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Klara

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Insgesamt 191 Bewertungen
Bewertung vom 03.10.2018
Blondel, Jean-Philippe

Ein Winter in Paris


ausgezeichnet

Ein alles veränderndes Ereignis
“Ein Winter in Paris“ von Jean-Philippe Blondel beginnt mit einer Art Prolog. Der Ich-Erzähle Victor findet bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub den Brief eines alten Mannes vor, der ihn in einer Fernsehsendung gesehen hat und seine Bücher liest. Dieser Brief versetzt ihn schlagartig zurück in die Vergangenheit. Victor hat nie vergessen, was 30 Jahre zuvor geschah. Um diese Geschichte geht es im Roman.
Der 19jährige Victor hat die Provinz verlassen und besucht im zweiten Jahr eine Vorbereitungsklasse, die ihm bei erfolgreichem Bestehen der Auswahlprüfung Zugang zum Studium an einer renommierten Universität verschaffen soll. Victor hat es wider Erwarten in die zweite Klasse geschafft, aber einen hohen Preis dafür bezahlt: Ein Jahr lang hat er in völliger Isolation verbissen gearbeitet. Er ist sichtlich anders als alle anderen, was ihn gewissermaßen unsichtbar macht. Victor stammt aus sehr einfachen Verhältnissen, und diesen Rückstand an Kultur und Lebensart holt keiner so schnell auf. Doch dann scheinen sich die Dinge zu ändern. Beim Rauchen in der Mittagspause lernt er den jungen Mathieu kennen, der wie er ein Außenseiter im Jahrgang unter ihm ist. Sie wechseln ein paar belanglose Sätze. Victor kann sich eine Freundschaft mit Mathieu vorstellen, doch dazu kommt es nicht mehr. Eines Tages begeht Mathieu in der Schule Selbstmord, weil er den Leistungsdruck und die Schikanen nicht länger erträgt. Alles ändert sich plötzlich für Victor. Alle interessieren sich für ihn, suchen seine Nähe, auch Pierre Lestaing, der Vater des Toten. Er erhofft sich von Victor Informationen über seinen Sohn und Aufschluss über die Gründe seines Selbstmords. Der verwaiste Pierre und Mathieu, der nie einen solchen Vater hatte, kommen sich immer näher, bis Mathieus Mutter der in ihren Augen kranken Beziehung ein Ende setzt. Victor hat inzwischen Abschied von der Idee einer akademischen Karriere genommen und wird Englischlehrer und Schriftsteller – genau wie der reale Autor Jean-Philippe Blondel.
Blondel erzählt die kurze, zumindest teilweise autobiografische Geschichte in beeindruckender Weise. Er berührt dabei Themen wie Freundschaft und Familie, die Schwierigkeit für einen jungen Menschen, sich außerhalb seines Milieus neu zu orientieren und den gnadenlosen Konkurrenzkampf um einen der wenigen Plätze an einer Elite-Universität. Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen. Es wird nicht mein letztes Buch von diesem Autor sein. “6 Uhr 41“ liegt schon bereit.

Bewertung vom 03.10.2018
Egan, Jennifer

Manhattan Beach


sehr gut

Das Verborgene unter der Oberfläche
Jennifer Egans neuer Roman „Manhattan Beach“ ist im New York der 30er und 40er Jahre angesiedelt. Die Menschen leben mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die junge Anna mit ihren Eltern Eddie und Agnes und der jüngeren behinderten Schwester. Als 11jähriges Mädchen begleitet sie ihren Vater eines Tages zu dem reichen Gangster Dexter Styles. Worin die Arbeit ihres Vaters für diesen Mann besteht, weiß das Kind nicht. Vier Jahre später verschwindet der Vater spurlos, und Agnes und ihre Töchter sind auf sich allein gestellt. Mit 19 arbeitet Anna in der Werft. Sie nimmt Messungen vor, möchte aber viel lieber eine Tauchausbildung machen und Kriegsschiffe in der Werft reparieren. Es dauert eine Weile, bis ihre Hartnäckigkeit zum Erfolg führt und man sie einstellt. Sie schließt Freundschaft mit einer jungen Frau, die sie in eine Bar mitnimmt. Dort sieht sie Dexter Styles wieder. Sie sucht Kontakt zu ihm, weil sie zu Recht vermutet, dass er etwas über den Verbleib ihres Vaters weiß. Dexter und Anna kommen sich näher.
„Manhattan Beach“ ist ein historischer Roman mit Krimielementen. Einerseits bekommt der Leser ein Bild vom Leben in der damaligen Zeit: den Lebensbedingungen der Menschen zu Kriegszeiten, der Stellung der Frau in der amerikanischen Gesellschaft und der Macht der Gangstersyndikate. Andererseits wollen Anna und der Leser wissen, was mit ihrem Vater passiert ist. Erzählt wird aus drei verschiedenen Perspektiven, der von Anna, Dexter und Eddie und auf wechselnden Zeitebenen. Wichtige Informationen hält die Autorin bis fast zum Schluss zurück. Auch dadurch wird Spannung aufgebaut, denn der Leser begreift nur allmählich, wie eng die drei Schicksale verknüpft sind und welche Geheimnisse die Protagonisten sorgsam verbergen.
Egan legt einen sehr interessanten Roman vor, der allerdings wegen der sehr detaillierten Beschreibung von Tauchgängen und der benötigten Tauchausrüstung etwas Geduld und Durchhaltevermögen erfordert. Mir hat das Buch gut gefallen.

Bewertung vom 09.09.2018
Lundberg, Sofia

Das rote Adressbuch


ausgezeichnet

Eine lange Reise durch Zeit und Raum
Doris Alm ist die Protagonistin in Sofia Lundbergs Debütroman “Das rote Adressbuch“. Sie ist 96 Jahre alt, schwach und krank. Deshalb hat sie einige Zeit vor Einsetzen der Handlung in der Erzählgegenwart begonnen, die Geschichte ihres Lebens anhand der Namen und Adressen von meist längst verstorbenen Menschen aufzuschreiben, die in ihrem Leben in irgendeiner Weise eine Rolle gespielt haben. Die Namen sind in ihrem roten Notizbuch aufgelistet, ein Geschenk ihres früh verstorbenen Vaters zu ihrem 10. Geburtstag. Doris möchte nicht, dass ihre Erinnerungen mit ihrem Tod verloren gehen. Sie will sie ihrer geliebten Großnichte Jenny hinterlassen, die mit ihrer Familie in den USA lebt. Jenny ist die Enkelin ihrer im Kindbett verstorbenen Schwester Agnes, Tochter der drogensüchtigen Elise, die ebenfalls schon lange nicht mehr lebt.
Doris´ bewegtes, fast ein Jahrhundert dauerndes Leben beginnt in den 20er Jahren Stockholm, führt sie als junges Mädchen im Dienst ihrer Arbeitgeberin nach Paris, wo sie bis zum Zweiten Weltkrieg als Model arbeiten wird, später in die USA, nach England und zurück nach Schweden. Ihr ganzes Leben lang wird sie versuchen, ihre große Liebe, den Amerikaner Allan Smith, wiederzufinden. Sie verlieren sich aus den Augen und können wie die zwei Königskinder nicht mehr zueinanderkommen, obwohl sie auch für Allan die Liebe seines Lebens ist.
Lundbergs Roman war zu Recht ein großer Erfolg. Die Geschichte ist wunderschön und ohne jeden Kitsch erzählt und berührt nicht zuletzt wegen ihrer Botschaft: Wahre Liebe stirbt nicht, sie übersteht Krieg und jahrzehntelange Trennung. Diese von der Autorin eindrucksvoll vermittelte Überzeugung versöhnt den Leser mit den vielen traurigen Ereignissen im Leben von Doris Alm. Ich habe diesen Roman gern gelesen und empfehle ihn ohne Einschränkung.

Bewertung vom 13.08.2018
Libaire, Jardine

Uns gehört die Nacht


gut

Welchen Preis hat die Liebe?
In Jardine Libaires Roman “Uns gehört die Nacht“ begegnen sich in New Haven zwei sehr verschiedene junge Menschen Anfang 20. Der Yale-Student Jamie Hyde ist der Nachkomme einer reichen Banker-Dynastie, die Halb-Puerto-Ricanerin Elise Perez stammt aus der South Bronx, hat keinen Schulabschluss und hat ihre Mutter, den kriminellen und gewalttätigen Partner der Mutter und die jüngeren Geschwister verlassen, um diesem von Alkohol, Drogen und Gewalt beherrschten Leben zu entkommen. Die Beiden verlieben sich ineinander, aber die superreiche Familie setzt von Anfang an alles daran, die Beziehung zu stören und zu beenden – sogar Jameys Mutter Tory, die als Schauspielerin ebenfalls keine standesgemäße Partie für Alex Hyde war und nie gesellschaftlich akzeptiert wurde. Jedoch lässt sie es sich auch nach der hässlichen Scheidung von Jameys Vater nicht nehmen, von Reichtum und Privilegien der Hydes zu profitieren.
Der Roman zeichnet die Entwicklung dieser zunächst nur obsessiven sexuellen Beziehung nach, die sich allmählich zu einer tiefen Liebe entwickelt. Die sexuell erfahrene Elise verführt den naiven, schüchternen Jamey, stellt aber fest, dass dieser sie nach dem Sex zu hassen scheint. Ihr Defizit an Bildung und ihre typischen Verhaltensweisen eines Mitglieds der unkultivierten Unterschicht stoßen ihn ab. “Uns gehört die Nacht“ beschreibt die Entwicklung dieser problematischen Liebe über einen Zeitraum von 1 ½ Jahren, von Januar 1986 bis Juni 1987. Es ist spannend zu lesen, wie Jamey versucht, sich aus dem Klammergriff seiner Familie zu befreien und schließlich mit Elises Hilfe um sein Überleben kämpft. Ist er willens und in der Lage, alle Brücken hinter sich abzubrechen und mit Elise einen Neuanfang zu wagen?
Teilweise berührt diese Geschichte, sie ist aber streckenweise auch brutal und grausam, die Sprache mal poetisch, dann wieder überaus derb, zum Beispiel in der expliziten Beschreibung von Sexszenen. Das Buch ist nicht uninteressant, aber insgesamt bin ich doch ein bisschen enttäuscht.

Bewertung vom 30.07.2018
Lemaître, Pierre

Opfer


ausgezeichnet

Kommissar Camille Verhoeven ermittelt
Pierre Lemaitre hat die Trilogie um Kommissar Camille Verhoeven vor den Romanen geschrieben, die ihn auch bei uns berühmt gemacht haben: “Wir sehen uns dort oben“ und “Drei Tage und ein Leben“. “Opfer“ erschien schon im Jahr 2012 unter dem Titel “Sacrifices“. Es ist der dritte Band der Reihe. Hier geht es um einen Raubüberfall auf einen Juwelierladen in Paris. Anne Forestier, eine gutaussehende, etwa 40jährige Frau wird Zeugin und Opfer dieser Straftat. Die Täter gehen mit äußerster Brutalität vor und verletzen die Frau schwer. Anne Forestier überlebt, ist aber dennoch nicht außer Gefahr, weil einer der Täter sie immer wieder aufspürt und bedroht. Das Besondere an der Situation ist, dass Anne Forestier seit einigen Monaten die Freundin des Kommissars ist. Verhoeven dürfte wegen seiner engen Beziehung zum Opfer den Fall gar nicht übernehmen, aber er ist nicht bereit zurückzutreten, zumal er schon einmal ins Visier von Verbrechern geraten ist, die vier Jahre zuvor seine Frau Irene ermordet haben.
Der Roman umfasst eine Zeitspanne von drei Tagen, die durch Zeitangaben untergliedert werden. Erzählt wird aus drei verschiedenen Perspektiven – der von Anne, Camille und außerdem aus der Sicht des Gangsters, dessen Identität erst ganz zum Schluss enthüllt wird. Die Dinge entwickeln sich sehr schnell und Verhoeven wird zeitweise unwissentlich zum Handlanger der Gangster, bis er allmählich begreift, wie alles zusammenhängt und wer wirklich hinter dem rabiaten Überfall steht. Unter Missachtung aller Regeln lügt und betrügt der Kommissar sogar seine Freunde bei der Pariser Polizei und nimmt dabei bewusst das Ende seiner Karriere in Kauf.
Lemaitre lässt den Leser in dieser Geschichte in menschliche Abgründe blicken und schont ihn nicht, was die explizite Darstellung von Gewalt betrifft. Das ist im Übrigen typisch für den Autor, in dessen Büchern immer wieder brutale Szenen vorkommen, erstaunlicherweise begleitet von Humor und witzigen Dialogen. Dadurch wird unter Umständen das Entsetzen des Lesers ein wenig gemildert. Mir hat dieser spannende Roman Noir sehr gut gefallen. “Opfer“ wird sicherlich nicht mein letztes Buch dieses Autors sein.

Bewertung vom 15.07.2018
Seitz, Erwin

Naturnahes Kochen - einfach, gut, gesund


gut

Wie naturnah und gesund sind Blutwurst und Schokolade?
In seinem Buch “Naturnahes Kochen – einfach, gut, gesund“ kombiniert der Gourmetkritiker und gelernte Koch Erwin Seitz eine gut informierte Warenkunde mit einem Rezeptteil von 24 Rezepten. Nach meinem Empfinden wecken Buchbeschreibung und Titel beim Leser falsche Erwartungen. Längst nicht alle Zutaten sind gesund, naturnah oder saisonal, zum Beispiel Blutwurst, Bratwurst oder Schokolade. Es mag sein, dass die gut erklärte Zubereitung nur 30 Minuten dauert, aber was ist mit der Beschaffung der teils ungewöhnlichen Lebensmittel? Saibling gibt es bestimmt nicht an der nächsten Ecke. Von daher kommen einige der Gerichte für Berufstätige von vornherein nicht in Frage. Ich hätte mir wesentlich mehr Rezepte mit leicht zu beschaffenden frischen und kostengünstigen Zutaten gewünscht.
An der Optik des Bandes ist nichts auszusetzen. Ich habe auch nichts gegen einen Zugewinn an Wissen in der Warenkunde, aber ich sehe in dem Band eher eine Ergänzung meiner Kochbuchbibliothek und nicht einen Ersatz für bewährte Standardwerke.

Bewertung vom 15.04.2018
Ng, Celeste

Kleine Feuer überall


sehr gut

Die zerstörerische Macht von Geheimnissen
Mit “Kleine Feuer überall“ legt Celeste ihren zweiten Roman vor. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Bill und Elena Richardson mit ihren vier halbwüchsigen Kindern. Sie leben in einem Haus in Shaker Heights, einem reichen Vorort von Cleveland, Ohio. Sie besitzen ein zweites Haus im Ort, in dem eine Wohnung an die alleinerziehende Künstlerin Mia Warren und ihre Tochter Pearl vermietet ist. Eines Tages brennen im Haus der Richardsons kleine Feuer in sechs Schlafzimmern. Elena steht fassungslos mit drei ihrer Kinder vor dem Haus, während die Feuerwehr versucht, die Brände zu löschen. Izzy, die jüngste und als verhaltensauffällig bekannte Tochter ist unauffindbar. Am Vortag verschwanden auch Mia und ihre Tochter, ohne sich zu verabschieden. Wer hat die Brände gelegt und warum?

Ein zweiter Konflikt bewegt die Bewohner von Shaker Heights, wo alles geregelt ist und normalerweise nichts Außergewöhnliches passiert. Eine arme Chinesin und ein reiches, adoptionswilliges Ehepaar streiten um ein Baby. Die Chinesin will ihr Kind zurückhaben, das Ehepaar und viele Menschen im Ort meinen, sie hätte ihre Rechte verwirkt, als sie das Kind in ihrer Not aussetzte. Mia und Elena stehen in diesem Konflikt auf entgegengesetzten Seiten. Hat Mia, eine Kollegin der Chinesin im China-Restaurant, verborgene Gründe für ihre Parteinahme? Elena beginnt, die Vergangenheit ihrer Mieterin zu erforschen und deckt eine Menge Geheimnisse auf. Elena fühlt sich durch Mias unkonventionelle Lebensweise bedroht und versucht, ihre Familie zu schützen – ein fataler Schritt.

Ngs Roman behandelt zahlreiche Themen: Mutterschaft und Familie, vor allem die Beziehung von Müttern und Töchtern, Kunst und Leben, Klasse, Privilegien und vor allem Rasse. Die Frage, ob reiche weiße Adoptiveltern ein chinesisches Kind seiner Kultur entfremden dürfen, wird ausführlich behandelt und unterschiedlich beantwortet. Elenas älteste Tochter Lexie mit ihrem farbigen Freund Brian schätzt sich glücklich, in einer Zeit und an einem Ort zu leben, wo Rassenzugehörigkeit keine Rolle mehr spielt. Der in den 90er Jahren angesiedelte Roman zeigt den naiven Glauben an ein besseres Amerika ohne Rassismus. Angesichts von Donald Trumps Präsidentschaft und der Existenz von Bewegungen wie Black Lives Matter ist dieser Glaube utopisch.

Trotz einiger Längen und generell relativer Handlungsarmut hat mir der Roman gefallen, vor allem wegen der gelungenen Charakterisierung der weiblichen Protagonisten und der sprachlichen Qualität.

Bewertung vom 30.03.2018
Leyshon, Nell

Die Farbe von Milch (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein Leben unter männlicher Dominanz
Im Jahr 1830 ist Mary knapp 15 Jahre alt. Sie ist die jüngste von vier Töchtern einer bettelarmen Bauernfamilie. Die Eltern und ihre vier Töchter arbeiten sich fast zu Tode – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Vater, ein gewalttätiger Grobian, kommt nicht darüber hinweg, dass er keine Söhne hat, die ein größeres Arbeitspensum schaffen, zumal Mary ein verwachsenes Bein hat und auch deshalb keine vollwertige Arbeitskraft ist. In der Familie lebt noch der nach einem Arbeitsunfall verkrüppelte Großvater, der sich immer wieder anhören muss, dass er ein nutzloser Esser ist. Zu ihm hat die junge Mary ein gutes Verhältnis. In dieser Familie gibt es ansonsten nur Arbeit, keine Liebe, kein Glück und das alles ohne Hoffnung auf Besserung.

Eines Tages überlässt der Vater seine jüngste Tochter gegen Bezahlung dem Pfarrer, der Hilfe bei der Betreuung seiner kranken Frau braucht. Auch hier muss Mary unter der Aufsicht der 32jährigen Haushälterin Edna sehr viel arbeiten, obwohl die Arbeit körperlich nicht so anstrengend ist wie auf der Farm. Obwohl Mary jetzt materiell in besseren Verhältnissen lebt – sie hat ein eigenes Bett und bekommt genug zu essen – sind auch in diesem Haus die Menschen nicht glücklich. Der arrogante, verantwortungslose Pfarrerssohn Ralph macht sich an jede Frau in seiner Nähe heran und kann sein Elternhaus für sein Studium gar nicht schnell genug verlassen, womit er seiner todkranken Mutter das Herz bricht. Mary hat Heimweh nach der nur eine halbe Meile entfernten Farm und dem Großvater, darf aber monatelang das Pfarrhaus nicht verlassen. Nach dem Tod der Pfarrersfrau muss Edna gehen, während Mary bleibt. Sie hat längst verstanden, dass sie ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht hat. Es gibt für sie keine Entscheidungsfreiheit und keine Befreiung von männlicher Dominanz. Ihr Arbeitgeber nimmt ihr die Freiheit genauso wie ihr Vater.

Als der Pfarrer der intelligenten jungen Frau mit Hilfe der Bibel das Lesen und Schreiben beibringt, sieht Mary einen möglichen Ausweg aus ihrer Situation. Doch sie zahlt einen hohen Preis dafür. Die Katastrophe ist unausweichlich. Sie, die nie eine Wahl hatte, trifft am Ende ihres Berichts eine einzige Entscheidung, die sie befreit.

Die Autorin hat mit Mary eine Protagonistin mit einer unverwechselbaren Stimme geschaffen, die mit Hilfe ihrer neu erlernten Fähigkeiten über das entscheidende Jahr in ihrem Leben berichtet: 1830-31. Mary ist zwar ungebildet, aber intelligent mit schneller Auffassungsgabe, dazu sehr direkt, was ihr immer wieder Ärger und Prügel einbringt. Ich-Erzählerin Mary bekommt in diesem schlanken Bändchen einen eigenen Stil – fast ohne Großbuchstaben und ohne Anführungszeichen für Zitate, ohne Kommata. Satzbau und Grammatik sind fehlerhaft, aber ihre Sprache wirkt sehr authentisch. Sie lebt ein Leben, in dem Gefühle nicht zählen und erst recht nicht ausgedrückt werden können, aber in großer Nähe zur Natur und den Tieren auf der Farm, besonders zu der Kuh, die ihr Wärme spendet. Eindrucksvoll ist die Szene, als sie am Ostersonntag einen Hügel besteigt, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. “Die Farbe von Milch“ beschreibt das Schicksals eines jungen Mädchens, aber macht dem heutigen Leser auch deutlich, wie Klassenzugehörigkeit vor 200 Jahren über Lebenschancen entschied. Ein sehr empfehlenswertes Buch.

Bewertung vom 25.02.2018
Zijl, Annejet van der

Die amerikanische Prinzessin


ausgezeichnet

Die Geschichte einer faszinierenden Frau
Die promovierte niederländische Historikern und hochgelobte Autorin von Sachbüchern Annejet van der Zijl zeichnet in “Die amerikanische Prinzessin“ das Leben der Amerikanerin Allene Tew nach. Allene wurde 1872 in der amerikanischen Provinz als Spross einer sehr tatkräftigen Pionierfamilie geboren, die es innerhalb von zwei Generationen zu wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftlichem Ansehen gebracht hatte. Mit 18 verliebte sie sich in den reichen Erben Tod Hostetter und wurde schwanger. Das Paar heiratete, aber Allene wurde wegen dieser Mesalliance viele Jahre lang gesellschaftlich ausgegrenzt. Ihre drei Kinder aus dieser Ehe starben alle früh. Sie heiratete danach noch viermal, aber nur ihre dritte Ehe war glücklich. Als Alson Burchard 1927 starb, verlor sie auch noch die Liebe ihres Lebens. Allene Tew war inzwischen eine schwerreiche Frau, an ein Leben in unvorstellbarem Luxus gewöhnt. Sie reiste viel und besaß zahlreiche Immobilien in den USA und Europa. Als sie sich - gerade Witwe geworden - mit Mitte 50 nach Europa einschiffte, um dort ein neues Leben zu beginnen, sah sie nicht nur noch gut aus, sondern war auch in finanzieller Hinsicht eine gute Partie. Da ist es nicht verwunderlich, dass es Heiratskandidaten im verarmten europäischen Adel für sie gab. In vierter Ehe heiratete sie Prinz Reuß, in fünfter Ehe den russischen Grafen Paul Kotzebue. Über ihren Schützling Prinz Bernhard kam eine Verbindung zum holländischen Königshaus zustande, so dass sie später ohne verwandtschaftliche Beziehungen zur Patentante von Prinzessin Beatrix wurde. Den Leser fasziniert dieses außergewöhnliche Leben vor allem wegen der Persönlichkeit der Allene Tew. Sie musste viele Schicksalsschläge verkraften und machte dennoch unbeirrt weiter. Sie besaß großen Mut und eine enorme Willensstärke, die es ihr erlaubten, nicht zu klagen oder zu trauern, sondern stets nach vorn zu blicken. Der Autorin gelingt ein interessantes, sehr lesbares Buch, das das Leben einer völlig unbekannten Frau vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund nachzeichnet. Die Darstellung der Zeitspanne von Allenes Leben (1872-1955) macht die Biografie dadurch gleichzeitig zum Geschichtsbuch.

Mir hat “Die amerikanische Prinzessin“ sehr gut gefallen, und ich empfehle das Buch ohne Einschränkung.

Bewertung vom 07.01.2018
Reid, Iain

The Ending - Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum


gut

Was geschieht wirklich?
Der kanadische Autor Iain Reid legt mit “The Ending“ nach zwei sehr erfolgreichen Sachbüchern sein Romandebüt vor. Der deutsche Leser nimmt das Buch unter dem Eindruck von überschwänglichem Lob und reichlich Vorschusslorbeeren zur Hand und bekommt nicht genau das, was er erwartet.

Jake und seine Freundin sind in der Weite Kanadas unterwegs zur alten Farm der Eltern des Mannes. Sie kennen sich erst wenige Wochen, und es sieht nicht besonders gut aus für die Beziehung, wie schon der erste Satz des Romans andeutet. “Ich trage mich mit dem Gedanken, Schluss zu machen“ äußert die namenlose Ich-Erzählerin und meint damit ihre Beziehung oder auch nicht. Während der Fahrt sprechen Jake und seine Freundin miteinander, aber sie sind nicht offen zueinander. Es entsteht eine Atmosphäre der Bedrohung und der Angst, die nach ihrer Ankunft auf der Farm und bei der Begegnung mit Jakes Eltern noch verstärkt wird. Das Paar fährt im Schneesturm noch am gleichen Abend zurück. Sie verhalten sich eigenartig, es passieren seltsame Dinge. Das kann kein gutes Ende nehmen. Dies ist dem Leser auch deshalb bewusst, weil zwischen den Abschnitten kursiv gesetzte Dialoge von zwei Unbekannten eingeblendet sind, die von einem Toten sprechen. Wer das ist und warum dieser Tote für Jake und seine Freundin von Bedeutung ist, erfahren wir zunächst nicht.

Die Auflösung erwartet der Leser so nicht und reagiert zunächst verwirrt. Man hat das Gefühl, man müsste das Buch noch einmal lesen, um es besser zu verstehen, weil vielleicht übersehene Details eine schlüssige Erklärung liefern könnten. Auf jeden Fall bleibt der Eindruck, dass es dem Autor gelingt, mittels der Sprache eine immer bedrohlicher wirkende Atmosphäre zu schaffen und damit bei der Protagonistin und beim Leser diffuse Ängste zu erzeugen. Das Buch liest sich nicht schlecht, aber wirklich überzeugt hat es mich nicht.