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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 213 Bewertungen
Bewertung vom 17.08.2023
Der letzte Zug nach Schottland / Ein Fall für Alan Grant Bd.6
Tey, Josephine

Der letzte Zug nach Schottland / Ein Fall für Alan Grant Bd.6


sehr gut

Alan Grant ist Inspector bei Scotland Yard, und er leidet wegen chronischer Überarbeitung an Panikattacken. Da hilft nur eines: raus aufs Land, ins beschauliche Schottland, wo seine Verwandten als Schafzüchter leben und wo er seiner Leidenschaft fürs Angeln in klaren Gebirgsbächen nachgehen kann.
Das Landleben bekommt ihm, die Landschaft lässt ihn zur Ruhe kommen, und als auch noch eine verwitwete Gräfin auftaucht und ihn Amors Pfeil streift, überlegt er sogar, den Dienst zu quittieren und auf immer in diesem gesunden Landstrich zu bleiben.

Wie gut, dass ihm ein Mord dazwischenkommt! Alan Grant muss keine Sekunde überlegen, die Prioritäten sind eindeutig, und er macht sich an die Arbeit. Dabei begegnet er ausgesprochen skurrilen Charakteren, die die Autorin mit nur wenigen Pinselstrichen liebevoll-ironisch skizziert. Ein besonders liebenswerter Charakter ist ihr mit dem kleinen Patrick gelungen, ein eigenwilliger und doch einnehmender kleiner Junge. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie über die schottische Geschichte, das Essen auf den Hebriden und andere Eigentümlichkeiten schreibt.

Ein großes Vergnügen ist die wohltuend klare Sprache der Autorin. Ihre Landschaftsbeschreibungen sind frei von jedem Kitsch und auch nicht langatmig, aber trotzdem entstehen im inneren Auge des Lesers Bilder der herben Landschaft auf den Hebriden und der schottischen Highlands. Ihr schwarzer Humor in Verbindung mit dezent-ironischen Formulierungen machen das Lesen zu einem Vergnügen.

Alan Grant ist einer der Ermittler, die ihre Fälle mit Überlegungen und Schlussfolgerungen lösen. So findet er auch den Bösewicht, aber leider fehlen die Beweise. Und daher greift die Autorin zu dem unschönen Kunstgriff und lässt den Bösewicht seine Taten und seine Motive selber erklären. Schade, dass der Autorin keine andere Möglichkeit eingefallen ist.

Trotzdem: ein Wohlfühlbuch!

Bewertung vom 17.08.2023
Vertrauensübung
Choi, Susan

Vertrauensübung


sehr gut

Eine Schauspielschule, eine Eliteschule in den 80er Jahren im ländlichen Süden der USA, die ihren Schülern den Sprung auf die großen Bühnen der Welt ermöglicht: so sieht sich die Schule. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, und darum geht es in diesem Roman.

Die Autorin nutzt konsequent die Elemente von Theater und Bühne für ihr Erzählen.

Im I. Akt lernt der Leser eine Anfängerklasse kennen, die stolz darauf ist, von Mr. Kingsley unterrichtet zu werden. Mr. Kingsley ist ein charismatischer Lehrer, ein Freund seiner Schüler, fordernd und auch fördernd, das Aushängeschild der Schule. Mit seinen Schülern veranstaltet er sog. Vertrauensübungen. Solche Vertrauensübungen sind tatsächlich die Basis jedes kreativen Prozesses, und gerade die Theaterarbeit erfordert ein hohes Maß an Angstfreiheit und Vertrauen des einzelnen Spielers zu seinen Mitspielern. Mr. Kingsleys Übungen jedoch führen weder zu Angstfreiheit noch zu gegenseitigem Vertrauen. Im Gegenteil. Sie gleiten sofort ins Übergriffige ab und zeigen bedrohliche Elemente sexueller Aggression. Damit wird ein Grundakkord dieses Romans angeschlagen: Sexualität als lebensbestimmendes Handlungsstimulans dieser jungen Leute.

Die erzählten Szenen wirken wie Theaterszenen. Sie spielen auch großenteils auf der Bühne, und auch für Intimes und Privates wird die Öffentlichkeit als Bühne gesucht. Unter der Regie von Mr. Kingsley spielt sich auch ein Liebesdrama auf der Bühne ab, wenn der Lehrer seine Schüler mit seinen manipulativen an ihre emotionalen Grenzen bringt, ohne dass sie aber ihr Inneres öffnen können. In quälend langen Konfrontationen behalten sie ihre Fassaden bei, es entsteht kein Vertrauen, und man fragt sich als Leser, inwieweit die eigenen Wahrnehmungen belastbar sind: stimmt das alles, was wir lesen?

Der II. Akt wird belebt durch eine Theatergruppe aus England, die die Klasse aufmischt. Sie bieten eine Vorstellung von „Candide“, die durch eine Fülle an sexuellen Provokationen nicht wiederholt werden darf. Und die sexuelle Erhitzung, die sich hier auf der Bühne zeigte, wird anschließend in das wirkliche Leben übertragen. Die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern verwischen sich, sexuelle Abhängigkeiten entstehen, die Außenwelt wie z. B. die Eltern haben kaum mehr Zugriff auf die Schüler.

Im II. Akt tritt eine bisherige Nebenfigur ins Rampenlicht. Sie relativiert alles bisher Geschehene. Die bisher aufgetretenen Personen werden als Konstrukte entlarvt. Die Wahrnehmungsebenen werden vermischt, die Wirklichkeit wird als „Theater“, d. h. als Simulation enttarnt, und als Leser weiß man nicht mehr, welchen Wahrnehmungen man Glauben schenken darf, v. a. auch deshalb, weil sie die Erzählerin als unzuverlässig entpuppt.

Eines aber wird dem Leser klar: diese Person erlebt sich als Opfer und ist schwer traumatisiert. Sogar in der Sprache spürt sie Doppeldeutigkeiten und dem Verhältnis von Täter und Opfer nach. Überhaupt versichert sie sich ständig der Wirklichkeit, wie sie sich daran erinnert, indem sie Begriffe präzise definiert.

Die Autorin spielt hier souverän mit dem Wesen des Theaters: der Erzeugung von Illusion. Dieses Spiel mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen ist durchaus kunstvoll, aber für den Leser sehr schwierig. Er kann das bisher Gelesene nicht überprüfen, aber er muss es vollständig in Frage stellen. Damit wird der Leser so wie die Schüler einer besonderen Form von Vertrauensübung unterzogen.

Zugleich wird der Leser einer Geduldsübung unterzogen. Akribisch lange Beschreibungen bringen die Handlung nicht voran, und der Roman hätte durch rabiate Kürzungen nur gewinnen können.

Was aber bleibt, ist ein wirres Spiel von sexuellen Beziehungen unterschiedlichster Intensität, die Manipulation von Heranwachsenden und v. a. der nach wie vor existente Machtmissbrauch in hierarchischen Strukturen.

Bewertung vom 11.08.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


ausgezeichnet

Der optische Eindruck des Buches ist überwältigend. Diese explosiven Farben und dazu der Titel, der an ein Shakespeare-Zitat erinnert– wunderschön!

London, zur Zeit des Brexits: Hier treffen zwei junge Frauen, Melissa und Catarina, in einer Wohngemeinschaft zusammen und freunden sich an. Beide haben brasilianische Wurzeln, und v. a. Catarina ist es, die durch ihre Familie, ihren sozialen Status (sie entstammt der brasilianischen Oberschicht) und nicht zuletzt ihren Verlobten in ihrer Heimat stärker verwurzelt ist.

In kleinen Sequenzen wird die Vorgeschichte der beiden jungen Frauen in die Erzählung eingestreut. Beide Frauen erleben persönliche und politische Umbruchsituationen, und der Leser taucht mitten hinein einerseits in die Lebenssituation von Migranten in London und andererseits in die dramatische und blutige Geschichte der politischen Kämpfe in Brasilien.

In die Geschichte der beiden Freundinnen wird eine andere eingebettet: die traurige Geschichte von Laura, Catarinas Tante, einer kommunistischen Guerilla-Kämpferin, und ihrer Liebe zu einer anderen Kämpferin mit dem Decknamen „Königsmörderin Clitemnestra“. Die Geschichte dieser beiden „queeren Kommunistinnen“ wie die Autorin sie in ihrer Danksagung nennt, ist der eigentliche Kern des Romans, und ich persönlich hätte lieber mehr über Laura und „Clitemnestra“ erfahren als über Catarinas abendliche Vergnügungen. Lauras Geschichte hat aber Auswirkungen auf Catarina: sie führt den Kampf ihrer Tante fort, allerdings auf dem sicheren Boden Londons.

Das alles sind hochexplosive, packende Stoffe für einen Roman.

Die Autorin macht es ihrem Leser aber nicht leicht und sorgt für eine ständige Distanz zwischen Leser und Erzähltem. Gedichtfragmente, Songtexte, Zeitsprünge, Ortswechsel, Lautmalereien und stilistische Brüche sorgen für Abwechslung. Aber die wiederholte Aneinanderreihung von Anaphern (z. B. „Sie cremte...Sie zog... Sie machte...Sie zog...Sie kochte...Sie sah...etc.) und die fast durchgängige Verwendung von kurzen parataktischen Sätzen lassen kaum einen Lesefluss aufkommen. Gelegentlich fügt die Autorin auch portugiesische Textpassagen ein. Das erhöht zwar die Authentizität, aber sperrt sprachunkundige Leser aus. Auch das Pathos vieler Textpassagen ist sicher Geschmackssache.

Dennoch: Yara R. Fowler versteht das Handwerk des Schreibens, und ich bin neugierig auf einen weiteren Roman.

Bewertung vom 08.08.2023
All die ungesagten Dinge
Lien, Tracey

All die ungesagten Dinge


sehr gut

Vietnamesische Flüchtlinge in Australien: die Autorin weiß aus ihrer eigenen Biografie, wovon sie erzählt. Ein schwieriges, von vielerlei Problemen beschattetes Leben öffnet sich dem Leser.

Ky, die Protagonistin, hat die Flucht Ende der 70er Jahre mit ihren Eltern erlebt. Ihr Bruder Denny kam schon in Australien zur Welt, und die Familie setzt, wie die anderen Flüchtlingsfamilien auch, ihre ganze Hoffnung auf die Kinder. Der Druck auf die Kinder ist daher enorm: sie sollen sich anpassen und durch schulischen Erfolg glänzen. Auf der anderen Seite leiden die Kinder unter den traumatisierten, oft gewalttätigen Eltern. Die Eltern haben nicht nur ihre Heimat und ihre Ahnen verloren, sondern auch ihre „Zugehörigkeit und ihr Selbstvertrauen“. Eine Assimilation scheint weit entfernt zu sein:

„Ganz egal. Wie clever du bist oder wie hart du arbeitest oder wie viele Koalas du streichelst, die werden dich nie als eine von ihnen sehen. Nie im Leben.“

Umgekehrt schotten sich auch die Flüchtlinge gegenüber den Weißen ab und begegnen ihnen voller Misstrauen. Dass dieses Misstrauen berechtigt ist, zeigt sich nach der Ermordung von Denny, einem fleißigen und begabten Kind, freundlich und unauffällig. Die Polizei trifft auf eine Mauer des Schweigens und ermittelt eher uninteressiert, sodass Ky, die ältere Schwester, aktiv wird und Zeugen sucht.
Diese Suche nach Zeugen nutzt die Autorin, um den Leser in einige andere Leben in „Little Saigon“ hineinschauen zu lassen; ein schöner Kunstgriff, der den Blick des Lesers weitet.

Der Roman wird zwar aus der Perspektive Kys erzählt, aber die eigentliche Hauptfigur ist Minnie, ihre Freundin aus Kindertagen, die sich dem allgemeinen Zwang zur Anpassung entzieht. An ihrem Beispiel zeigt die Autorin, welchen gewalttätigen Übergriffen die Kinder traumatisierter Eltern ausgesetzt sein können und welcher Sumpf an Drogen und Kriminalität sich in einer Generation auftun kann, die gesellschaftlich isoliert wird.

Die Autorin legt ihren Roman als Kriminalroman an. Das ist ihr weniger gut gelungen, da sie den Spannungsbogen nicht bis zum Schluss aufrechterhalten kann. Liest man den Roman aber als Familiengeschichte, als Migrationsroman oder noch besser als Milieuschilderung, dann entfaltet der Roman durch seine Verdichtung eine große Aussagekraft.

Bewertung vom 30.07.2023
1942 - Das Labor
Schüler, Paul

1942 - Das Labor


gut

Mein Hör-Eindruck:

Im Juni 1942 kam es im Physikalischen Institut der Universität Leipzig zu einem folgenschweren Unfall. Die Universität Leipzig war eine von vier wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich am sog. Uran-Projekt beteiligten. Einige Jahre vorher war die Kernspaltung entdeckt worden, und im Rahmen des Uran-Projekts sollte ein Versuchs-Kernreaktor gebaut und die Nutzbarmachung der Kernspaltung untersucht werden. Dahinter stand natürlich die Überlegung einer militärischen Nutzung. Der Unfall im Leipziger Institut zerstörte den Reaktor jedoch gründlichst.

Diesen Hintergrund nutzt der Leipziger Autor Paul Schüler, aber er geht frei mit diesen historischen Tatsachen um, die ihn offensichtlich zu diesem Roman inspiriert haben. Im Mittelpunkt steht die junge Physikerin Dr. Margarethe von Brühl, der „ihr“ Reaktor während einer Versuchsreihe (die der Autor sehr laientauglich erklärt!) explodiert. Dieser Unfall hat weitreichende Folgen, und Margarethe v. Brühl gerät in ein Spinnennetz von unterschiedlichsten Interessen, und zwar persönlichen als auch politischen. Zudem wird sie einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt; Freunde entpuppen sich als Feinde und umgekehrt.

Die Handlung beginnt mehrperspektivisch und nimmt nur sehr zögerlich Fahrt auf, aber dann entpuppt sie sich als rasante Räuberpistole, und der Autor lässt sich eine Aktion nach der anderen einfallen: wilde Verfolgungsjagden, drohende Erschießung, alliierter Bombenangriff, russische Partisanen etc. – filmreif bis zum finalen Showdown. Gelegentlich leidet darunter die Glaubwürdigkeit, z. B. wenn die Heldin nur im Krankenhaushemdchen aus dem schwer bewachten Krankenhaus fliehen kann oder wenn ein Folteropfer der Gestapo, nackt und halbtot geschlagen, nach seiner Befreiung problemlos wieder in der Handlung mitmischen kann.

Diese filmreifen Aktionen laufen ab vor dem düsteren Hintergrund des Jahres 1942, der gekennzeichnet ist von zunehmenden Nazi-Terror und der erschöpfenden Kriegssituation. Der Autor breitet diesen Hintergrund nicht plakativ aus, sondern er setzt eher kleine Schlaglichter, mit denen er den Zeitgeist einfängt. Am Schluss des Romans klingt verhalten, aber wirkungsvoll die Frage nach der moralischen Verpflichtung von Forschung und Wissenschaft an.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Jasmin Shaudeen, die v. a. mit ihrem Berliner Dialekt für Frische sorgt.

Bewertung vom 30.07.2023
Abenteuer & Wissen: Michelangelo
Pfitzner, Sandra

Abenteuer & Wissen: Michelangelo


ausgezeichnet

Die Reihe „Abenteuer Wissen“ widmet sich hier einem Giganten der Kunstgeschichte: Michelangelo. Mit einer kleinen Hörspielszene zur kräftezehrenden Ausmalung der Sixitnischen Kapelle startet das Feature und bringt damit Michelangelo über die Jahrhunderte hinweg nahe an den Hörer heran.

Das Leben Michelangelos wird in den wesentlichen Etappen vorgestellt, und bei den Informationen zu den Kunstwerken beschränkt sich die Autorin auf drei klug ausgewählte Werke: den David, die Pieta und das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle. Die Kunstwerke werden aber nicht isoliert vorgestellt, sondern werden mit der Biografie Michelangelos und mit der Zeitgeschichte verzahnt. Die komplizierte Zeitgeschichte wird nur gestreift und weiter nicht erläutert , und vielleicht wundert sich ein Hörer, wieso ein Papst auf Kriegszug ging und Bologna eroberte. Auf alle Fälle wird deutlich, wie sehr Michelangelo in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit verwickelt war, dass er den Untergang der Republik bedauerte und die Machtfülle der Medici ablehnte, obwohl er von ihrem Mäzenatentum profitierte.

Auch Michelangelos Persönlichkeit wird deutlich: Michelangelo war ein störrischer und eigenbrötlerischer Mensch, der hochverehrt wurde, aber stets einsam blieb, was wohl auch mit seiner homosexuellen Veranlagung zusammenhing.

Die CD ist tontechnisch sehr gut aufbereitet. Trotz ständiger Hintergrundgeräusche sind die Sprecher problemlos zu verstehen, und die Verteilung der Sprechrollen sorgt für ein kurzweiliges Hörvergnügen.

Empfehlenswert!

Bewertung vom 28.07.2023
Giftig!
Reyes, Ico Romero

Giftig!


ausgezeichnet

Ein spannendes Thema!

Die Autorin geht das Thema aber ausgesprochen gründlich und überlegt an, trotz des etwas reißerischen Untertitels. Der Leser erfährt zunächst einiges über Gifte: was Toxine sind, wo sie vorkommen und wie sie wirken. Er lernt die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv giftigen Tieren. Schließlich wird er in die Taxonomie der Lebewesen eingeführt (leider nicht an einem Beispiel aus dem Buch), weil damit die Gliederung des Buches vorgegeben ist. Und dann wird er endlich entlassen in das Reich der giftigen Tiere.

Ein bunter Reigen tut sich auf: Kraken, Wespen, Affen, Fische, Skorpione, Vampire, Vögel, Schnabeltiere, Quallen, See-Anemomen und und und. Man liest Erstaunliches. Wer kennt die Gila-Krustenechse und weiß, dass sie bis zu 2 Jahren ohne Nahrung überleben kann? Wer weiß, dass der Seewespe, einer hochgiftigen Qualle mit bis zu 3 m langen Tentakeln, mehr Menschen zum Opfer fallen als dem legendären Weißen Hai? Und dass die gefürchtete große Vogelspinne keine Chance hat gegen eine Wespe, die sich Tarantula-Falke nennt? Und wer kennt einen Plumplori?

Das Buch wird abgeschlossen mit einem kleinen Quiz; eine schöne Idee!

Ebenfalls positiv hervorzuheben sind die lateinischen Gattungsbezeichnungen und die Verwendung von Fachbegriffen wie z. B. Aposematismus, die kindgemäß erläutert werden. Ab und an wären genauere Angaben angebracht werden. So heißt es z. B., die Trichternetzspinne sei „groß“. Was heißt „groß“?

Die Illustrationen sind bestechend schön. Sie sind großformatig und zeigen die detaillierte Sachkenntnis der Künstlerin, gerade weil sie das dargestellte Tier auf seine wesentlichen Merkmale reduzieren. Zudem zeigen sie jedes Tier in seinem natürlichen Umfeld.

Fazit: ein schönes Geschenk zu einem spannenden Thema!

Bewertung vom 28.07.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Seethalers Vorliebe gehört offensichtlich den einfachen, kleinen Leuten, deren Leben er erzählt. Hier ist es die Geschichte des Gelegenheitsarbeiters Robert Simon, der Ende der 60er Jahre ein Cafè am Karmelitermarkt übernimmt, einem noch vom Krieg gezeichneten ärmlichen Viertel Wiens. Sein Leben ist unspektakulär und von täglicher harter Arbeit geprägt. Er wohnt bescheiden in einem möblierten Zimmer bei einer Kriegerwitwe, mit der ihn im Lauf der Jahre das Gefühl einer gegenseitigen Verantwortung füreinander verbindet.

Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem er in der Zeitung liest, geht an ihm vorbei, und er zeigt auch kein Interesse daran. Der Einsturz der Reichsbrücke (1976) wird zwar von ihm und seinen Gästen als Signal für eine Zeitenwende gedeutet, aber worin diese Zeitenwende besteht, bleibt offen und zeigt sich auch nicht in dem kleinbürgerlichen Mikrokosmos des Cafès.

Seine Gäste stammen aus seinem Umkreis und seiner Schicht. Es sind Schicht-Arbeiter, junge Frauen aus der Garnfabrik, kleine Beamte, Gelegenheitsarbeiter, Taugenichtse, Marktleute, verkrachte Existenzen und andere skurrile Gestalten, die sich hier treffen. Simon hat Verständnis für alle: „Die Welt dreht sich immer schneller, und da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft.“ Simons Cafè ist für diese Leute eine zweite Heimat, wo sie Ansprache und Zuhörer finden. Einige dieser Schicksale greift Seethaler heraus und betrachtet sie kurz wie mit einem Vergrößerungsglas, z. B. das Leben des benachbarten Metzgermeisters, der seine ständig wachsende Familie ernähren muss und dessen Geschäft unter den neuen Supermärkten leidet, oder das Leben des ständig alkoholisierten Schau-Ringers, der ausgerechnet „Wurm“ heißt. Alle diese Figuren stehen dem Leben und den sich ändernden Zeiten hilflos und ratlos gegenüber. Alle sind kleinbürgerliche Existenzen, die versuchen mit dem Leben klarzukommen und die ihr bescheidenes Auskommen finden müssen.

Wie seine Gäste erleidet auch Robert Simon Schicksalsschläge, die er jedoch ergeben hinnimmt und mit deren Folgen er weiterlebt. Und das ist eines der wiederkehrenden starken Themen in Seethalers Romanen: die Ergebenheit dem Leben gegenüber, die Einsamkeit des Einzelnen, sein Scheitern und zugleich die Beobachtung, dass jeder seinem Mitmenschen das Leben etwas erleichtern kann.

So unspektakulär wie Seethalers Figuren ist auch seine Sprache. Wenn man einen Seethaler-Roman aufschlägt, weiß man, was einen erwartet: eine reduzierte Sprache, passend zur Wortkargheit seiner Figuren sowie leise und undramatische Töne.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Matthias Brandt: perfekt, ein Hörgenuss, besser geht es nicht.

Mein Lieblingssatz:
"Am besten man sucht sich ein schattiges Platzerl im Leben und hält still",

Bewertung vom 27.07.2023
Vom Zauber des Untergangs
Zuchtriegel, Gabriel

Vom Zauber des Untergangs


ausgezeichnet

„Vom Zauber des Untergangs“. Dieser Titel befremdet zunächst. Welchen Zauber hat der Untergang einer ganzen Stadt?
Pompeji ist eine der berühmtesten Ausgrabungsorte der Welt, und seine Faszination dauert ungebrochen bis heute an. Jeder Besucher steht staunend vor luxuriösen Villen mit beeindruckenden lebensfrohen Wandmalereien, und das Staunen mischt sich mit Grauen und Erschütterung beim Anblick der Abgüsse von Opfern des Untergangs. Der Untergang selber ist gut dokumentiert, v. a. durch die Aufzeichnungen von Plinius d. J., der wiederum auf die Beobachtungen seines Onkels Plinius d. Ä. zurückgreift. Ein heftiges Erdbeben hatte schon Jahre vorher (62 n. Chr.) den Ausbruch angekündigt. Teile der Stadt wurden zerstört, die Reichen zogen sich in ihre Landhäuser zurück und warteten dort die Instandsetzung ihrer Stadtpaläste ab. Im Oktober 79 n. Chr. kam es dann zu der Katastrophe, die nicht nur Pompeji, sondern auch die umliegenden Städte Stabiae, Herculaneum und Oplontis zerstörte. Pompeji wurde unter einer meterhohen Schicht kleinerer und größerer Gesteinsbrocken begraben, bevor ein pyroklastischer Strom alles Leben in Sekundenschnelle vernichtete.

Zuchtriegel bezeichnet sich selber als Archäologe „mit Schlagseite“, und tatsächlich geht er mit anderen Vorstellungen an die Archäologie heran als seine Vorgänger. Ein Ansatzpunkt ist folgender Gedanke: „Wenn wir als Gesellschaft in Denkmalschutz und Forschung investieren, was können Denkmalschutz und Forschung der Gesellschaft zurückgeben?“ Er sieht also die Archäologie in der Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Diese Auffassung setzt er um, indem er z. B. einen Theaterworkshop mit Jugendlichen aus problematischen Verhältnissen durchführen ließ, der mit der Aufführung von „Die Vögel“ von Aristophanes im Ruinentheater endete. Damit holt er nicht nur die Archäologie aus ihrem Elfenbeinturm heraus, sondern schafft zugleich eine Anbindung der Anwohner an „ihre“ Ausgrabungsstätte.
Damit zusammen hängt auch Zuchtriegels Überzeugung, die Fundstücke nicht im Museum zu präsentieren, sondern sie in ihrem Kontext zu belassen. Hier erweist sich Zuchtriegel als Anhänger der sog. Diskursanalyse von Michel Foucault, der darauf hinwies, dass jede Erkenntnis immer geprägt ist vom Forschenden selber, seinem Hintergrund, seiner Persönlichkeit, seinen Vorlieben etc. Dagegen ist es oft der Kontext eines Fundstückes, der genauere Erkenntnisse zulässt. Gleichzeitig befreit er aber damit die Ausgrabungsstätte von ihrer rein musealen Funktion und verleiht ihr Leben.
Und so wandert Gabriel Zuchtriegel in seinem Buch von einem Thema zum nächsten, und jedem Kapitel merkt man seine Begeisterung für seinen Beruf an. Er erzählt von neuen Ausgrabungen, und der Leser erfährt so von den weniger schönen Seiten der Stadt und der weniger privilegierten Bevölkerung: beengte Wohnverhältnisse, erdrückende Armut, „man aß Brot, und das war’s“, Lebensmittelknappheit. Zuchtriegel errechnet eine Zahl von 45.000 Einwohnern: eine übervölkerte Stadt, „ständig am Rand einer sozialen Katastrophe“. Diese Ausgrabung war für Zuchtriegel deshalb so außerordentlich, weil sie den „Seltenheitswert des Alltäglichen“ zeigte.
Andere Kapitel wenden sich der Verbindung von Kunst und Religion zu und der neuen monotheistischen Sekte des Christentums, andere der für unsere Begriffe wesentlich freizügigeren Sexualität, den Darstellungen von Hermaphroditen, der Bedeutung der griechischen Kunst für die Römer, dem Aufstieg des Gottes Dionysos, den Mysterienkulten, der Lage der Sklaven und der freigelassenen Sklaven, den Zusammenhang von Bild und Ritus, man liest Deutungsversuche von Fresken, quellenkritische Überlegungen und so fort – und immer belegt an Ausgrabungsfunden und mit Bildern illustriert (die man leider im Anhang nachschlagen muss).
Und damit beantwortet Zuchtriegel auch die Frage, die der Titel aufwirft: Worin liegt der Zauber eines Untergangs?
Die Ausgrabungen begannen 1748, und seitdem hält dieser Zauber an: eine erstarrte Stadt und eine vergangene Lebensweise wird wieder lebendig und wir tauchen ein in die Alltagswelt unserer Vorfahren. Erst der Untergang und das Vergessen ermöglichen „den Zauber des Wiederfindens und Bewahrens“. Es geht Zuchtriegel nicht darum, einen musealen Katalog zu erstellen, um damit eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abzuhaken. Dieses Vorgehen nennt er das „Sammlersyndrom“. Was Zuchtriegel will, ist etwas anderes. Ein antikes Kunstwerk ist für ihn nicht nur ein museales Objekt, sondern – frei nach Foucaults Diskurstheorie – es tritt mit uns in einen Dialog ein und sollte nicht nur rational, sondern auch emotional und in seiner Funktion erfasst werden. Zuchtriegel will, dass die Fundstücke und der Ort als Ganzes für den Betrachter lebendig werden und sein Innerstes ansprechen, ihn als Mitmenschen berühren. „Das Land der Griechen mit der Seele suchen“, nannte es Goethe.
Das Buch richtet sich daher dezidiert an Laien und spricht eine Sprache, die jeder versteht. Nichts steht der Verzauberung im Wege!

Bewertung vom 26.07.2023
Bergleuchten
Seemayer, Karin

Bergleuchten


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Der Bau des Gotthardtunnels war im ausgehenden 19. Jahrhundert eine aufsehenerregende Meisterleistung der Ingenieurskunst. Der Tunnel war konzipiert als doppelgleisiger Eisenbahntunnel, damals der längste Eisenbahntunnel der Welt, und nach wie vor verbindet er Göschenen in der Schweiz mit dem norditalienischen Airolo.

Karin Seemayer widmet sich diesem eigentlich eher spröden Thema und reichert es mit verschiedenen anderen Themenkomplexen an, sodass eine lebendige Geschichte entsteht. In erster Linie ist das eine Liebesgeschichte, die nach allerhand dramatischen Hindernissen und Ereignissen das erwartete Happy-End findet.

Daneben erfährt der Leser Interessantes über die Sozialstruktur des Dorfes Göschenen und dessen Veränderung durch die gewaltige Baumaßnahme und den damit verbundenen Zuzug von Arbeitern, die wegen ihrer Fremdheit misstrauisch beäugt wurden. Der Tunnelbau sorgt für innerdörfliche Verwerfungen v. a. bei der Gruppe der Fuhrwerker, die um ihr Überleben fürchten. Nicht jeder wagt den Sprung in die neue Zeit des Industrie-Zeitalters, und nicht jeder kann die veränderte Situation als Chance begreifen. Hier gelingen der Autorin sehr anschauliche Bilder, wenn sie z. B. die gefährliche Fahrt über den Gotthard-Pass mit seinen Haarnadelkehren und halsbrecherischen Brücken beschreibt und damit die Notwendigkeit eines Tunnelbaus verdeutlicht. Auch die Beschreibungen von Natur und Wetter sind eindringlich und lassen im Kopf des Lesers deutliche Bilder entstehen. Sie zeigen auch, dass die Autorin weiß, wovon sie spricht und diese Gegend ganz offensichtlich bereist hat.

Insgesamt besticht der Roman durch eine akribisch-genaue Recherche, sei es zur Einrichtung der Baustelle, den teils unmenschlichen Arbeitsbedingungen, zum Einsatz des neuen Sprengstoffs Dynamit und so fort. Die Autorin hat aber nicht den Ehrgeiz, ihr gesammeltes Wissen auszubreiten, sondern sie wählt aus. Damit hält sie den Roman in einer guten Balance und vermeidet eine Überfrachtung mit Sach-Informationen.

Überhaupt zeigt die Art und Weise, wie Sachinformationen vermittelt werden, großes erzählerisches Geschick. Hier gibt es keine Belehrungen des Lesers seitens einer Figur, keine hölzernen und damit unrealistischen Dialoge oder ähnliches. Stattdessen wird historisches und technisches Wissen immer über die Handlung transportiert und geschmeidig mit der Handlung verwoben.

Ich habe den Roman als Hörbuch gehört, eingelesen von Sandra Huller. Sandra Hullers Vorlesen macht das Zuhören zu einem Vergnügen. Bei diesem Roman kommt ihr zugute, dass sie Schweizerin ist. Daher liest sie die Dialoge mit dem besonderen Schweizer Zungenschlag, und so wirken die Dialoge sehr lebendig und authentisch, und die Figuren gewinnen zusätzliche Plastizität. Sehr gelungen!