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Herbstrose

Bewertungen

Insgesamt 224 Bewertungen
Bewertung vom 03.04.2022
Krup, Agnes

Leo und Dora (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein Sommer der Veränderung …
Man schreibt das Jahr 1948. Vor zehn Jahren musste der einst erfolgreiche jüdische Schriftsteller Leo Perlstein seine Heimat Wien verlassen. Er lebt nun im Exil in Tel Aviv, wo er als Versicherungsangestellter ein bescheidenes Einkommen hat. Seit seiner Flucht hat er eine Schreibhemmung und folglich nichts mehr geschrieben. Um diesen Zustand zu beenden sollte er den Sommer im Haus seiner Ex-Freundin und Agentin Alma in Sharon, Connecticut, verbringen. Als er dort ankommt erfährt er, dass Almas Haus in der vergangenen Nacht abgebrannt sei und er im Roxy, einer zweitklassigen Pension, unterkommen würde. Leo ist frustriert und ärgerlich, das Haus ist zu alt und zu voll, sein Zimmer ist zu klein, die Gäste sind zu laut und das Essen wenig schmackhaft. Auch Dora, die resolute Wirtin, ist Leo zunächst unsympathisch und als er gar von dem jungen Hausburschen Anton erfährt dass es im Hause spukt, würde er am liebsten wieder abreisen. Doch nach und nach gewöhnt er sich ein - und das abendliche gemeinsame Tarock-Spiel mit Dora öffnet ganz allmählich auch sein Herz …
„Leo und Dora“ ist der dritte Roman aus der Feder von Agnes Krup, die nach ihrem Studium in Hamburg und Tübingen als Lektorin und Literaturagentin tätig war. Geboren ist sie in Hamburg und lebt heute abwechselnd in Berlin und in einem alten Gästehaus in der Nähe von Sharon, Connecticut.
Ein Kompliment an die Autorin der es gelungen ist, aus einer eigentlich banalen Geschichte ein kleines Kunstwerk zu zaubern. Mit feinem Gespür für Zwischentöne und sanftem Humor schafft sie es, die Eigenarten der Protagonisten hervorzuheben und ihren Lebensgeschichten Tiefe zu verleihen. Ohne Kitsch und Sentimentalität zeigt sie, dass auch eine Liebe zwischen reiferen, vom Schicksal gebeutelten Menschen noch möglich ist und wunderschön sein kann. Ihr Schreibstil ist klar und schnörkellos, dennoch sehr lebhaft im Ausdruck. Man spürt förmlich die Leichtigkeit des Sommers, fühlt den lauen Abendwind und hört das leise Plätschern am Ufer des Sees. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Schilderungen von jüdischen Schicksalen, vom Tod geliebter Menschen und vom Verlust der Heimat, über die ohne ins Melodramatische abzugleiten berichtet wird. Ein unvergesslicher Sommer für Leo und Dora und ein noch lange nachhallendes Leseerlebnis für mich.
Fazit: Ein ruhiger, leiser Roman der ganz langsam Fahrt aufnimmt – ein Wohlfühlbuch, ein Buch für die Seele, das ich besonders der reiferen Leserschaft ans Herz legen möchte.

Bewertung vom 02.04.2022
Romagnolo, Raffaella

Das Flirren der Dinge


sehr gut

Visionen im Sucher der Kamera …
Die bewegende Geschichte des einäugigen Waisenjungen Antonio Casagrande, der von dem Fotografen Alessandro Pavia ausgebildet wird. Als er bei seinem ersten eigenen Porträt durch die Linse blickt, geschieht es zum ersten Mal – er hat Visionen, die Dinge beginnen zu flirren, er sieht in die Zukunft, er sieht den Tod …
Die Autorin Raffaella Romagnolo wurde 1971 in Casale Monferrato/Piemont geboren. Sie ist Lehrerin für Geschichte und Italienisch und schreibt seit 2007 auch Romane, für die sie bereits für den Premio Strega nominiert war. Heute lebt die sie in Rocca Grimalda im Piemont.
Nicht nur das Leben des Antonio Casagrande und das seiner Freunde und seiner Familie ist Thema dieses Buches, die Autorin gewährt dem Leser auch einen tiefen Einblick in das Leben und die Geschichte Italiens zur zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kunst des Fotografierens ist erst am Anfang, die Schwierigkeiten und die Gefühle, die unser Protagonist dabei hat, werden eindringlich und detailliert beschrieben. Beeindruckend ist die Sprachintensität der Geschichte, jedoch wegen der Zeitsprünge und Perspektivwechsel nicht ganz einfach zu lesen. Es ist ein hohes Maß an Konzentration erforderlich, um dem Geschehen dieses ansonsten ausgezeichneten historischen Romans zu folgen. Deshalb von mir nur 4 von 5 *

Bewertung vom 30.03.2022
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Bestie Wolf oder Bestie Mensch?
Inti Flynn ist Biologin und Leiterin eines Projekts, bei dem Wölfe in den schottischen Highlands wieder angesiedelt werden, um die zerstörte Natur dort zu retten. Gleichzeitig hofft sie in der Abgeschiedenheit der Wälder Ruhe zu finden, denn sie hat die seltene Krankheit, die Schmerzen anderer Lebewesen selbst körperlich zu spüren. Ihre Arbeit trifft zunächst auf harten Widerstand der Bevölkerung, die den Bestand ihrer Weidetiere bedroht sieht. Als dann eine Leiche mit eindeutigen Verletzungen aufgefunden wird, beginnt eine Hetzjagd auf die Wölfe. Selbst Inti bekommt Zweifel, war ein Wolf oder ein Mensch die Bestie? …
Die Autorin dieses Romans, die 1988 geborene Charlotte McConaghy, hat irisch-schottische Wurzeln, wuchs jedoch in Australien auf. Nach „Zugvögel“, mit dem sie internationalen Durchbruch erreichte, ist „Wo die Wölfe sind“ ihr zweiter Roman, der die Natur und Tierwelt und die Auswirkungen aufs Klima zum Thema hat. Die Autorin lebt heute in Sydney.
Gleich mehrere Themen finden sich in diesem Roman. Der Schwerpunkt liegt hier zweifellos auf Umweltschutz, Renaturierung zerstörter Wälder und Wiederansiedelung bedrohter Tierarten. Sehr einfühlsam versucht die Autorin das brisante Problem Wolf von beiden Seiten anzugehen. Der Daseinsberechtigung von Wölfen stehen die Interessen der Landwirte und die Ängste der Bevölkerung um Kinder, Haus- und Nutztiere gegenüber, was uns beim Lesen sehr nachdenklich stimmt. Ein weiteres interessantes Thema ist die sehr seltene Krankheit Mirror-Touch-Synästhesie, bei der die Betroffenen Schmerzen anderer Lebewesen selbst körperlich empfinden. Man erfährt, dass Inti und ihre Zwillingsschwester Aggie sich zeitlebens gegenseitig Halt und Stütze waren und erlebt mit ihnen ihre Kinder- und Jugendzeit, die sie überwiegend bei ihrem Vater in den Wäldern Kanadas verbracht haben.
Ferner beinhaltet die Geschichte auch einige kriminalistische Aspekte. Eine aufregende und spannende Suche nach einer Leiche und eindeutige Verletzungen, die auf Wolfsangriffe hindeuten, lassen uns den Atem stocken. Wird es die Wolfspopulation trotz heftiger Widerstände schaffen, die Natur zurück zu erobern? Der Schreibstil der Autorin ist lebendig und bildgewaltig, eine einfühlsame Liebesgeschichte rundet das Geschehen zufriedenstellend ab. Trotz einiger heftiger Szenen, die zart besaitete Gemüter wohl schockieren werden, kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen und vergebe gerne 5 Sterne.

Bewertung vom 23.03.2022
Givney, Rachel

Das verschlossene Zimmer


sehr gut

Der Mensch sieht nur, was er auch sehen will
Krakau im Frühjahr 1939: Obwohl der nahende Einmarsch der Deutschen in Polen bereits zu spüren ist, geht das Leben seinen gewohnten Gang. Die 17jährige Marie Karski, die bei ihrem Vater Dominik aufgewachsen ist, will endlich mehr über ihre Mutter erfahren, die vor 15 Jahren spurlos verschwunden ist. Ihr Vater, ein angesehener Arzt, liebt seine Tochter und opfert sich für sie auf, über ihre Mutter jedoch verweigert er jede Auskunft, selbst ihren Namen verschweigt er. Stattdessen drängt er Marie auf eine baldige Heirat, da er sie in diesen unruhigen Zeiten versorgt sehen will. Doch Marie in ihrer Naivität hat andere Pläne. Sie möchte Ärztin werden und als Ehemann kommt für sie nur einer infrage, ihr Jugendfreund Ben Rosen. Ben jedoch ist Jude und Marie Katholikin. Bald bekommt sie in ihrem Umfeld die Frauenfeindlichkeit bei der Berufswahl zu spüren – und auch der Hass auf Juden nimmt stetig zu …
Rachel Givney ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin und hat schon an vielen beliebten australischen TV-Serien mitgewirkt, u. a. bei McLeods Töchter. Nach längeren Aufenthalten in den USA, Großbritannien und Deutschland lebt die gebürtige Australierin heute wieder in Sydney. Für Recherchen für „Das verschlossene Zimmer“ reiste sie mehrfach nach Polen.
Bereits der Anfang der Geschichte, als Marie ins Zimmer ihres Vaters einbricht und dabei eine seltsame Entdeckung macht, ist sehr spannend. Bald wird auch das Verhältnis der beiden zueinander klar – der Vater, der seiner Tochter sämtliche Arbeiten und Entscheidungen abnimmt und Marie, die zunächst heimlich gegen ihre Unselbständigkeit aufbegehrt. Das sollte sich bald ändern, als die junge Frau ihre eigenen, manchmal unverständlichen, Entscheidungen trifft. Durch Erinnerungen der Protagonisten erhalten wir Einblicke in deren Vergangenheit und können so ihre Verhaltensweisen besser verstehen. Sehr emotionale Szenen wechseln sich ab mit alltäglichen Begebenheiten und einige leichtsinnige, unüberlegte Handlungen lassen dem Leser den Atem stocken. Der Schreibstil ist flüssig und fesselnd, nicht übermäßig anspruchsvoll, aber dennoch ansprechend. Der Schluss ist wirklich überraschend, alles ist jetzt schlüssig und klar ist auch, warum sich Dominik nur so und nicht anders verhalten kann. Gerne hätte ich noch erfahren, ob und wie die Beteiligten die Kriegsjahre überstanden haben. Ist da vielleicht eine Fortsetzung geplant?
Fazit: Eine sehr emotionale und spannende Familiengeschichte, ein Buch, das ich trotz einiger Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten gerne weiter empfehle.

Bewertung vom 17.03.2022
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


weniger gut

Seinen Gedanken kann man nicht entfliehen …

„Wir haben übrigens denselben Vater.“ Dieser flüchtig dahin gesprochene Satz, den eine Unbekannte einer Autorin im Anschluss einer Lesung aus ihrem neuen Roman sagt, stellt ihr Leben und ihre Gedankenwelt auf den Kopf. Plötzlich zweifelt sie an ihrem bisherigen Dasein, stellt das Familiengefüge infrage und reflektiert über Gegenwart und Vergangenheit. Als sie bald darauf mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter für einige Zeit in den USA lebt versucht sie ihr Verhältnis zu ihrem Vater zu analysieren, die Beziehung zu ihrem Mann zu klären und ihre Rolle als Mutter zu überdenken. Ihre Gedankengänge werden dabei immer wirrer …

Die Autorin Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und lebt heute als Übersetzerin und freie Schriftstellerin mit ihrem Mann und zwei Kindern in Potsdam. Für ihre Werke erhielt sie bereits zahlreiche Auszeichnungen und stand einige Male auf Platz 1 der SWR-Bestenliste.

„Das Vorkommnis“ ist, wie die Autorin selbst sagt, ein autofiktionaler Roman mit dem Untertitel „Biographie einer Frau“. Das Vorkommnis ereignet sich gleich am Anfang und weckte in mir große Hoffnungen auf eine spannende, oder zumindest interessante Geschichte. Doch leider wurde ich enttäuscht. In vielen kurzen Kapiteln macht sich die Protagonisten ihre Gedanken und stellt ihr bisheriges Leben auf den Prüfstand. Ziemlich wirr springt sie dabei hin und her, von der Gegenwart in die Vergangenheit und fügt dazwischen auch einige Blicke in die Zukunft ein. Sie grübelt nach über ihre Familie, ihre Ehe und ihre Mutterschaft, doch niemand wird dabei namentlich genannt. Selbst ihre Kinder erwähnt sie nur als „das ältere Kind“ und „das jüngere Kind“. Die Probleme, die sie immer und immer wieder anspricht, sind in meinen Augen banal und ihre Gedanken dazu belanglos, so dass ich mich in die Denkweise der Autorin bzw. Protagonistin nicht einfühlen konnte. Als störend und den Lesefluss hemmend empfand ich auch die vielen in Klammern eingefügten Erklärungen und Nebensätze. Aus den genannten Gründen interessieren mich auch die beiden geplanten Fortsetzungen nicht.

Fazit: Ein Buch, das ich mit großen Erwartungen begonnen hatte, zu dem ich aber letztendlich keinen Bezug fand.

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Bewertung vom 03.03.2022
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


ausgezeichnet

Der ganz besondere Champagner …
Man schreibt das Jahr 1962. Das Wirtschaftswunder ist auch an Henny Köpfer nicht vorüber gegangen. Es war ihr gelungen, die Weinhandlung ihres Vaters in der Schusterstraße in Freiburg, die beim Bombenangriff 1944 auf Freiburg total zerstört wurde und bei dem ihr Vater sein Leben lassen musste, wieder aufzubauen und ein gut florierendes Geschäft daraus zu machen. Henny war zwar im Krieg mit dem Leben davon gekommen, hatte aber viel Leid erfahren müssen. Sie erinnert sich an ihre erste Liebe, den Franzosen Yves Vossinger, mit dem sie nach Kriegsausbruch keinen Kontakt mehr haben konnte und an ihre frühe Ehe mit Heiner aus Eichingen am Kaiserstuhl, der 1941 im Balkan-Feldzug gefallen war. Sie war damals schwanger mit einem Jungen, den sie daraufhin auch verlor. Als dann 1944 alles zerstört war entdeckte sie mitten im Chaos einen kleinen Jungen, der wie sie alleine war. Mit Kaspar, so nannte sie ihn, flüchtete sie nach Eichingen zu ihrer Schwiegermutter Kätter, die in dem Buben ihr Enkelkind vermutete. Damals am Kaiserstuhl verliebte sich Henny auch den Elsässer Paul Duringer, der nun, 1962, auf der Suche nach einer bestimmten Flasche Champagner, einen 1937er Vossinger, ist. Sie stammt aus dem Raubgut der Deutschen, überlebte den Krieg im Führerbunker in Berchtesgaden und soll nun aus Anlass des deutsch/französischen Freundschaftsvertrags zwischen De Gaulle und Adenauer überreicht werden – und diese Flasche lagert jetzt in Hennys Weinkeller …
Brigitte Glaser, die Autorin von „Kaiserstuhl“, wurde 1955 in Offenburg geboren. Nach dem Abitur studierte sie Sozialpädagogik in Freiburg und übersiedelte danach nach Köln. Um die Jahrtausendwende begann sie ihre schriftstellerische Arbeit zunächst mir Kurz-Krimis. Ihren Durchbruch schaffte sie 2016 mit dem Roman „Bühlerhöhe“, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Heute lebt sie immer noch in Köln und ist dort in der Erwachsenenbildung tätig.
Neben dem angenehmen Schreibstil und dem spannenden Handlungsverlauf fallen hier besonders die exakte geschichtliche Recherche und die genaue Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten auf. Der Autorin ist es gelungen, die Lebensbedingungen sowohl während der Kriegsjahre, als auch zur Zeit des Wirtschaftswunders, in der Breisgau-Region wieder aufleben zu lassen. Es war die große Zeit des Kinos, der Kleinkunstbühnen und der Jazzkeller. Die Schicksale der Protagonisten, ihre Lebenssituationen und Verhaltensweisen, ihre Liebe und ihre Gewissensqualen, fühlen sich absolut authentisch an und sind bestens in die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse eingebunden. Das Geschehen um den Champagner und die Frage, warum es gerade diese eine bestimmte Flasche des Jahrgangs 1937 aus der Kellerei Vossinger sein muss, verleiht der Geschichte die nötige Spannung - die Auflösung zum Schluss ist durchaus nachvollziehbar. Ein Stammbaum der Familien Köpfer und Duringer, die die Hauptpersonen in diesem Roman sind, ist am Ende des Buches zu finden und rundet das Ganze gut ab.
Fazit: Ein Roman der gekonnt Zeitgeschichte mit menschlichen Schicksalen verbindet, der sehr gut recherchiert und einfühlsam geschrieben ist und den ich gerne weiter empfehle.

Bewertung vom 09.02.2022
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


gut

Das Paradies kann auch die Hölle sein
Ein altes Haus im viktorianischen Stil in New York am Washington Square und seine Bewohner in den Jahren 1893, 1993 und 2093 – drei Geschichten, die jeweils 100 Jahre auseinander angesiedelt sind.
Zuerst geht es um David Bingham, ein homosexueller junger Mann, der seinen Weg noch nicht gefunden hat. Er wohnt bei seinem reichen Großvater, der alles für ihn regelt und bestimmt, und den er einmal beerben soll. Doch dann verliebt er sich in einen armen Musiklehrer von zweifelhafter Herkunft und erhofft mit ihm eine glückliche Zukunft. - Im zweiten Teil geht es wieder um einen homosexuellen jungen Mann namens David, ein Nachfahre der Binghams mütterlicherseits, der in einer Partnerschaft mit einem älteren Mann lebt, der auch alles für ihn regelt. Dass dieser David hawaiianische Wurzeln hat erfährt man durch einen sehr langen Brief des Vaters, indem er seine Lebensgeschichte und die seiner Vorfahren erzählt. - Die dritte Geschichte, die in der Zukunft handelt, erzählt von einem homosexuellen Mann und einer durch Krankheit körperlich und geistig zurückgebliebenen jungen Frau, Charlie Bingham, deren Ehe zweckmäßigerweise arrangiert wurde. Es herrscht eine bedrückende Atmosphäre, in der alles vom Staat geregelt und überwacht wird. Dann lernt die junge Frau einen ebenfalls jungen Mann namens David kennen, der sie zur Flucht überreden will.
Die US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin Hanya Yanagihara wurde 1974 in Los Angeles geboren und wuchs auf Hawaii auf. Ihr Vater ist gebürtiger Hawaiianer japanischer Abstammung, ihre Mutter gebürtige Südkoreanerin. „Zum Paradies“ ist der dritte Roman der Autorin, die in New York lebt und arbeitet.
Mit großen Erwartungen begann ich mit dem Lesen dieses Buches, wurde aber letztendlich sehr enttäuscht. Den ersten Teil, der 1893 in einem anderen New York spielt als wir es heute kennen, fand ich noch einigermaßen interessant: ein freier Staat, in dem nahezu alles erlaubt ist, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe eine Selbstverständlichkeit ist und in dem die Menschen diese Freiheit auch ausleben. Bereits zu Anfang des zweiten Teils, bei dem die Krankheit AIDS eine große Rolle spielt, war ich leicht verwirrt. Die Namen der Männer aus dem ersten Teil tauchen hier, 100 Jahre später, unter ähnlichen Voraussetzungen wieder auf. Völlig den Faden verlor ich aber, als einer der Protagonisten einen gefühlt 300 Buchseiten langen Brief seines Vaters, der König von Hawaii gewesen war, erhielt. Aus Langeweile habe ich den Rest nur noch überflogen. Dies änderte sich wieder mit dem dritten Teil, einer Dystrophie, in der eine diktatorisch verwaltete Gesellschaft von Pandemien heimgesucht wird. Hier ist auch die erste und einzige weibliche Protagonistin des Buches zu finden. Wenig einfallsreiches Science-Fiction-Szenario, anhaltende Katastrophenstimmung infolge des Klimawandels und einige der derzeit bekannten Verschwörungstheorien samt Quarantänemaßnahmen hemmten jedoch meine Freude am Lesen.
Zusammenfassend habe ich den Eindruck, die Autorin wollte jedes der derzeit gängigen Themen in ihrem Buch unterbringen.
Fazit: Die Idee, über einen Ort und seine Bewohner im Laufe dreier Jahrhunderte zu erzählen, fand ich grundsätzlich gut – da es sich jedoch sehr in die Länge zog und dabei wenig passierte, konnte mich die Umsetzung leider nicht überzeugen.

Bewertung vom 08.02.2022
Hannah, Kristin

Die Nachtigall


ausgezeichnet

Vom Kampf gegen die Unmenschlichkeit

Oregon 1995: Aus Anlass des bevorstehenden Umzugs in ein Seniorenheim entdeckt eine alte Dame einen Koffer, dessen Inhalt sie an längst vergangene Ereignisse erinnert. Es war in Frankreich im Sommer 1939, kurz vor Ausbruch des Krieges. Die 18jährige Isabelle Rossignol wohnt noch in Paris bei ihrem Vater, während ihre ältere Schwester Vianne bereits verheiratet ist, eine 8jährige Tochter hat und im ländlichen Carriveau im Loiretal lebt. Die beiden Schwestern sind in ihrem Wesen grundverschieden - Isabelle begann nach dem frühen Tod der Mutter zu rebellieren und musste deshalb öfters das Internat wechseln, Vianne jedoch passte sich der Situation an, verliebte sich früh, heiratete bereits mit 17 Jahren und ist immer noch sehr glücklich. Doch dann marschieren die Nazis in Frankreich ein, Hitlers Truppen besetzen Paris, Viannes Mann Antoine wird eingezogen und Isabelle wird zu ihrer Schwester aufs Land geschickt. Kaum haben die beiden Schwestern ihr neues gemeinsames Zusammenleben arrangiert, als auch Carriveau von den Deutschen besetzt wird und bei ihnen ein Wehrmachtsoffizier einquartiert wird. Jetzt wird die Situation besonders für Vianne und ihre kleine Tochter sehr gefährlich, denn Isabelle kann ihre Meinung über den Feind nicht für sich behalten. Die Lage spitzt sich zu, die Wege der Schwestern trennen sich und jede kämpft von nun an auf ihre Weise ums Überleben …

Kristin Hannah, die Autorin des Buches „Die Nachtigall“, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der USA. Sie wurde 1960 im südkalifornischen Garden Grove geboren. Sie studierte Jura und arbeitete, bevor sie 1991 zu schreiben begann, als Rechtsanwältin in Seattle. Seither schrieb sie zahlreiche Romane, die alle auch auf Deutsch erschienen sind. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf einer kleinen Insel im Pazifischen Nordwesten der USA.

Selten hat mich eine Geschichte so erschüttert und betroffen gemacht, zumal sie, wie zu lesen ist, nach den wahren Schicksalen französischer Frauen erzählt wurde. Es sind die Männer, deren Heldentaten in die Geschichtsbücher eingehen, die Kämpfe der Frauen bleiben im Verborgenen. Hier wird über die Frauen im Zweiten Weltkrieg berichtet, über ihren Mut, ihre Stärke, ihren Kampfgeist, ihre Opferbereitschaft und ihren Willen zum Überleben.

Der Schreibstil ist dabei von beeindruckender Intensität. Der Autorin gelingt es, eine bildhafte, aufwühlende Atmosphäre von Angst, Brutalität und Erbarmungslosigkeit zu schaffen, die jedoch immer wieder mit Lichtblicken von Hoffnung und Zuversicht unterbrochen wird. Die Figuren der Geschichte scheinen lebendig, ihre Sorgen um die Familie, der Hunger und ihr verzweifelter Kampf um Lebensmittel und Brennmaterial empfindet man sehr real und nachvollziehbar. Die Gräuel des Krieges werden nicht verschwiegen und durch kleine Rückblenden und Erinnerungen wird der Kontrast zu Friedenszeiten besonders deutlich.

Fazit: Ein Roman der betroffen und nachdenklich macht und die Frage aufwirft, wie man selbst in solchen Situationen handeln würde. Ein Lese-Highlight, das ich gerne weiter empfehle.

Bewertung vom 17.01.2022
Crane, Stephen

Die tristen Tage von Coney Island


ausgezeichnet

Männer und ihre Probleme …
Stephen Crane, der amerikanische Autor der dreizehn Kurzgeschichten, die der Pendragon Verlag 2021 unter dem Titel „Die tristen Tage von Coney Island“ herausgebracht hat, wurde 1871 in Newark, New Jersey, geboren. Seine schriftstellerische Laufbahn begann er als Journalist in New York, lebte einige Zeit in Sussex, England, wo er die dortigen Literaturgrößen kennen lernte, war Kriegsberichterstatter im Türkisch-Griechischen Krieg 1897 und ein Jahr später im Spanisch-Amerikanischen Krieg. Auf einer Reise nach Kuba, wo er über die dortige Rebellion berichten sollte, erlitt er Anfang 1897 Schiffbruch. Er trieb mehrere Tage im offenen Boot, wodurch sich seine Tuberkulose deutlich verschlechterte. Heilung erhoffte er sich in Badenweiler in Deutschland, wo er jedoch im Juni 1900 im Alter von nur 28 Jahren verstarb.
Seine vielfältigen Erlebnisse in Extremsituationen sind es, die der Autor hier in seinen Kurzgeschichten verarbeitet. Schiffbruch, Feuersbrunst, Schneesturm oder Kriegshandlungen sind für ihn der Anlass für seine höchst dramatischen Stories, in denen Frauen, wenn überhaupt, nur eine unbedeutende Nebenrolle spielen. Der Schreibstil erinnert sehr an Reportagen eines Abenteurers im ausgehenden 19. Jahrhundert, was der Autor auch zweifellos war. Er schuf in seinem kurzen Leben eine erstaunliche Anzahl an Romanen, Gedichtbänden, Essays und Berichten und wird in den USA gerne mit Edgar Allen Poe verglichen. Mich konnten seine Geschichten leider nicht begeistern, auch wenn sie teilweise sehr poetisch und voller Dramatik geschrieben sind.
Fazit: Wer diesen Schriftsteller näher kennen lernen möchte und ein Fan von Kurzgeschichten ist, für den ist es das ideale Buch.

Bewertung vom 28.12.2021
Hector, Wolf

Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1


ausgezeichnet

Der Schwur des Jan Otlin
Bei einem schweren Unwetter im Februar 1342, bei dem das Hochwasser der Moldau die alte Judithbrücke in Prag zum Einsturz brachte und die Mutter von Jan Otlin in die Fluten riss, schwor der 12jährige Knabe zu Gott, er werde ihm eine steinerne Brücke für die Ewigkeit bauen, wenn seine Mutter am Leben bliebe. Jetzt, 15 Jahre später, hat Jan, der inzwischen in Avignon zum Steinmetz und Baumeister wurde, die Möglichkeit seinen Schwur einzulösen. Kaiser Karl IV. hat ihn mit dem Bau der neuen Brücke, die bis heute als „Karlsbrücke“ bekannt ist, beauftragt. Doch Jan Otlin hat Konkurrenten die ihm dieses Amt neiden – und besonders Rudolph von Straßburg wird zu seinem erbitterten Widersacher …
Wolf Hector ist eines von mehreren Pseudonymen (Ruben Laurin – Tom Jacuba – Jo Zybell) des mehrfach preisgekrönten Autors von Krimis, Fantasy- und historischen Romanen, Thomas Ziebula. Zuletzt wurde er mit dem goldenen HOMER für den besten historischen Roman des Jahres 2019 ausgezeichnet. Seit 1997 ist er freier Autor und lebt abwechselnd in der Nähe von Karlsruhe und in der Gegend von Wismar.
In einem packenden, bildgewaltigen Schreibstil entführt uns der Autor nach Prag ins 14. Jahrhundert und lässt uns am Bau der berühmten Karlsbrücke teilhaben. Wir erhalten Einblick in das alltägliche Leben der Bewohner und erfahren interessante Details zum Brückenbau in der damaligen Zeit. Eine einfühlsame Liebesgeschichte, eingebettet zwischen Mord und Totschlag, erhöht die Spannung und macht das Lesen zum Erlebnis. Neben den fiktiven Protagonisten sind auch einige historische Personen in die Handlung mit einbezogen, wie man zu Beginn in einem Personenverzeichnis nachlesen kann. Eine Zeittafel mit interessanten historischen Daten sowie ein Glossar über die wichtigsten damals verwendeten Begriffe und ihre Bedeutung sind ebenfalls im Buch zu finden und runden das Geschehen gekonnt ab.
Fazit: Ein historisch korrekt recherchierter Roman, der durch seine bildhafte Erzählweise besticht und ganz nebenbei auch einiges Wissen vermittelt. Sehr empfehlenswert!