Benutzer
Benutzername: 
Bücherbummler

Bewertungen

Insgesamt 133 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2021
Sok-Yong, Hwang

Vertraute Welt


gut

Glubschaug ist dreizehn, als sein Vater ins Gefängnis kommt und er mit seiner Mutter auf die Blumeninsel zieht, eine riesige Müllhalde am Rande Seouls, wo die beiden, dank der Hilfe eines Freundes des Vaters, als Müllsortierer eine Stelle finden. Glubschaugs Mutter beginnt bald eine Beziehung mit diesem Freund, während Glubschaug selbst sich mit dessen jüngeren Sohn Glatzfleck anfreundet. Glatzfleck gilt allgemein als schwachsinnig, aber es wird schnell klar, dass in ihm mehr steckt, als ihm zugetraut wird. Er zeigt Glubschaug nicht nur einen Unterschlupf, das „Hauptquartier“, in dem einige Söhne der Müllsortierer ihre gefundenen Essensrationen teilen und sich zurückziehen können, wenn Gestank und Elend ihnen zu viel wird, sondern macht ihn auch mit dem „Höker-Opa“ und „Schrumpels Mama“ bekannt, Vater und Tochter, die etwas abseits der Halde wohnen und sich um die streunenden Hunde der Insel kümmern. Vor allem kann Glatzfleck aber die blauen Lichter sehen, die Geister der Familie Kim, die in einer Parallwelt weiter ihren Bauernhof auf der Blumeninsel bewirtschaften.
Gemeinsam schaffen die Jungen es, sich eine halbwegs erträgliche Existenz aufzubauen. Aber das Leben auf der Halde ist gefährlich, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kommen muss.

Hwang Sok-yong ist einer der bekanntesten Schriftsteller Südkoreas und vor allem dafür bekannt, sich kritisch sowohl mit der Geschichte, als auch der sozialen Gegenwart seines Landes auseinanderzusetzen. Für mich war es meine erste Begegnung mit ihm, und einem Südkorea, dass ich so nicht kannte. Wenn ich an dieses Land denke, habe ich vor allem einen modernen Staat vor Augen, denke an Skylines, technische Entwicklung, eine Leistungsgesellschaft, für die vor allem der Fortschritt zählt. „Vertraute Welt“ zeichnet ein anderes Bild, und doch eins, das man hätte erwarten können: die Kehrseite der Medaille. Hier ist der Fokus auf dem, was hinten runter fällt und unten bleibt, wenn alle versuchen, nach oben zu kommen. Hwang Sok-yong zeichnet hier eine intensive Kritik an der modernen Wegwerfgesellschaft, die auch vor Menschen nicht halt macht, und obwohl das Wissen um Slums und Armut nicht neu ist, hat sich mir dieses Bild tief eingeprägt und mich neu erschüttert.

Trotzdem habe ich einen großen Kritikpunkt an diesem Roman, der mir das Lesevergnügen beträchtlich verringert hat: die Übersetzung. Ich kann kein Koreanisch und habe deswegen keine Möglichkeit, zu beurteilen, wie nah der deutsche Text an dem Original dran ist, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Hwang Sok-yong dermaßen verstaubt und sperrig schreibt. Ich bin teilweise auf Begriffe gestoßen, die, übertrieben ausgedrückt, Goethe vielleicht noch als zeitgemäß, wenn auch nicht unbedingt als literarisch wertvoll empfunden hätte. Bei allem Respekt vor der harten Arbeit eines Übersetzers ist es mir ein Rätsel, was hier passiert ist, und warum das Lektorat nicht eingegriffen hat. Meines Wissens wurden andere Werke des Autors von anderen Übersetzern ins Deutsche übertragen, und ich hoffe, mir in naher Zukunft ansehen zu können, wie sie mit seinen Texten umgegangen sind. Bis dahin kann ich nur mit Bedauern festhalten, dass ich dem Roman zwar Leser wünsche, aber vor allem eine Überarbeitung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2021
Gessen, Keith

Ein schreckliches Land


gut

Andrej hat gerade sein Slawistikstudium abgeschlossen und arbeitet in erster Linie online als Literaturdozent, als sein Bruder Dima aus Russland anruft, und ihn bittet, nach Moskau zu kommen und für ihn die Betreuung der schon leicht dementen Großmutter auf unbestimmte Zeit zu übernehmen. Andrej, der als Kind mit Bruder und Eltern in die USA ausgewandert und dort aufgewachsen ist, zögert nicht lange. Er fühlt sich seiner alten Heimat, die er von Besuchen bei den Großeltern und dem fast ausschließlich russischem Umfeld, in dem sich seine Eltern in den Staaten bewegen, verbunden, und hofft, vor Ort ein Projekt zu finden, dass ihn beruflich voran bringt.

In Moskau muss Andrej schnell feststellen, dass er doch ein Fremder in dem Land ist, dass er immer auch als das seine betrachtet hat. Aber er akklimatisiert sich schnell, findet Freunde, verliebt sich und schließt sich einer Gruppe an, die sich mit dem Kommunismus beschäftigt und Demonstrationen und Protestaktionen organisiert. Alles scheint gut zu laufen, bis es zu einem Zwischenfall kommt, in dem Andrejs Verhalten dann doch beweist, dass er die Spielregeln dieses „schrecklichen Landes“ nicht so gut kennt, wie er gerne glauben würde, und dadurch eine Katastrophe auslöst.

Wenn man Russen fragt, was sie glauben, wie der russische Stereotyp im Ausland aussieht, fallen in der Regel als erstes die Worte Wodka, Balalaika und Bären. Auf Balalaikas und Bären verzichtet Keith Gessen in seinem Roman „Ein schreckliches Land“, aber um den Wodka kommt auch er nicht herum, wenn er uns in den postsowjetischen Staat führt, der vor allem von Kapitalismus und Korruption beherrscht zu sein scheint. Wie sein Protagonist Andrej ist auch Gessen in Russland geboren und im alter von sechs mit seinen Eltern in die Staaten ausgewandert. Autobiographische Züge kann man also nicht ausschließen, aber wo die Grenze verläuft, bleibt unklar.

Weniger unklar ist, dass sich Gessens Buch über lange Strecken nicht wie ein Roman, sondern wie ein Reisebericht liest. Ein Reisebericht von jemandem, der zwar etwas zu erzählen hat, das literarische Handwerk aber nicht wirklich beherrscht, was das Lesevergnügen merklich trübt. Genauso wie seine sinnlos erscheinenden Exkursionen in für die Geschichte irrelevante Themen wie zum Beispiel die Kunst des Eishockeyspielens oder die Chancen auf eine akademische Karriere in den Staaten. Auf mich wirkten diese Passagen, als hätte der Autor sich Themen, die ihm am Herzen liegen, einfach hingegeben, ohne Rücksicht auf den Geschichtsverlauf und die Ausgewogenheit zu nehmen.

Damit bin ich mit meinen Kritikpunkten leider noch nicht am Ende, denn auch die Gestaltung der Charaktere ist Gessen nicht wirklich gelungen. Seine Figuren bleiben farblos und weitestgehend austauschbar, Andrej wirkt auf mich eher wie ein Spätpubertierender, als ein junger Mann Anfang dreißig, der sich über seine kulturelle Zugehörigkeit klarzuwerden versucht. Mein einziger Lichtblick bleibt die Großmutter, vielleicht auch, weil ich in ihr meinen Stereotyp einer typischen Russin wiedergefunden habe. Die Passagen mit ihr waren so liebenswert und herzergreifend, dass sie mich mit dem Roman ein wenig ausgesöhnt haben.

Alles in allem für mich ein eher schwaches Buch, das sich aber immerhin leicht lesen lässt und einem einen Einblick in ein Russland gewährt, was jenseits romantischer Datschen zwischen Birkenbäumen und Volkslieder singender Babuschkas liegt. Und vielleicht ist es auch gerade das, was ich dem Autor verübel und was es für andere Leser zu einer gelungenen Lektüre machen könnte.

Bewertung vom 06.08.2021
Erdrich, Louise

Der Nachtwächter


ausgezeichnet

1953 in den USA. Der Staat hat gerade die Umsetzung des „Termination Acts“ beschlossen, eines Gesetzes, das die Verwaltung die Reservate der amerikanischen Ureinwohner durch die Regierung aufheben, und erstere den anderen US-Bürgern gleichstellen soll. In der Konsequenz würde das die Aufhebung der Rechte auf die Nutzung der ihnen zugesprochenen Ländereien und den Entzug der Lebensgrundlagen bedeuten. Das Turtle Mountain Reservat der Chippewa ist eins der ersten, die diesem neuen Gesetz zum Opfer fallen soll. Hier lebt Thomas Wazhashk (als dessen Vorbild Louise Erdrichs Großvater gedient hat), der als Nachtwächter in der örtlichen Lagersteinfabrik arbeitet und sich bei Tag für die Rechte seines Stammes einsetzt, unermüdlich Anfragen, Einsprüche und Bittbriefe verfasst und schließlich maßgeblich an der Bildung eines Komitees beteiligt ist, dass sich mit den zuständigen Politikern trifft, um das Gesetz zu verhindern.
Auch seine Nichte Patrice arbeitet in der Fabrik, um ihre Mutter und ihren kleinen Bruder finanziell zu unterstützen. Der Vater ist ein Trinker, der für den Alkohol seine eigene Familie bestiehlt und zu Handgreiflichkeiten neigt. Die ältere Schwester ist vor Monaten schwanger mit dem Kindsvater nach Minneapolis gegangen, seitdem ist der Kontakt zu ihr abgebrochen, die junge Frau verschwunden. Patrice beschließt, ihr nachzureisen, um sie und das Kind nach Hause zu bringen.

Für mich war „Der Nachtwächter“ nach „Liebeszauber“ der zweite Roman von Louise Erdrich. Und er hat mir noch ein wenig besser gefallen, als letzterer. Erdrich ist eine Meisterin im kreieren von Charakteren, im Erschaffen einer Welt, die so greifbar und lebendig wird, dass man meint, Orte und Personen persönlich zu kennen. Gleichzeitig präsentiert sie eine große Bandbreite an verschiedenen Schicksalen, ohne diese groß aufzuarbeiten oder zu kommentieren, ein subtiler Weg, den Leser in erster Linie über das Erfühlen der Atmosphäre zum Nachdenken anzuregen, die ich beachtlich fand. Gut gefallen hat mir auch die Einarbeitung mystischer Elemente, die so differenziert und natürlich ist, dass man sie kaum in Frage stellt, sondern als festen Teil des Lebens der Chippewa begreift.

Was ich nicht wirklich nachempfinden konnte, war die einzigartige Rolle, die Thomas im Kampf gegen das Terminierungsgesetzes im Covertext zugesprochen wird. Er setzt sich ein, er hat eine führende Rolle, aber die Rettung eines Dorfes durch einen einzigen Mann habe ich nicht wirklich gesehen, eher das Werk einer Gemeinschaft. Auch waren mir ab und an die Zufälle, die zum Treffen verschiedener Figuren an unwahrscheinlichen Orten geführt haben, etwas zu unwahrscheinlich. Fragwürdig, aber akzeptabel.

2021 hat „Der Nachtwächter“ den Pulitzer Preis gewonnen, meiner Meinung nach verdient. Nicht nur wegen seiner literarischen Stärke, sondern auch, weil er sich einem Thema widmet, dass in unserer Zeit zwischen #metoo, #blacklivesmatter und den LGBTQ-Bewegungen – jedes, ohne Frage, ein sehr wichtiges Thema – ein wenig unterzugehen zu scheint. Die Lage der amerikanischen Ureinwohner ist nach wie vor vielerorts fatal und ihre Geschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Ich empfehle dieses Buch gerne weiter.