Für mich brauchte die Geschichte zu viel Zeit, um in Fahrt zu kommen. Der Umgang mit dem Thema trans Menschen ist meiner Meinung nach gelungen.
Insgesamt hat das Buch zu viele Längen, die aber durch die spannenden Passagen und den sensiblen Umgang mit dem Thema trans Menschen und dem hohen Spannungslevel gegen Ende wettgemacht werden. Ich empfehle, die anderen Bände (oder wenigstens ein paar davon) vorher zu lesen um ein paar Vorkenntnisse bezüglich der Ermittler und ihres Umfelds zu haben. Aber natürlich ist das Buch auch ohne diese lesenswert und verständlich. Von mir gibt es vier Sterne.

Bewertung vom 11.01.2023
Tuominen, Arttu

Was wir verschweigen / River Delta Bd.1


ausgezeichnet

„Was wir verschweigen“ ist der erste Teil von Arttu Tuominens auf sechs Teile angelegte Delta-Reihe. Das Buch wurde 2020, meiner Meinung nach völlig zu Recht, als bester Kriminalroman Finnlands ausgezeichnet. „Kriminalroman“ steht auf dem Cover, aber es ist so viel mehr als ein reiner Krimi. Natürlich geht es um einen Mord, aber im Hintergrund beinhaltet das Buch noch eine psycho-soziale Komponente, die für mich die Mordermittlungen fast zur Nebensache gemacht hat. Die ethisch-moralischen Fragen „Wie weit würdest du gehen, um ein Leben zu retten. Was würdest du um einer alten Freundschaft Willen tun?“ sind ein elementarer Teil des Buchs und machten es für mich zu einem absoluten Pageturner.

Aber von vorn.

In einem Wochenendhaus im finnischen Küstenort Pori trifft sich eine Gruppe Menschen zu einem ausufernden Saufgelage. Am Ende ist einer der Teilnehmer tot. Erstochen mit mindestens sechs Messerstichen in Rücken und Hals. Nach unbefriedigenden Befragungen möglicher Augenzeugen (sie können sich nicht erinnern, sind verkatert und unkooperativ, sogar beleidigend), finden die Ermittler mit Antti Mielonen einen Verdächtigen mit blutiger Kleidung im Wald. Der vorübergehende Leiter der Mordkommission Kommissar Jari Paloviita übernimmt die Ermittlungen eher widerwillig. Er ist in seiner neuen Position nicht glücklich und noch dazu kriselt es in seiner Ehe. Als er dann noch feststellt, dass der einzige Verdächtige im Fall sein bester Freund aus der Schulzeit ist, sieht er sich in einem Dilemma: wie weit darf seine Loyalität gehen, schließlich hat er Antti vor gut 30 Jahren ewige Freundschaft geschworen. Und schließlich ist auch das Opfer Rami Nieminen für ihn kein Unbekannter.

Da Finnisch wirklich nicht meine Sprache ist, tue ich mich zugegebenermaßen mit den Namen im Roman ein bisschen schwer. Generell brauche ich bei finnischen Büchern etwas länger, um mich „einzulesen“, auch wenn die Übersetzung sehr gut ist. Dennoch kann ich bei „Was wir verschweigen“ nur sagen, dass mich das Buch schlichtweg gefesselt hat. Die Spannung baut sich kontinuierlich auf und wird nur durch die Ausflüge ins Privatleben der Ermittler unterbrochen. Wobei die schwierige Ehe von Jari Paloviita und das exzessive Sportprogramm von Hendrik Oksman zu keiner Zeit Langeweile aufkommen lassen, eher willkommene „Verschnaufpausen“ sind. Die Charaktere Jari Paloviita, Linda Toivinen und Hendrik Oksman fand ich gut ausgearbeitet und die Geschichte hervorragend konzipiert. Die beiden Zeitebenen, auf denen der Autor sie erzählt, sind klar voneinander abgegrenzt, man weiß als Leser:in immer, wo man sich befindet.

Was mich neben dem angenehm ruhigen, fast sachlichen Schreibstil des Autors aber wirklich beeindruckt hat, ist die Tiefe, mit der er die ethischen Fragen von Schuld, Freundschaft und Loyalität behandelt. Die Zwickmühle, in der sich Jari Paloviita befindet, war für mich fast körperlich fühlbar. Seine Zerriebenheit zwischen Pflichterfüllung seinem Arbeitgeber gegenüber und Verbundenheit mit dem Freund aus Kindertagen brachte mich immer wieder zum Nachdenken und zur Frage „Was hätte ich an seiner Stelle gemacht“. Dazu kommen noch weitere Aspekte, die dem Buch noch mehr Facetten verleihen, wie beispielsweise die unterschiedlichen soziale Schichten, aus denen Protagonisten kommen. Jari kommt aus einer Akademikerfamilie und lebt auch jetzt in vermeintlichem Wohlstand. Antti hingegen kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus mit einem sehr aggressiven Vater und wurde als Jugendlicher aus der Familie genommen, womit auch die Freundschaft zu Jari endete.

Trotz der Vielzahl der Themen schafft Arttu Tuominen es, das Buch zu einem stimmigen Ganzen zu verarbeiten, einem Buch, das Lust auf mehr macht. Von mir ganz klare fünf Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die Krimis mit einem gewissen Extra mögen.

Bewertung vom 29.12.2022
Schmalz, Ferdinand

Mein Lieblingstier heißt Winter


gut

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Damit kann ich getrost das Buch „Mein Lieblingstier heißt Winter“ von Ferdinand Schmalz für mich zusammenfassen. Denn ich hatte mir unter dem Buch etwas anderes vorgestellt und für die Charaktere im Buch läuft auch sehr viel völlig anders als geplant. Fest steht für mich aber, dass das Buch und ich nicht zusammenpassen.
Aber von vorn.
Doktor Schauer ist an Krebs erkrankt und er hat einen Plan: er möchte mit drei Schlaftabletten intus in seiner eigenen Kühltruhe erfrieren. Nach seinem Freitod in „erhabener Entschlossenheit“ statt des langsamen Siechtums an der Krankheit soll der fahrende Tiefkühlwarenverkäufer Franz Schlicht seine Leiche „aussetzen“ und den Suizid zum Happening machen. Aber als Schlicht den toten gefrorenen Schauer abholen möchte, ist die Kühltruhe leer und der Suizident weg. Eine wilde Suche beginnt.
Ich bin ein großer Freund von sprachlichen Experimenten. Ich bin auch ein großer Freund ungewöhnlich geschriebener Bücher. Aber das Buch hat meinen Toleranzrahmen gesprengt und ich konnte mit dem Stil des Autors nicht warmwerden. Manche Aspekte und Passagen haben mich wirklich begeistert, seine bildhafte Sprache und die Tatsache, dass die Namen der Charaktere pointiert und unglaublich gut gewählt sind, hat mich beeindruckt. Philosophische und morbide Fragen, schwierige Themen wie Suizid, gelungene literarische Bezüge und Querverweise – es hätte so gut sein können. Aber in der Masse hat mich das Buch eher erschlagen und ich hätte es beinahe aufgegeben, nachdem ich manche der wild zusammengeschachtelten Sätze viermal oder öfter lesen musste. So kam für mich kein Lesefluss zustande und keine Lesefreude auf. Leider, ich hätte das Buch sehr gerne gemocht.
Daher vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 20.12.2022
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


ausgezeichnet

Die Wüstung Wollseifen und die ehemalige Ordensburg Vogelsang gehören zu meinen liebsten Ausflugszielen in der Eifel. Nirgends werde ich so nachdenklich wie dort, wo die Geschichte so greifbar ist. „Ginsterhöhe“ von Anna-Maria Caspari ist ein Roman basierend auf der wahren Geschichte des Ortes, erzählt anhand der Schicksale mehrerer dort lebender fiktiver Menschen. Ein bewegendes Buch, das stark nachhallt.
Aber von vorn.
1919 kommt Jungbauer Albert Lintermann als einer der letzten Heimkehrer aus dem 1. Weltkrieg zurück ins Eifeldorf Wollseifen. Der Krieg hat ihm neben seinem halben Gesicht auch seinen besten Freund, dem Schmied Hennes, genommen. „Sei froh, dass sie dich nicht im Sarg nach Hause gebracht haben. Alles andere richtet sich schon von selbst“, damit hält er sich aufrecht, als seine Frau Bertha sich bei seinem Anblick voller Entsetzen abwendet. Wichtig ist ja sowieso eher, dass er anpacken kann, wie früher und noch alle Gliedmaßen hat. Albert hat es nicht leicht, die steigende Inflation ist noch eines seiner geringsten Probleme. Sein Sohn Karl wird in der Schule gehänselt und im Ort werden Witze auf Alberts Kosten gemacht, weil er, der früher sehr gutaussehend war, nun so entstellt ist, „dass die Milch sauer wird“. Daher lässt er sich das Gesicht so gut wie möglich operativ wiederherstellen.
„Hier im Dorf kommt so langsam alles wieder in Tritt, und wenn man sieht, wie geschäftig alle ihrem Alltag nachgehen, sollte man beinahe meinen, das Kriegsgeschehen sei nur ein böser Traum gewesen“ schreibt der Lehrer Martin Faßbender. Und das stimmt. Das Leben geht weiter. Kinder werden geboren, andere werden beerdigt. Und dennoch zeigt sich, dass im Dorf ein neuer Wind weht. Denn schon bald zieht mit dem Gutsherren Johann Meller einer ein, der „nationalistischen Parolen“ schwingt und „ein bisschen zu viel von Rasse“ redet. Meller ist natürlich Feuer und Flamme, als direkt gegenüber von Wollseifen auf dem Erperscheid die „Nazi-Ordensburg“ Vogelsang gebaut werden soll und ein Flugplatz auf dem Walberhof geplant wird. Nach und nach greift das nationalsozialistische Gedankengut um sich, auch der Pastor malt sich die „Zukunft mit dem Bauvorhaben in leuchtenden Farben aus“.
Der Rest ist Geschichte. Die Alliierten beschießen Wollseifen in der Endphase des 2. Weltkrieges, Ende 1944/Anfang 1945 wird ein Großteil des Dorfes zerstört. Ende eines Traums. Ende eines Dorfes. Aber nicht das Ende der Geschichte. Gerade hatten die Bauern ihre Felder wieder bestellt, da mussten sie das Dorf innerhalb von zwei Wochen zum 1. September 1946 räumen. „Wir müssen uns fügen, dachte Albert bitter. Immer ist da jemand, dem wir gehorchen müssen“ - sie gehorchten in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr und wurden enttäuscht. Das Dorf und die Umgebung wurden zum Sperrgebiet erklärt und dann als Truppenübungsplatz genutzt, keiner der ursprünglichen Bewohner durfte zurückkehren. Heute kann man die Überreste besichtigen, die zerstörte Kirche und das Erdgeschoss der Schule wurden wieder aufgebaut.
„Ginsterhöhe“ ist nicht nur ein Buch über die Geschichte von Wollseifen und die Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ein Buch über Generationenkonflikte, wo die jeweils Älteren die Jüngeren ausbremsen und die Jüngeren alles besser zu wissen glauben. Über Zeitenwandel, in vielerlei Hinsicht unruhige Zeiten, über Verblendung, verklärte Vorstellungen von Krieg und endgültig zerstörte Träume. Ein Buch, das inhaltlich und formal besticht. Es ist sprachlich ansprechend und punktet durch liebevoll ausgearbeitete Charaktere, anschauliche Landschaftsbeschreibungen und eine perfekt eingefangene Stimmung. Die linear erzählte Geschichte wird durch die Tagebucheinträge des Lehrers unterbrochen, der sehr sachlich und neutral Gedanken, Dorfgeschehen und Zeitgeschichte einordnet. Ein Buch, das als Warnung dienen sollte, wie heute noch Burg Vogelsang nahe am Dorf aufragt, „eine steinerne Mahnung an das, was passiert war.“ Für mich ein echtes Highlight, daher von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 16.12.2022
Jensen, Jens Henrik

EAST. Welt ohne Seele / Jan Jordi Kazanski Bd.1


gut

„Oxen“ und „Søg“ sind die Serien, durch die ich den dänischen Autor Jens Henrik Jensen kennengelernt habe und die beiden Reihen haben mir wirklich sehr gefallen. Bereits 1997 hat er sich mit „East. Welt ohne Seele“ am ersten Teil einer Agententhriller-Trilogie versucht, der erst jetzt auf Deutsch erschienen ist. Herausgekommen ist ein Buch, das zwischen Geschichtsbuch, Liebesgeschichte und Spannungsroman mäandert und für mich nur selten den Sprung zum Thriller schafft. Das macht es insgesamt nicht zu einem schlechten Buch, es hat aber eine Menge Luft nach oben (und der Autor hat sich bekanntermaßen ja auch deutlich gesteigert). Daher kann man „East“ getrost als ambitionierten Versuch unter „er übte noch“ verbuchen. Es ist kein kompletter Fehlschlag, aber auch kein Meisterwerk.
Aber von vorn.
Wir schreiben das Jahr 1999 und der ehemalige amerikanische Agent Jan Jordi Kazanski hat alles verloren: seine Frau, seine Tochter und seinen Job bei der CIA. In ein tiefes Loch gefallen, flüchtet er sich mehr und mehr in den Alkohol. Allerdings braucht die CIA seine Expertise wegen seiner polnischen Wurzeln und holt ihn kurzerhand zurück in den Dienst, damit er in Krakau „die Witwe“, eine mysteriöse Informantin und Unterwelt-Chefin findet. Kaum, dass er seinen Fuß auf polnischen Boden gesetzt hat, schwebt er in höchster Gefahr. Mehrere Mordanschläge werden auf ihn verübt, Leichen pflastern seine Wege. Und nicht nur das: schon bei seiner Ankunft im Hotel trifft er auf die Dänin Xenia Pizlo Larsen. Eine ebenso hübsche wie geheimnisvolle Frau. Was verbirgt sie? Und wer will Kazanskis Tod?
Das Buch hätte wirklich sehr viel Potential gehabt. Auch wenn es heute schon „historisch“ und leicht angestaubt wirkt, so sind Thriller mit dem Thema „Ost-West-Konflikt“ auch heute noch (nicht zuletzt wegen des Krieges in der Ukraine) immer noch spannend. Oder könnten es zumindest sein, vorausgesetzt, sie sind gut und packend geschrieben. Und leider hapert es genau daran bei diesem Buch. Der Autor hatte bei dem Werk noch nicht die Reife, die er inzwischen hat. Er schafft es für mich nicht, einen durchgehenden Spannungsbogen zu schaffen. Auch seine Dialoge sind teilweise sehr hölzern und die Charaktere sind, abgesehen vom Protagonisten, nicht wirklich gut ausgearbeitet. Den Protagonisten fand ich allerdings nicht sehr sympathisch und ich wurde mit ihm nicht warm. Seine fast übermenschliche Genialität, die seine ständige Trinkerei (über weite Teile des Buchs ist er durchgehend be- oder zumindest angetrunken) und seinen platten Umgang mit Frauen (er bedient fast jedes Macho-Klischee) fand ich nervtötend. Dazu packt der Autor zwischen reichlich uninspirierte Verfolgungsjagden durch Krakau eine Menge Informationen zum Zeitgeschehen in innere Monologe, was sowohl die Spannung als auch meinen Lesefluss störte.
Sprachlich ist das Buch leicht zu lesen, manchmal etwas derb in der Wortwahl. Die Übersetzung ist sehr gut gelungen, sodass das Buch wirklich gut hätte werden können, wenn der Autor es besser konzipiert hätte. Da hat er inzwischen viel dazugelernt und sich weiterentwickelt. Ich kann es daher nur wirklichen Hardcore-Fans ans Herz legen und verbuche es „East. Welt ohne Seele“ als „Werk ohne Konzept und Erinnerungswert“. Endgültig den Spaß an der Serie hat mir allerdings der Epilog verdorben, der sich an den für mich sehr vorhersehbaren Schluss anschließt. Darin werden wirklich alle losen Enden abgefrühstückt und man bekommt das Gefühl, keinen weiteren Teil der Reihe zu brauchen. Von mir gibt es für die wenigen spannenden Passagen und die vielen historischen Informationen zweieinhalb Sterne, aufgerundet auf drei.

Bewertung vom 07.12.2022
Cave, Nick;O'Hagan, Sean

Glaube, Hoffnung und Gemetzel


ausgezeichnet

Musikalisch ist Nick Cave abgesehen von seinem Duett mit Kylie Minogue nicht wirklich mein Fall. Aber „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“, das Buch, das der Musikjournalist Seán O’Hagan basierend auf gut 40 Stunden Interviewmaterial mit dem Musiker geschrieben hat, hat mir Nick Cave tatsächlich nähergebracht, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die covidbedingt per Telefon geführten Gespräche zwischen den beiden geben einen tiefen Einblick in die Person Nick Cave – oder zumindest in das, was er anderen Menschen zeigen möchte. Wie er wirklich ist? Wer weiß das schon. Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass er es oft selbst nicht weiß und dass der bekennende Interview-Hasser („Na ja, wer gibt schon gerne Interviews? Interviews sind grundsätzlich beschissen.“) während des Gesprächs selbst neue Facetten an sich erkannte. Auf jeden Fall war es für mich ein interessantes Buch mit neuen Denk-Ansätzen zu Religion und Leben und vielen philosophischen und tiefgründigen Exkursen.
Aber von vorn.
Das Buch ist von allem ein bisschen. Es ist eine Mischung aus erzählter nachdenklicher Autobiografie, Momentaufnahme über Familie und Karriere, Überlegungen zu Weggefährten und immer wieder die Rückkehr (vom Interviewer meiner Meinung nach fast zu oft ein bisschen manipulativ erzwungen) auf den Tod seines 15jährigen Sohnes Arthur, der zu dem Zeitpunkt sieben Jahre zurücklag. Cave erzählt teils launig, teils tiefgründig-philosophisch über seine Kindheit, seine Eltern, seine Zeit an der Kunstschule, als Heroinsüchtiger, über Entzug, Partnerschaften, seinen Glauben, seine Zweifel und Ängste und natürlich immer wieder über Musik. So erfährt man, wie manche Texte entstanden sind und welche Bedeutung sie für ihn haben. Und es geht immer wieder um Verluste. So hat Nick Cave nicht nur seinen Sohn und mehrere Freunde innerhalb weniger Jahre verloren. So starb seine ehemalige Partnerin Anita Lane 2021 und Caves Mutter starb im ersten Pandemie-Jahr (die Interview-Sessions begannen im Sommer 2020 und endeten im August 2021). Wegen der Corona-Regeln in Australien konnte er sie nur per IPhone noch einmal sehen und auch nicht zu ihrer Beerdigung reisen. Inzwischen musste Nick Cave noch einen zweiten Sohn zu Grabe tragen, was Seán O’Hagan im Nachwort schreibt: sein Sohn Jethro starb zwischen dem letzten Interview und der Drucklegung des Buchs.
Und dennoch besteht Caves Leben nicht nur aus Glauben und Gemetzel, sondern durchaus auch aus Hoffnung. Darauf, dass bessere Zeiten kommen werden. Dass Arbeit als Antidepressivum hilft. Ein Buch mit viel Nachdenken über Reue, Vergebung und immer wieder Trauer. Obwohl man als Leser abseits des Interviews sitzt, hatte ich doch ein bisschen das Gefühl, dabei zu sein. Der auf der Bühne auf mich oft ungelenk wirkende Cave erwies sich als feinsinniger und feingeistiger, äußerst belesener (vor allem auch bibelfester), nachdenklicher Mensch und als intelligenter und interessanter Gesprächspartner, der mit den Antworten auf die Fragen ein erschütterndes und unter die Haut gehendes Buch ermöglicht hat. Er ist dazu vielseitig begabt (neben der Musik hat er sich auch als Autor und Schauspieler einen Namen gemacht) und noch vielseitiger interessiert (er ist kunst-affin und hatte eine Zeitlang die Kunstschule besucht). Für mich war das eine völlig neue Seite, und das Buch hat mich auf jeden Fall dazu gebracht, mich näher mit der Person Nick Cave und seiner Musik zu befassen. Vor allem, da so viele seiner Songtexte angesprochen werden. Jetzt, wo ich weiß, was sie für den Künstler bedeuten, möchte ich wissen, was sie für mich bedeuten würden.
Für mich also ein Buch, das zwischen manchen banalen und trivialen Passagen mit wichtigen, lehrreichen und starken Botschaften aufwartet. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 29.11.2022
Ullberg Westin, Gabriella

Der Gesuchte / Kommissar Johan Rokka Bd.5


ausgezeichnet

Kommissar Johan Rokka, Protagonist von Gabriella Ullberg Westins „Hudiksvall“-Serie ist mir schon seit dem ersten Band der Reihe ans Herz gewachsen. Im fünften Teil „Der Gesuchte“ mochte ich ihn sogar noch ein bisschen mehr. Ein Ermittler mit Ecken und Kanten und einer spannenden Vergangenheit auf der anderen Seite des Gesetzes. Und eben diese Vergangenheit „von einer schwierigen Kindheit in Hudiksvall zu einem noch wilderen Leben in Stockholm“ holt ihn jetzt wieder einmal ein. Und das Publikum wird in den wilden Strudel aus Ermittlungen und Emotionen hineingezogen. Ein von der ersten Seite an fesselnder Thriller, bei dem mir erst sehr spät klar wurde, wohin die Reise überhaupt gehen wird.
Aber von vorn.
Johan Rokka ist seiner Kollegin Janna Weissmann von der Polizei in Hudiskvall sehr zugetan, diese möchte aber nur „eine Kollegin sein“. Mehr nicht. Und dann sind da zwei Tote auf einem Rastplatz an der Autobahn E4. Einer der Toten ist ein Kurierfahrer und für Rokka ist sofort klar: „das hier ist kein zufälliger Mord, kein spontaner Raubüberfall, an diesem Tatort spricht gar nichts für eine Handlung im Affekt.“ Von Janna zurückgewiesen, lässt sich Johan kurzfristig nach Stockholm versetzen. Dort soll er bei der Aufklärung eines Juwelendiebstahls helfen, der Wert des Geschmeides liegt bei rund 200 Millionen Kronen. Einer der Verdächtigen ist Viktor Berger, der kurz vor dem Raub aus der Haftanstalt befreit wurde. Und der ist für Johan kein Unbekannter. Nein, Viktor war einmal sein bester Freund und hat ihm in Kindertagen das Leben gerettet. Johan ist hin- und hergerissen zwischen Schuld, alter Freundschaft und seiner Verpflichtung als Polizist. Und er erkennt langsam, dass bei weitem nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Und als er endlich begreift, wer hinter allem steckt, ist es schon fast zu spät.
Obwohl es der fünfte Teil der Serie ist, kann man ihn problemlos einzeln lesen. Zwar werden nicht alle Lücken hundertprozentig gefüllt, aber alles, was man wissen muss, wird erklärt. Allerdings kann ich auch die anderen Bücher unbedingt empfehlen. Sprachlich finde ich das Buch locker geschrieben und leicht zu lesen, schwedische Straßennamen und Ortsbezeichnungen sind natürlich vorhanden, aber stören den Lesefluss kaum und insgesamt ist die Übersetzung gut gelungen. Die Geschichte an sich ist eher unblutig, Gewalt ist überwiegend unterschwellig vorhanden. Die Szenen, die in der JVA spielen, fand ich sehr interessant. Wenn es der Realität entspricht, gehören „schwedischen Gefängnisse zu den humansten der Welt: wenige Gefangene. Viele Wachen. Hervorragende Ausstattung. Viele Angebote im Vollzug. Die Möglichkeit zu arbeiten. Zu studieren. Als Gefangener soll man in Schweden trotzdem Teil der Gesellschaft sein, auch wenn man eingesperrt ist.“ – und trotzdem sind die Wachen teils als übergriffig beschrieben. Außerdem werden selbst harte Bestrafungsaktionen unter den Insassen ignoriert.
Der Spannungsbogen des Buchs ist konstant hoch, auch wenn Abstecher in Rokkas Privatleben ihn ab und zu ein wenig abflachen lassen. Nach einem starken Prolog und spannenden Ermittlungen kam der Schluss für mich stimmig, aber völlig überraschend (der Epilog ist dafür eher was fürs Herz). Die Charaktere sind gut und bildhaft gezeichnet, vor allem natürlich Johan Rokka als Protagonist ist sehr dreidimensional. Er hat eine bewegte Vergangenheit, die immer wieder seine Gegenwart, sein Tun und Handeln bestimmt. Aber auch die anderen Hauptcharaktere sind greifbar beschrieben und hat beim Lesen nicht nur ein Bild von ihnen vor Augen, man fühlt sich mit ihnen verbunden.
Für mich war das Buch auf jeden Fall ein absoluter Pageturner und steht den anderen Teilen der Serie in Puncto Spannung in nichts nach. Außerdem ist mir Johan Rokka noch mehr ans Herz gewachsen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 23.11.2022
Brandner, Michael

Kerl aus Koks


ausgezeichnet

Mehr durch Zufall bin ich auf das Hörbuch zu Michaels Brandners autofiktionalem Roman „Kerl aus Koks“ gestoßen. Völlig untypisch für mich lag das vor allem am Cover, das hat direkt mein Herz erobert. Und, was soll ich sagen? Das Buch ging mir tief unter die Haut, ich weiß nicht, ob mich ein Hörbuch jemals so berührt hat, für mich war es ein absolutes Highlight.
Aber von vorn.
Den Inhalt des Buchs zusammenzufassen ist schwierig, denn er umfasst fast ein ganzes Menschenleben. Anfang der 1950er Jahre geboren, ist Paul Brenner vier Jahre alt, als er von einer unbekannten Frau von Onkel und Tante in Bayern weggeholt und ins Ruhrgebiet „verpflanzt“ wird. Für ihn fast eine Vertreibung aus dem Paradies, der Schoß der Familie in Bayern war für ihn eine Art „Schlaraffenland“, in Dortmund erwartete ihn statt Wiesen, Weiden und Weißwurst Zeche, Klappcouch in der Küche und eine Mutter, für die nur wichtig ist, dass aus ihm mal was wird. Neu in seinem Leben ist auch sein Stiefvater Helmut. Von ihm erfährt Paul, der seinen leiblichen Vater nie kennengelernt hat, Liebe und Zuneigung. Wo der Junge für seine Mutter eine einzige Enttäuschung ist (er schafft das Gymnasium nicht und wird Bauzeichner und Schreiner, später Schauspieler), ist es für Helmut nur wichtig, dass „der Junge glücklich ist“, was Paul über viele Umwege auch schafft.
Diese vielen Umwege machen einen Großteil des Buchs aus, manchmal sind sie für den Hörer des Hörbuchs verworren, in der Hauptsache waren sie für mich aber großartig anzuhören, was auch an der angenehmen Stimme von Michael Brandner liegt. Sein Protagonist und alter Ego Paul ist vielseitig begabt und schafft es, trotz seines teilweise chaotischen Lebens (Drogen, Hausbesetzerszene, ein enorm bewegtes Liebesleben mit unzähligen Frauen, verschiedene Jobs) bei Rückschlägen immer wieder auf die Füße zu fallen. Krankheiten und Unfälle haben dazu geführt, dass er gegen Ende praktisch „auf Pump“ lebt, wäre er eine Katze hätte er alle neun Leben schon lange aufgebraucht, so oft ist er dem Tod schon von der Schippe gesprungen. Beeindruckend fand ich, dass Paul äußerst vielseitig begabt ist. Seine Begabung fürs Zeichnen führte ihn zu seinem ersten Beruf als Bauzeichner, dazu ist er ein begabter Schreiner, Musiker (sowohl als Instrumentalist als auch als Texter und Komponist) und natürlich auch Schauspieler. Er braucht mehr als 40 Lebensjahre, bis er „sesshaft“ wird und mit seiner zweiten Frau seinen „Hafen“ findet.
Das Buch beinhaltet fünf Staffeln und umfasst den Zeitraum von 1951 bis 1997, Paul gehört also zur Generation meiner Eltern. Dennoch hat mich das Buch sehr bewegt. Ich war hin- und hergerissen, mal wollte ich Paul in den Arm nehmen (vor allem, weil ich schwierige Mutter-Kind-Beziehungen gut kenne), mal mit ihm ein Bier trinken gehen und manchmal wollte ich ihn einfach nur auf den Hinterkopf klapsen, denn seine Drogen- und Frauengeschichten fand ich manchmal verstörend. Doch trotz aller Sympathie für Paul, mein Held in der Geschichte ist sein Stiefvater Helmut. Er ist der wahre Kerl aus Koks für mich, ein Bergmann mit einem Eimer voller Bierflaschen und Herzen aus Gold, der durch eine narzisstische Ehefrau ins Unglück getrieben wurde. Während Paul es immer wieder schafft, sich aufzurappeln, verfällt Helmut zunehmend dem Alkohol und erkrankt letztendlich unheilbar an Krebs.
Das Buch ist „frei Schnauze“ geschrieben, weder Satzbau noch Wortwahl sind übermäßig literarisch geprägt – aber authentisch und mit Tiefgang. Pauls Sprache ist ebenso ein Teil des Lokalkolorits wie die Staubwolken der Zechen und gehört ebenso zur Ruhrgebietsmentalität, die dem Buch so viel Authentizität gibt, auch wenn es eine nur „fast wahre Geschichte“ ist. Der Autor liest das Buch selbst hervorragend ein, man merkt seinen engen Bezug zur Geschichte, die er liest. Für mich war das Hörbuch ein absolutes Highlight und ich habe beim berührenden Schlusswort des Autors einige Tränen verdrückt. Von mir daher fünf Sterne.