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Miro76
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Österreich

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Insgesamt 170 Bewertungen
Bewertung vom 27.03.2022
Jamalzadeh, Elyas;Hepp, Andreas

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten


ausgezeichnet

Elyas Jamalzadeh erzählt uns seine Geschichte. Bereits im Exil geboren holt er etwas weiter aus und beginnt sein Buch 2 Kapitel vor seiner Geburt. Seine Eltern waren schon damals von den Taliban bedroht und ihr Haus wurde in die Luft gejagt. Sie entschieden sich, in den Iran zu flüchten, wo Elyas ds Licht der Welt erblickte.

Als Flüchtling im Iran hat man keine Rechte. Man darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen und zahlt für alles circa das Dreifache. Kaum vorstellbar, so ein Leben! Und immer, aber wirklich immer muss man auf den Hut vor der Polizei sein, denn man kann jederzeit nach Afghanistan abgeschoben werden. Ein Land, das angeblich Elyas Heimatland ist, das er aber noch nie betreten hatte.

Es kommt wie es kommen musste und Elyas wird aufgegriffen und in ein Abschiebezentrum gebracht. Zum Glück hat er Hilfe, aber der Druck wird größter und die Familie entschließt sich, weiter zu fliehen.

Der lange Weg nach Europa, den bereits zwei Brüder geschafft haben, ist für Elyas und seine Eltern eine wahre tour de force. Die Eltern sind nicht so fit und die Abschnitte, die zu Fuss bewältigt werden müssen, bringen sie immer wieder an ihre Grenzen und darüber hinaus.

Was auf dem Weg passiert, kennen wir teilweise. Der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, die "Games" - also die Versuche - immer wieder eine Grenze zu übertreten und das ewige Festsitzen an Orten, die wir eigentlich gar nicht sehen möchte. Vieles ist aus den Nachrichten bekannt, doch Elyas erzählt das so unmittelbar und sein Freund Andreas Hepp hat seine Sprache in geschriebenes Wort übertragen. Beim Lesen hat man das Gefühl, man sitzt mit den beiden irgendwo am Lagerfeuer und lauscht den unglaublichen Geschichten einer Reise.

Elyas erzählt mit einer großen Menge Humor, der stellenweise so schwarz ist, das mir als Leserin, das Lachen im Hals stecken bleiben muss. Elyas scheint ein grenzenloser Optimist zu sein, der noch dem übelsten Ereignis irgendwas Gutes abgewinnen kann. Er verliert nie den Mut und das macht ihn zu einem ganz besonderen Menschen!

Seine Geschichte steckt voller Hoffnung und Zuversicht auch in den schwärzesten Momenten. Das macht seine Erzählung zu etwas ganz speziellem, gibt uns Einblick in sein Leben und erweitert unseren Horizont.

Ich wünsche diesem Buch ganz viele Leser*innen, die vielleicht auch Mut aus seinem Schicksal schöpfen können. Und ich wünsche Elyas alles Gute auf seinem weitern Weg in seinem neuen Heimatland!

Bewertung vom 23.03.2022
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Hüseyin ist in den 70er Jahren nach Deutschland gegangen, zum Geld verdienen. Im Hinterland der Türkei ist sein Auskommen nicht mehr gesichert. Seine Familie holt er nach acht Jahren nach.

Sein Leben war geprägt durch harte Arbeit und Sparen, denn einen Traum wollte er sich erfüllen: eine großzügige Wohnung für die Familie in Istanbul, wo er seinen Lebensabend verbringen will.

Als die Zeit gekommen ist, reist er allein in die Stadt, um die Wohnung einzurichten. Alles soll schön sein, wenn er seiner Frau Emine seinen Traum zeigen kann. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt an einem Herzinfarkt nach der ersten Nacht im neuen Domizil.

Der Schock sitzt tief bei den Angehörigen, die sich schnellstmöglich auf den Weg in die Türkei machen. Die beiden jüngsten Kinder und Emine fliegen sofort. Die älteste Tochter verpasst ihren Flug und der älteste Sohn reist mit dem Auto an.

Und dann kommen die Kinder zu Wort. Alle mit ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Dschinns.

Fatma Aydemir hat in die Geschichten der Kinder extrem viele Themen untergebracht. Gender und Identität sind die Hauptthemen, aber es geht auch um Rassismus, Traditionen, Selbstmord und Kindererziehung. Was alles durchzieht ist das Schweigen in der Familie, das alles zusammenhält, aber auch alles trennt. Die Sprachlosigkeit geht so weit, dass die Kinder nicht einmal wissen, dass sie eigentlich Kurden sind und keine Türken.

Spannend ist außerdem der Aufbau des Romans. Hüseyin wird direkt angesprochen bei seinem endgültigen Drama, welches so unglaublich traurig ist. Es spricht viel Liebe aus ihm, die sich in der übrigen Familie kaum wiederfindet. Beginnend mit dem jüngsten Kind baut sich dann ein Bild der Familie auf, das immer mehr Tiefe gewinnt und immer mehr Geheimnisse birgt. Vieles scheint in dieser Familie schief zu laufen. Die Ursache dafür erfahren wir erst ganz zum Schluss, wenn die Mutter zu Wort kommt.

Gut gefallen hat mir außerdem, wie sich die Sprache der jeweiligen Person anpasst. Ümit ist noch sehr jung, seine Geschichte ist in einfacher, moderner Sprache gehalten. Sevda hatte es am schwersten und wurde vielleicht am wenigsten geliebt. Ihre Geschichte ist etwas distanzierter geschrieben. Peri hat durch Bildung alle kulturellen Barrieren überwunden. Ihre Teil ist reflektierter und Haken ist der junge Wilde, sein Part hetzt nur so dahin.

Fatma Aydemir hat hier viele Klischees eingebaut, um sie gleichzeitig wider aufzubrechen. Niemand ist nur gut und nur böse, niemand hat es einfach nur leicht und niemand ist nur Opfer der Umstände.

Das Ende ist vielleicht etwas überspitzt, aber nach ein bisschen drüber nachdenken hat mich das dann doch nicht gestört. Irgendwie ist es passend, wird hier aber natürlich nicht verraten. Wer es wissen möchte, muss das Buch schon lesen. Ich verspreche, es bietet tiefe Einblicke in die türkische Kultur, in die Sorgen und Nöte migrierter Menschen und der 2. Generation.

Es wird auf jeden Fall den Horizont der Leser*innen erweitern!

Bewertung vom 12.03.2022
Mishani, Dror

Vertrauen


weniger gut

Ein ausgesetztes Baby, eine unzuverlässige Verdächtige, ein Vermisster in einem Hotel und ein Toter aus dem Meer.

Das ist die Ausgangslage für Avi Avrahams Ermittlungsteam. In beiden Fällen gibt es schnell Anhaltspunkte in welche Richtung die Aufklärung verlaufen muss. Doch in dem einen Fall ändert die zwingend Tatverdächtige ständig ihre Aussage, um in die Irre zu führen. Sie ist extrem unsympathisch, manipulativ und ziemlich dominant. Sie hält sich für unbesiegbar und scheint einen Plan zu verfolgen, der dann aber nirgendwo hinführt.

In dem anderen Fall, fliegen dem Inspektor die Beweise nur zu in die Hände, sodass er an deren Richtigkeit zweifeln muss. Es ist nicht mehr klar, wem er hier vertrauen kann.

Die angebliche Verbindung zwischen den beiden Fällen ist leider sehr mager. Beide Spuren führen nach Paris, bleiben aber völlig unabhängig voneinander.

Außerdem fand ich die Erzählweise sehr anstrengend. Die ersten 100 Seiten sind so verwirrend und mysteriös, dass man kaum Zusammenhänge erkennen kann. Das soll wohl Spannung aufbauen, hat bei mir aber das Gegenteil erreicht. Es war so undurchsichtig, dass es mich eher gelangweilt hat. Als alles klarer wurde, habe ich ständig auf die Verbindung gewartet, die es aber auch nicht wirklich gibt. Die eine versteckt sich in Paris, der andere hatte vorher dort gelebt. Das war mir definitiv zu wenig.

Und der Schluss konnte die ganze Geschichte für mich auch nicht retten. Beide Fälle können geklärt werden, verlaufen aber dennoch irgendwie im Nirgendwo. Die Motivationen bleiben hier zu unklar. Das konnte mich wirklich nicht begeistern.

Meine Erwartungen waren sehr hoch, denn "Drei" habe ich sehr gerne gelesen. Leider wurden sie hier so gar nicht erfüllt.

Bewertung vom 28.02.2022
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


ausgezeichnet

Said Al-Wahid bekommt einen Anruf seines Bruders, der ihn informiert, dass seine Mutter im Sterben liegt. Sofort nach einer Podiumsdiskussion macht er sich auf in seine Geburtsstadt Bagdad.

Auf diesem Weg zurück schweifen seine Gedanken rückwärts zu seiner Flucht durch Länder und Jahre, bis zu seiner Ankunft in Deutschland. Endlich angekommen lernt er die Sprache, holt die Matura nach, beginnt ein Studium und wird immer wieder zurückgeworfen, weil er um seinen Aufenthaltstitel fürchten muss.

Er erinnert auch seine zwei Besuche in Bagdad die teils verstörende Eindrücke hinterlassen haben. Dieses von Diktatur, Krieg und Bürgerkrieg gebeutelte Land kann er schnell nicht mehr Heimat nennen und seiner Familie dort wird er immer fremder.

Der Autor geht mit diesem Buch der Frage nach, wie sehr wir unseren Erinnerungen trauen können. Malen wir manches schöner? Haben wir manches wirklich erlebt, oder wurde es uns nur erzählt? Machen wir Träume wirklich, oder verwandeln wir die Wirklichkeit in einen Traum, weil sie sonst nicht zu ertragen ist?

In diesem kleinen Roman steckt eine tiefe Wahrheit, die sehr poetisch erzählt wird und ich denke, es steckt auch einiges Persönliche des Autors darin. Es wirkt wie ein vorsichtiger Blick in die Seele eines Menschen, der in wenigen Jahren mehr erlebt hat, als manch anderer in einem ganzen Leben.

Dieser kleine Roman ist äußerst dicht und hat mich sehr berührt. Diese Fluchtgeschichte hat wieder traurige Aktualität bekommen. Ich hoffe, wir begegnen den Menschen, die demnächst zu uns kommen werden freundlicher, als es Said erlebt musste!

Bewertung vom 27.02.2022
Rabinowich, Julya

Dazwischen: Wir


ausgezeichnet

Endlich hat Madina mit dem Rest ihrer Familie eine eigene Wohnung im Haus ihrer besten Freundin Laura. Und endlich hat sie ein neues Zuhause, wo sie sich wohl und sicher fühlen kann.

Sie blüht auf, wird mutiger und auch ihre Tante beginnt ihre Verletzungen und Traumata zu überwinden.

Doch der Friede währt nicht lange, denn am Hauptplatz finden sich immer mehr Menschen zu den Donnerstagsdemos ein, die gegen Ausländer skandieren. Immer wieder finden sich schmähende Schriftzüge auf Statuen und Hauswänden. Madina fühlt sich verletzt und möchte mit ihren Freunden etwas dagegen tun. Das Ganze eskaliert an einem schönen Frühlingsabend, den sie eigentlich auf dem Jahrmarkt verbringen wollten. Ein wütender Mob findet sich vor ihrem Hauseingang und zwingt die Bewohnerinnen sich ihren Ängsten zu stellen.

Julya Rabinowich zeigt hier mit dem Finger auf den aufkommenden Rassismus in den letzten Jahren und lässt uns ein Gefühl dafür bekommen, wie es sich für die Betroffenen anfühlt, die sich eigentlich sehr gut integriert fühlen und doch immer wieder schmerzlich darauf hingewiesen werden, dass sie niemals dazugehören werden.

Bei der Lektüre leiden wir mit Madina, denn wir freuen uns, dass sie gut in der Schule ist, die Sprache perfekt beherrscht und auch endlich Jeans tragen kann. Sie ist ein Teenager wie alle anderen im Ort und doch sticht sie immer wieder heraus und muss sich mit Problemen befassen, die ihrem Alter nicht entsprechen. Immer wieder flammen Erinnerungen auf an den Krieg, Bilder, die niemand im Kopf haben sollte und Ängste die viel tiefer liegen, als wir es uns vorstellen können.

Die Autorin geht sehr einfühlsam mit ihren Figuren um, lässt uns auch mal einen Blick in ihr Innerstes werfen und hilft uns, mehr Verständnis für Zugezogenen aufzubauen.

Die Entwicklung der Protagonist*innen ist ebenfalls sehr gelungne. Madina hat sich eingelebt, wird freier und auch mal frecher, Laura bekommt ebenfalls ein Gespür dafür, wie sich Ausgrenzung anfühlt, Tante Amina's Wunden heilen und sie wird wieder zu der Kämpferin, die sie vorher war und auch Madina's Mutter beginnt ihre Trauer zu überwinden und sich auf das neue Leben einzulassen.

Mir hat auch diese Fortsetzung sehr gut gefallen und es fehlt dem Roman nicht an Tiefe, auch wenn es ein Jugendbuch ist. Einzig die Scheußlichkeiten, die alle erleben mussten, werden nicht explizit angesprochen, aber das muss nicht sein. Das brauche ich auch als Erwachsene nicht.

Ich empfehle Madina's Geschichte allen, die sich mit der Thematik Flucht, Integration oder Rassismus auseinandersetzen wollen und allen, die vielleicht davon betroffen sind und sich von dieser Geschichte abgeholt fühlen können.

Und ich freue mich auf eine weitere Fortsetzung, die angeblich schon im Kopf der Autorin herumspukt!

Bewertung vom 23.02.2022
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Zu Wilhelm Tell fällt jedem sofort der berühmte Apfelschuss ein. Und das wars dann wahrscheinlich auch schon. Zumindest ging es mir so, als ich das Buch in Händen hielt.
Kalman B. Schmitt gibt Tell hier eine Stimme und erzählt uns das Leben eines gezeichneten Mannes, der versuchte, es mit der Welt aufzunehmen.
Tell scheint ein brutaler und kaltherziger Mann zu sein, der von seiner Familie viel verlangt, aber auch selber ordentlich schuftet, denn die Zeiten sind hart für eine Bergbauernfamilie.
Die Habsburger regieren mit harter Hand, ziehen schändend und plündernd durch die abgelegensten Regionen, denn ihr Landvogt hat seine Handlanger nicht unter Kontrolle. Er ist ein Feigling, der seinem Posten nicht das Wasser reichen kann.
Tell legt sich mit vielen an und so mündet das Drama im berühmten Apfelschuss, den sein Sohn ja zu Glück unbeschadet übersteht.
So weit, war mir das Buch fast zu brutal. Es sind harte Zeiten im Mittelalter und das Leben spielt den einfachen Leuten übel mit.
Doch dann bekommt Tell eine Vorgeschichte, wird menschlicher, verständlicher und die Geschichte bekommt nochmal eine Dimension mehr. Die Charaktere sind eben nicht nur gut oder böse und manche sind einfach nur dumm.
Zum Schluss darf auch noch Tschudi auftreten, der im 16. Jahrhundert dazu beigetragen hatte, dass Wilhelm Tell unsterblich wurde.
Mir hat diese Version der Tellsaga ausgesprochen gut gefallen, obwohl es stellenweise hart an der Grenze des Erträglichen war. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Aber das war das ganze Mittelalter nicht.
Die Wende in der Mitte, die vieles klärt und hier natürlich nicht verraten wird, gibt für mich den Ausschlag für die 5 Sterne Bewertung. Erst da wird aus der Legende eine Mensch mit Herz und Hand. Erst da wird Tell wirklich lebendig.

Bewertung vom 13.02.2022
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


sehr gut

Krimmwing ist ein fiktives Dorf und steht doch stellvertretend für viele österreichische Ortschaften, in denen die Traditionen hochgehalten werden, die Kinder in die Fußstapfen der Eltern treten sollten und am besten alles so bleiben soll, wie es immer war.

Doch die Ruhe in Krimmwing ist gestört. Denn die Rosa hat sich mit dem Jackson eingelassen, der farbig ist, und sie erwartet ein Kind. Die Eltern erklären unmissverständlich, dass der Jackson hier nicht willkommen ist. So bleibt Rosa mit ihrem Seppi allein zurück und kann diesen Verlust nie überwinden.

Der Seppi hat es von Anfang an nicht leicht. Für seine Mutter steht er für alles, was sie verloren hat und im Dorf brandmarkt ihn seine Hautfarbe. Wenig geliebt wächst er heran, bis ihm alles zu viel wird und er an einem Apfelbaum baumelt.

Gleichzeitig lesen wir vom Rathbauer, der sich zum 15. Geburtstag eine Vagina und Brüste wünscht, was von seinem Vater mit Schlägen quittiert wird. Er möchte am liebsten nach Italien abhauen und als Renza ein Leben in der Sonne führen.

Und dann ist da noch die Liesl, die mit drei Brüsten gesegnet ist, was viele verstört und gleichzeitig magisch anzieht. Ihre Absonderlichkeit verleitet das Dorf zu den wildesten Spekulationen.

Wie lesen davon, was die Leute alles wissen über diese Außenseiter. Der Kreativität der Gerüchte scheinen keine Grenzen gesetzt. Leider driftet das Ganze auch etwas ins Skurrile ab und ist äußerst verworren geschrieben. Als Leser*in muss man dabei konzentriert bleiben, um die Zusammenhänge herauszufiltern.

Stilistisch ist das Buch anspruchsvoll verfasst und es fesselt auch ab der ersten Seite. Leider verfliegen die Seiten all zu schnell. "Die dritte Hälfte eines Lebens" ist eher eine Novelle als ein Roman. Mit ihren großzügig gesetzten 127 Seiten sollte die Geschichte absolut auf dem Punkt sein. Das gelingt der Autorin leider nicht ganz. Es wäre schön gewesen, wenn manches etwas großzügiger ausgeführt gewesen wäre. Ein paar Seiten mehr hätten dem Buch nicht geschadet. Daher ziehe ich bei meiner Bewertung einen Stern ab und empfehle es bedingt, denn der Preis ist schon etwas ordentlich für diese kurze Lesevergnügen.

Bewertung vom 06.02.2022
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


sehr gut

Mit "Zum Paradies" hat die Autorin ein episches Werk mit fast 1000 Seiten vorgelegt. Es wirkt fast ein bisschen einschüchternd, aber wenn man zu lesen beginnt, erscheint es gar nicht mehr so mächtig.

Das Zentrum des Buch bildet das Haus am Washington Square, das durch die Jahrhunderte mehr oder weniger das selbe bleibt. 1894 liegt es in einem florierenden Freistaat und sein Besitzer ist ein berühmter Bankier und Mitbegründer des liberalen Landes. Er zieht seine Enkelkinder groß und möchte sie gut verheiratet sehen. Gleichgeschlechtliche Ehen sind normal und werden üblicherweise arrangiert. Doch David, das Sorgenkind möchte außerhalb seines Standes sein Glück finden.

Hundert Jahre später finden wir uns in einem New York, wie wir es kennen und das Haus wird bewohnt von einen ungleichen Paar - ein älterer Advokat und sein Partner ein junger, mittelloser Hawaiianer. Die homosexuelle Szene ist eingeschüchtert von der Krankheit. HIV dominiert die Sorgen und Nöte und viele Freunde der beiden sind erkrankt oder bereits gestorben.

Und weitere hundert Jahre später befinden wir und in einer dystopischen Welt, die durch Pandemien und die Klimakrise in eine Diktatur geführt wurde. Das Haus am Washington Square ist nun ein Mehrparteienhaus. Lebensmittel und Wasser sind rationiert, Information gibt es nur mehr vom Staat und Freiheit ist ein Fremdwort, an das sich nur noch die ältere Generation erinnert.

Damit wir dieser Entwicklung folgen können, erzählt uns die Autorin die Geschichte dazwischen in einem Briefroman. In wechselnden Kapiteln lesen wir vom Aufbau dieses Terrorregimes, in das die Gesellschaft durch den Schutz vor Krankheiten "gerutscht" ist. Zu spät haben die führende Köpfe erkannt, wohin ihre Maßnahmen führen.

Dieser dritte Teil ist sicher der stärkste Teil des Buches. Wir finden Vieles wieder, das uns ängstigt, wenn wir an die Zukunft denken. Und dieser Teil ist auch der spannendste! Spätestens ab hier, kann man das Buch kaum mehr aus der Hand legen.

Jetzt stellt sich mir die Frage, warum man diese ganzen Vorgeschichte braucht, um diesen dystopischen Roman zu lesen. Die Verbindungen zwischen den Teilen sind recht lose. Man kann keine Verwandtschaftsbeziehungen entdecken, obwohl sich die Namen ständig wiederholen. In allen Teilen heißen die Protagonisten gleich. Es finden sich immer Davids und Charles' und Nathaniels die Bingham oder Griffith heißen. Das stiftet Verwirrung und stößt immer wieder die Frage an, warum?

Ist es ein Hinweis auf Charakterzüge? Auf Wiedergeburt? Auf den ewigen Kreislauf? Ich kann es ehrlich nicht beantworten. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Spleen der Autorin. Mangelnde Kreativität kann es definitiv nicht sein, denn der Roman beweist das Gegenteil. So eine Geschichte muss man sich erst einmal ausdenken können. Alle drei Zeiten strotzen vor Ideen und manchmal sind die Beschreibungen der Umgebung, des Alltags etwas ausufernd.

Das ist auch meine einzige Kritik an diesem Werk, das mich mehrere Tage lang ausgezeichnet unterhalten und zu Diskussionen mit anderen Leser*innen angeregt hat. Es wirkt nach. Deshalb empfehle ich es allen, die sich an ein seitenstarkes Buch heranwagen!

Bewertung vom 02.02.2022
Franz, Cornelia

Swing High


ausgezeichnet

Sommer 1939: Henri muss seinen Englandaufenthalt vorzeitig abbrechen, weil der Krieg jederzeit ausbrechen kann und es dann für Deutsche da ungemütlich wird. Henri liebt alles an England: die Sprache hat es ihm angetan, aber vor allem die Musik, die einfach nur Lebensfreude verspricht und bei der man so richtig abhotten kann.

Er und seine Freunde lassen sich das nämlich nicht nehmen. Sie treffen sich im Freibad, in den Parks oder am Fluss. Immer hat jemand ein Grammophon dabei und Platten werden abgespielt. Auch als die Stimmung immer düsterer wird, sie von Passanten beschimpft und von den Jungs der Hj verfolgt werden, geben sie nicht auf und tanzen gegen die düstere Stimmung.

Die Lage spitzt sich zu und für die Freunde wird es immer schwieriger, Orte zu finden, an denen sie sich noch treffen können. Aus Beschimpfungen werden Prügeleien und aus Prügeleien werden Festnahmen. Obwohl es immer ernster wird, wagen die Freunde, was wir heute Flashmob nennen, um darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle Deutschen dem System angehören.

Die Swingkids oder "Swingheinis", wie sie hier im Buch genannt werden, waren ein Gruppe Jugendlicher, die sich dem Regime nicht unterwerfen wollten und dadurch zu Widerständlern wurden. Auch wenn ihre Motivation nicht primär politisch war, waren sie den Nazis doch ein Dorn im Auge. Verkörperten sie doch alles, was diesen verhasst war.

Die Autorin hat diese Tatsache gut dargestellt. Die Bewegung entspringt dem einfachen Bedürfnis nach Spaß und Unterhaltung und wird mit Kriegsbeginn zunehmend politischer. Je größer der Druck auf die Jugendlichen wird, umso größer wird ihr Wagemut und langsam entsteht daraus eine tatsächliche Botschaft, die sie am Ende auch weitergeben wollen.

Stilistisch ist das Buch recht einfach gehalten, sodass es auch lesefaule Jugendliche ansprechen kann. Die Figuren sind so gestaltet, dass sich alle Leser*innen jemanden zum identifizieren finden können. Die Bewegung beginnt so harmlos, dass man sich selbst leicht im Widerstand sehen kann. Und wer wünscht sich das nicht.

Das Buch ist nicht rein linear erzählt. Auf schwarzen Seiten finden wir zwischendurch immer wieder einen Dialog aus dem SS-Untersuchungsgefängnis, denn Henri wurde schlussendlich verhaftet. Dort lernt er einen sehr politisch engagierten Jugendlichen kennen, der bei den Kommunisten aktiv war.

Diese Gespräche geben der ganze Geschichte eine vertiefende Dimension und verdeutlichen nochmals die Ernsthaftigkeit der Jugendlichen, die sich ihre Lebensfreude einfach nicht nehmen lassen wollten.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, obwohl ich nicht zur Zielgruppe gehöre. Diese Swingkids konnten mich schon immer begeistern und hätte ich damals bereits leben müssen, wäre ich gerne eine von ihnen gewesen.

Ich hoffe, diese Buch wird von ganz vielen jungen Leuten gelesen, die darin den Mut zur Zivilcourage finden, die wir auch heute so dringend brauchen!

Bewertung vom 23.01.2022
Grimm, Sandra

Mein großes Lichter-Wimmelbuch: Auf dem Bauernhof


ausgezeichnet

Willkommen auf dem Bauernhof! In liebevoller Illustrationen begegnen die Kleinsten den Bauernhoftieren. Die Tiere haben freundliche Gesichter und schöne große Kulleraugen. Sie sind echte Hingucker.
Jede Seite hat einen kleinen Vierzeiler zum Vorlesen, der fast immer mit einem Tierlaut eingeläutet wird. Das zaubert immer ein Lächeln in die Kindergesichter.
Außerdem können dann Tiere und Dinge gesucht und gezählt werden und auf Knopfdruck kann man überprüfen, ob man alle gefunden hat. Da leuchten dann kleine Lichter auf.
Es ist ein Buch für Bilderbuchbeginner*innen in stabilem Pappkarton. Das hält auch einiges aus, wenn die Eltern mal nicht Zeit haben, das Buch mit dem Kind gemeinsam zu betrachten. Die bunten Bilder begeistern auch ohne Text.
Ich habe das Buch mit meiner Nichte angeschaut und ihr die Texte vorgelesen. Sie ist jetzt ein Jahr alt und konnte sich schon dafür begeistern. Das Buch lässt auch Spielraum für eigene Worte und Tierlaute.
Das wird bestimmt nicht ihr einziges Buch aus dieser Reihe bleiben.